Aktuell Israel und besetzte palästinensische Gebiete 05. Februar 2024

Anstieg rechtswidriger Tötungen von Palästinenser*innen im besetzten Westjordanland

Das Bild zeigt einen Krankenwagen, dahinter ein Soldat

Ein israelischer Soldat stoppt einen Krankenwagen am Eingang des Tulkarem-Flüchtlingscamps im Westjordanland am 17. Januar 2024.

Während die Augen der Welt auf den Gazastreifen gerichtet sind, haben die israelischen Streitkräfte in den vergangenen vier Monaten eine brutale Welle der Gewalt gegen Palästinenser*innen im besetzten Westjordanland gestartet. Sie haben rechtswidrige Tötungen begangen, unter anderem durch den unverhältnismäßigen Einsatz tödlicher Gewalt bei Protesten und Festnahmen. Außerdem haben sie Verletzten die medizinische Versorgung verweigert. 

Amnesty International untersuchte vier emblematische Fälle, in denen israelische Streitkräfte rechtswidrig tödliche Gewalt anwandten – drei Vorfälle im Oktober und einer im November 2023. Dabei wurden 20 Palästinenser*innen rechtswidrig getötet, darunter sieben Kinder. Rechercheexpert*innen von Amnesty führten Telefon- und Video-Interviews mit zwölf Personen, zehn davon waren Augenzeug*innen, darunter Ersthelfer*innen und Anwohner*innen. Das Crisis Evidence Lab von Amnesty verifizierte 19 Videos und vier Fotos bei der Untersuchung dieser vier Vorfälle.

Die Recherchen von Amnesty International ergaben auch, dass die israelischen Streitkräfte die medizinische Versorgung von Menschen mit lebensbedrohlichen Wunden behinderten und diejenigen angriffen, die versuchten, verletzten Palästinenser*innen zu helfen, darunter auch Sanitäter*innen.

In den vergangenen Monaten hat Israel sein tödliches Vorgehen im gesamten Westjordanland verstärkt, und die Spannungen sind extrem angestiegen. Bei einem der jüngsten Vorfälle führten israelische Streitkräfte einen Angriff durch, bei dem sie sich als medizinisches Personal ausgaben. Im Jahr 2023 wurden im Westjordanland mindestens 507 Palästinenser*innen getötet, darunter mindestens 81 Kinder. Damit war es das tödlichste Jahr für Palästinenser*innen, seit das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) im Jahr 2005 mit der Erfassung von Opfern begann.

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"Während die Augen der Weltöffentlichkeit auf die Bombardierungen und grausamen Verbrechen im Gazastreifen gerichtet sind, begehen die israelischen Streitkräfte rechtswidrige tödliche Gewalttaten gegen Palästinenser*innen im besetzten Westjordanland und zeigen dabei eine erschreckende Missachtung palästinensischen Lebens. Diese ungesetzlichen Tötungen verstoßen in eklatanter Weise gegen die internationalen Menschenrechtsnormen und die Verantwortlichen gehen straflos aus. Dies steht im Kontext des institutionalisierten Vorgehens Israels, um die systematische Unterdrückung und Herrschaft über die Palästinenser*innen aufrechtzuerhalten", sagte Erika Guevara-Rosas, Direktorin für globale Recherche, Advocacy und politische Strategie bei Amnesty International.

"Diese Fälle liefern schockierende Beweise für die tödlichen Folgen der rechtswidrigen Gewaltanwendung Israels gegen Palästinenser*innen im Westjordanland. Den israelischen Behörden, einschließlich des israelischen Justizsystems, mangelt es an politischem Willen, den palästinensischen Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In diesem Klima der fast völligen Straflosigkeit muss ein effizientes internationales Justizsystem eingreifen. Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs muss diese Tötungen und Verletzungen als mögliche Kriegsverbrechen der willkürlichen vorsätzlichen Tötung und der vorsätzlichen Verursachung großer Leiden untersuchen. Die Situation in Palästina und Israel ist ein Lackmustest für die Legitimität und den Ruf des Gerichtshofs. Er kann es sich nicht leisten, dabei zu versagen."

Seit dem 7. Oktober haben die israelischen Sicherheitskräfte im gesamten Westjordanland bei ihren Einsätzen unablässig rechtswidrige Gewalt angewendet und ganze Gemeinden in Angst und Schrecken versetzt. Die israelischen Behörden setzen auch rechtswidrige Gewalt ein, wenn sie Demonstrationen auflösen, auf denen Solidarität mit den Menschen in Gaza gezeigt und die Freilassung palästinensischer Gefangener gefordert wird.

Zwischen dem 7. Oktober und dem 31. Dezember 2023 wurden 299 Palästinenser*innen getötet, was einem Anstieg von 50 % gegenüber den ersten neun Monaten des Jahres entspricht. Nach Angaben von OCHA (Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten) wurden im Jahr 2024 bis zum 29. Januar mindestens 61 weitere Palästinenser*innen, darunter 13 Kinder, getötet.

Amnesty International hat am 26. November 2023 Anfragen zu den vier untersuchten Fällen an die Pressestelle des israelischen Militärs und an den Kommandanten des Bezirks Jerusalem gerichtet. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung lag noch keine Antwort vor. Amnesty International untersucht weiterhin andere Fälle von übermäßiger Gewaltanwendung bei Einsätzen der Sicherheitskräfte, wie die wiederholten Razzien und Angriffe in Jenin und Tulkarem im nördlichen besetzten Westjordanland.

Es ist gut dokumentiert, wie Israel mit exzessiver und oft tödlicher Gewalt vorgeht, um abweichende Meinungen zu unterdrücken und sein Apartheidsystem gegen Palästinenser*innen durchzusetzen, was zu einem historischen Muster ungesetzlicher Tötungen führt, die ungestraft bleiben. 

"Drei Kugeln wurden ohne jede Gnade abgefeuert": Die Militäroperation in Nour Shams im Oktober

Seit dem 7. Oktober haben die israelischen Streitkräfte ihre Militäroperationen verstärkt und führen fast täglich im gesamten besetzten Westjordanland sogenannte Durchsuchungs- und Festnahmeaktionen durch. Mehr als 54 % der 4.382 verletzten Palästinenser*innen im Westjordanland wurden nach Angaben von OCHA bei solchen Operationen verletzt.

In einem von Amnesty International untersuchten Fall wendeten israelische Militär- und Grenzpolizeikräfte bei einer 30-stündigen Operation im Flüchtlingslager Nour Shams in Tulkarem, die am 19. Oktober begann, übermäßige Gewalt an.

Während der Militäraktion töteten die israelischen Streitkräfte 13 Palästinenser*innen, darunter sechs Kinder, vier von ihnen unter 16 Jahren, und nahmen 15 Personen fest. Israelische Militärquellen, die in Medienberichten zitiert wurden, sagten, dass ein israelischer Grenzpolizist getötet und neun verletzt wurden, nachdem ein improvisierter Sprengsatz von Palästinenser*innen auf sie geworfen worden war.

Anwohner*innen berichteten Amnesty International, dass israelische Soldat*innen während der Operation mehr als 40 Wohnhäuser stürmten, persönliches Eigentum zerstörten und Löcher in die Wände bohrten, um Scharfschütz*innen zu postieren. Die Wasser- und Stromversorgung des Lagers wurde unterbrochen, und die Soldat*innen setzten Bulldozer ein, um öffentliche Straßen, das Stromnetz und die Wasserinfrastruktur zu zerstören.

Zu den bei der Militäraktion Getöteten gehörte der 15-jährige Taha Mahamid, den die israelischen Streitkräfte vor seinem Haus erschossen, als er herauskam, um zu überprüfen, ob diese das Gebiet verlassen hatten. Laut Zeug*innenaussagen und von Amnesty International ausgewerteten Videos war Taha unbewaffnet und stellte zum Zeitpunkt der Erschießung keine Gefahr für die Soldat*innen dar. Ein von einer seiner Schwestern gefilmtes und vom Crisis Evidence Lab von Amnesty überprüftes Video zeigt, wie Taha auf die Straße geht, sich umschaut, ob dort Soldat*innen sind, und dann auf der Straße vor seinem Haus zusammenbricht, nachdem drei Schüsse gefallen sind. 

Fatima, Tahas Schwester, sagte Vertreter*innen von Amnesty International: "Sie haben ihm keine Chance gegeben. Innerhalb eines Augenblicks war mein Bruder tot. Drei Kugeln wurden ohne jedes Erbarmen abgefeuert. Die erste Kugel traf ihn ins Bein. Die zweite - in den Bauch. Die dritte ins Auge. Es gab vorher keine Auseinandersetzungen, es gab keinen Konflikt."

Ein*e Augenzeuge*in berichtete Amnesty International, dass, als Tahas Vater, Ibrahim Mahamid, dann versuchte, seinen verletzten Sohn in Sicherheit zu bringen, die israelischen Streitkräfte ihm in den Rücken schossen. Ein verifiziertes Video, das eine von Tahas Schwestern unmittelbar nach dem Schuss gefilmt hat, zeigt, wie Tahas Vater neben Taha auf dem Boden liegt, bevor er weghumpelt. Fatima Mahamid fügte hinzu:  "Er [ihr Vater Ibrahim] hob seine Hände und zeigte ihnen [den Soldaten], dass er nichts in ihnen hatte. Er wollte nur seinen Sohn mitnehmen. Sie schossen auf ihn, und mein Vater fiel neben Taha."

Ibrahim Mahamid erlitt schwere Verletzungen der inneren Organe und musste auf die Intensivstation gebracht werden.

Weder Taha noch Ibrahim Mahamid stellten eine Gefahr für die Sicherheitskräfte oder andere Personen dar, als auf sie geschossen wurde. Diese unnötige Anwendung tödlicher Gewalt sollte als mögliches Kriegsverbrechen der vorsätzlichen Tötung und der vorsätzlichen Verursachung großer Leiden oder schwerer Verletzungen des Körpers oder der Gesundheit untersucht werden.

Etwa 12 Stunden nach der Ermordung von Taha Mahamid stürmte das israelische Militär das Haus seiner Familie und sperrte die Familienmitglieder, darunter drei kleine Kinder, unter Aufsicht eines Soldaten für etwa 10 Stunden in einen Raum. Außerdem bohrten sie Löcher in die Wände von zwei Zimmern, um Scharfschütz*innen zu postieren, die das Viertel überblicken sollten. Ein*e Zeuge*in berichtete, dass die Soldat*innen das Haus durchsuchten, ein Familienmitglied schlugen und einer von ihnen auf die Türschwelle urinierte.

In von Amnesty International überprüften Videos sind israelische Bulldozer zu sehen, die die engen Straßen des Flüchtlingslagers Nour Shams zerstören. Ein vom Palästinensischen Roten Halbmond (PRCS) veröffentlichtes und vom Crisis Evidence Lab von Amnesty verifiziertes Video zeigt außerdem, wie eine Straße im Flüchtlingslager Nour Shams stark beschädigt wurde, was die medizinische Evakuierung von Verletzten während der Militäroperation behindert hat. 

Unverhältnismäßige Gewalt gegen Proteste von Palästinenser*innen 

Seit dem 7. Oktober fanden im gesamten besetzten Westjordanland immer wieder Kundgebungen in Solidarität mit den Palästinenser*innen in Gaza statt. Diese Demonstrationen verliefen größtenteils friedlich, doch wurden einige Teilnehmer*innen dabei beobachtet, wie sie als Reaktion auf die Anwesenheit oder das gewaltsame Vorgehen der israelischen Streitkräfte Steine warfen.

Die Anwendung tödlicher Gewalt durch die israelischen Streitkräfte als Reaktion auf Steine werfende Jugendliche verstößt gegen das Recht auf Leben nach den internationalen Menschenrechtsnormen und die internationalen Standards für die Anwendung von Gewalt durch die Sicherheitskräfte. Tödliche Gewalt darf bei der Arbeit der Sicherheitskräfte nur dann eingesetzt werden, wenn eine unmittelbare Bedrohung für das Leben besteht; ihr Einsatz ist keine verhältnismäßige Reaktion auf Steinwürfe. 

In einem Fall am 13. Oktober 2023 in Tulkarem schilderten zwei Augenzeug*innen Amnesty International, wie israelische Streitkräfte, die auf einem Wachturm des Militärs an einem der Haupteingänge der Stadt stationiert waren, und solche, die sich auf dem Dach eines nahegelegenen Hauses befanden, das Feuer auf eine Menge von mindestens 80 unbewaffneten Palästinenser*innen eröffneten, die friedlich ihre Solidarität mit Gaza zeigten.

Zwei Journalist*innen, die unabhängig voneinander vor Ort waren, berichteten Amnesty International, dass sie sahen, wie die israelischen Streitkräfte zwei Tränengaskanister auf die Menge abfeuerten und kurz darauf ohne Warnschüsse das Feuer auf sie eröffneten. Die beiden Journalist*innen sahen, wie vier Menschen angeschossen und verletzt wurden, als sie versuchten, vor den Schüssen wegzulaufen. Einige Minuten später eröffneten die israelischen Streitkräfte ebenfalls das Feuer in Richtung der Journalist*innen, obwohl beide deutlich mit dem Wort "Presse" gekennzeichnete Westen trugen. Zusammen mit drei Kindern versteckten sie sich hinter einer Mauer und mussten dort etwa zwei Stunden lang ausharren, während die Operation fortgesetzt wurde.

Während dieser Zeit sahen sie, wie ein palästinensischer Mann, der auf einem Fahrrad an ihnen vorbeifuhr, von einem israelischen Soldaten angeschossen und verletzt wurde. Eine der Journalist*innen sah auch, wie einem anderen Demonstranten in den Kopf geschossen wurde. Sie beschrieb, wie der Mann ohne Vorwarnung angeschossen wurde und zu Boden fiel. Später erlag er seinen Verletzungen.

Bei einem anderen Vorfall am 27. November gingen die israelischen Streitkräfte mit übermäßiger Gewalt gegen eine Gruppe von Palästinenser*innen in Beitunia in der Nähe von Ramallah vor. Die Gruppe hatte sich versammelt, um Gefangene zu begrüßen, die im Rahmen des Abkommens zwischen Israel und der Hamas während der vorübergehenden humanitären Waffenruhe im Gazastreifen aus dem Ofer-Gefängnis freigelassen worden waren.

Zeug*innen schilderten Amnesty International, wie das israelische Militär mit scharfer Munition und Gummigeschossen auf die Menge feuerte und mit Hilfe von Drohnen Tränengaskanister abwarf. Außerdem berichteten Zeug*innen, dass die israelischen Streitkräfte einen Bulldozer einsetzten und Militärjeeps in die demonstrierenden Palästinenser*innen fuhren.

Ein*e Augenzeuge*in sah, wie Yassine Al-Asmar in die Brust geschossen wurde, als er gerade in der Menge stand, und beobachtete, wie Krankenwagen ihn aufgrund der anhaltenden Schüsse der israelischen Streitkräfte nicht erreichen konnten. Stattdessen gelang es seinen Freund*innen, ihn herauszuholen und in ein Krankenhaus in Ramallah zu bringen, wo er jedoch kurz darauf für tot erklärt wurde.

Videos, die vom Crisis Evidence Lab von Amnesty International verifiziert wurden, zeigen einige Teilnehmer*innen, die Steine und brennende Reifen werfen, sowie mindestens eine Person, die einen Molotowcocktail auf einen Bulldozer wirft. 

Nach dem Völkerrecht rechtfertigt das Werfen von Steinen oder brennenden Reifen nicht den Einsatz von Schusswaffen durch die Sicherheitskräfte. Das Völkerrecht verbietet die Anwendung tödlicher Gewalt gegen Personen, von denen keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben ausgeht. Dieser Schusswaffeneinsatz sollte als mögliches Kriegsverbrechen der vorsätzlichen Tötung und der vorsätzlichen Zufügung großen Leids oder schwerer Verletzungen untersucht werden.

Eine*r der Zeug*innen sagte: "Sie versuchen, unsere Feierlichkeiten für die freigelassenen Gefangenen zu stören und ihre Vorherrschaft durchzusetzen".

"Ich habe gesehen ...wie der Krankenwagen beschossen wurde": Behinderung der medizinischen Versorgung  

Die Behinderung medizinischer Versorgung durch die israelischen Streitkräfte bei Operationen in den besetzten palästinensischen Gebieten ist eine übliche Praxis, die Amnesty International seit Jahren dokumentiert und die Teil des israelischen Apartheidsystems ist. Die israelischen Streitkräfte sind völkerrechtlich dazu verpflichtet sicherzustellen, dass jede Person, die sie verletzen, Zugang zu medizinischer Behandlung erhält.   

Amnesty International hat fünf Fälle untersucht, bei denen die israelischen Streitkräfte es erschwerten oder verhinderten, dass Personen, die bei Demonstrationen und Razzien schwer verletzt wurden, entscheidende medizinische Versorgung erhielten. Die israelischen Streitkräfte schossen zudem auf Palästinenser*innen, die zu helfen versuchten, darunter Sanitäter*innen, die sich um die Verwundeten kümmerten. 

Am 10. Oktober 2023 erschoss eine Patrouille der israelischen Grenzpolizei in Ein Al-Lozeh, einem Stadtteil von Silwan im besetzten Ost-Jerusalem, rechtswidrig den unbewaffneten Ali Abbasi, als er versuchte, den kurz zuvor von derselben dort patrouillierenden Einheit angeschossenen Abd Al-Rahman Faraj in Sicherheit zu bringen.

In diesem Stadtteil war es zu Zusammenstößen zwischen Palästinenser*innen und der israelischen Grenzpolizei gekommen. Die Palästinenser*innen setzten Feuerwerkskörper ein, und die israelischen Streitkräfte verwendeten scharfe Munition. Das Crisis Evidence Lab von Amnesty hat drei Videos verifiziert, die aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen wurden und zeigen, wie Feuerwerkskörper die Rückseite und die Seiten eines Polizeifahrzeugs treffen. 

Bei diesen Zusammenstößen wurde Abd Al-Rahman Faraj angeschossen. Kurz darauf versuchte Ali Abbasi, Abd Al-Rahman Faraj in Sicherheit zu bringen. Ein*e Augenzeug*in, der*die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte, berichtete Amnesty International, er*sie habe gesehen, wie die israelischen Streitkräfte Ali Abbasi in den Kopf schossen, als dieser versuchte, Abd Al-Rahman Faraj wegzuziehen. 

Der*die Zeuge*in sagte, dass die israelischen Streitkräfte dann drohten, auf Menschen zu schießen, die versuchten, den beiden Männern zu helfen, und einen Krankenwagen daran hinderten, die Opfer zu erreichen, so dass sie über eine Stunde lang blutend am Boden lagen. Die beiden Opfer wurden später von einer israelischen Militärambulanz abgeholt. Die Leichname wurden den Familien noch nicht ausgehändigt.

Bei der Niederschlagung der Demonstration in Tulkarem am 13. Oktober berichteten Augenzeug*innen, dass die israelischen Streitkräfte auf einen palästinensischen Radfahrer schossen und dass der*die Sanitäter*in, der*die versuchte, das Opfer zu retten, ebenfalls von den israelischen Soldat*innen beschossen wurde, als er*sie sich dem Verletzten näherte. Eine der beiden Journalist*innen, die den Vorfall beobachteten, berichtete Amnesty International, dass sie sah, wie eine Kugel den Mann auf dem Fahrrad im Bein traf, bevor er zu Boden fiel:

"Er schrie. Dann versuchte eine*r der Sanitäter*innen, ihn wegzuziehen und sein Leben zu retten, aber der*die israelische Scharfschütze*in schoss weiter. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie israelische Scharfschütz*innen auf das medizinische Personal und den Krankenwagen schossen." 

Ein drittes Beispiel ist die Razzia in Nour Shams am 19. Oktober 2023. Drei Augenzeug*innen, darunter ein*e Sanitäter*in vor Ort, berichteten, dass zwei Krankenwagen am Eingang des Flüchtlingslagers angehalten und daran gehindert wurden, die Verletzten zu erreichen. Die Zeug*innen berichteten, dass die Anwohner*innen gezwungen waren, die Verwundeten in Privatautos in ein Krankenhaus zu fahren. 

Familienmitglieder, die am 19. Oktober Zeug*innen der Schüsse auf Ibrahim Mahamid wurden, als er versuchte seinen verletzten Sohn Taha in Sicherheit zu bringen, berichteten Amnesty International, dass über eine Stunde lang verhindert wurde, dass er medizinische Versorgung erhielt. Die Organisation sprach auch mit einem*r Sanitäter*in vor Ort, der*die bestätigte, dass er*sie über eine Stunde lang versucht habe, Ibrahim Mahamid zu erreichen, doch die israelischen Streitkräfte den Krankenwagen am Eingang des Lagers anhielten, und Ibrahim Mahamid während dieser Zeit blutend sich selbst überließen.  

Während der Razzia in Jenin am 9. November 2023 griff das israelische Militär medizinisches Personal an, das versuchte, eine Person mit einer Schusswunde im Flüchtlingslager von Jenin zu behandeln. Wie das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) berichtete, töteten die israelischen Streitkräfte bei dieser Operation, die zwölf Stunden dauerte und sowohl bewaffnete Zusammenstöße als auch Luftangriffe umfasste, 13 Palästinenser*innen. 

Einem*r Augenzeugen*in zufolge schossen die israelischen Streitkräfte Sabreen Obeidi, einer Sanitäterin des Palästinensischen Roten Halbmonds (PRCS), in den unteren Rücken, als sie sich in einem geparkten PRCS-Krankenwagen im Flüchtlingslager Jenin befand. 

Bei der gleichen Razzia am 9. November schossen die israelischen Streitkräfte auch auf zwei andere Krankenwagen des PRCS, die in das Flüchtlingslager Jenin fuhren, um Verletzte abzuholen. Videoaufnahmen einer in einem PRCS-Krankenwagen installierten Kamera, die Amnesty International zur Verfügung gestellt und vom Crisis Evidence Lab der Organisation überprüft wurden, zeigen, dass ein Geschoss etwa zwei Meter vor dem Krankenwagen auf der Straße einschlug. Von dem im Video gezeigten Vorfall wurde Amnesty International auch von einem Sanitäter im Krankenwagen berichtet, der angab, er habe gesehen, wie zwei andere Sanitäter*innen von einem*r Scharfschützen*in aus einem Gebäude auf der anderen Straßenseite beschossen wurden.  

Das Völkerrecht verlangt, dass Kranke und Verwundete sowie medizinisches Personal geschont und geschützt werden. Die Behinderung des Zugangs zu medizinischer Behandlung verstößt gegen das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Sicherheit der Person, das Recht auf Freiheit von Folter und grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und kann zur Verletzung des Rechts auf Leben führen. 

"Amnesty International dokumentiert seit langem rechtswidrige Tötungen durch israelische Streitkräfte und wie sie in das System der Apartheid passen, in dem sich die Palästinenser*innen befinden. Es ist an der Zeit, dass die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) diese Tötungen und das Völkerrechtsverbrechen der Apartheid im Rahmen ihrer Ermittlungen zur Lage in Palästina untersucht", so Erika Guevara-Rosas. 

Hintergrund zu den völkerrechtlichen Standards:

Im besetzten Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, ist Israel die Besatzungsmacht, und seine Handlungen sind an das Vierte Genfer Abkommen, das Besatzungsrecht sowie an seine Verpflichtungen aus den internationalen Menschenrechtsnormen gebunden.

Bei der polizeilichen Überwachung von Demonstrationen und anderen Strafverfolgungsmaßnahmen im Westjordanland, einschließlich so genannter Durchsuchungs- und Festnahmeaktionen, müssen die israelischen Streitkräfte die Menschenrechte achten, einschließlich des Rechts auf Leben und Sicherheit, des Rechts auf freie Meinungsäußerung und des Rechts, sich friedlich zu versammeln, sowie internationale Standards, in denen festgelegt ist, wie die Menschenrechte durch die Angehörigen der Strafverfolgungsbehörden einzuhalten sind, z. B. die UN-Grundprinzipien für die Anwendung von Gewalt und den Gebrauch von Schusswaffen durch Beamte mit Polizeibefugnissen. 

Diese Standards verbieten die Anwendung von Gewalt durch Angehörige der Strafverfolgungsbehörden, es sei denn, sie ist für die Erfüllung ihrer Aufgaben unbedingt erforderlich. Sie schreiben vor, dass Schusswaffen nur als letztes Mittel eingesetzt werden dürfen – wenn es für Militärangehörige oder Polizist*innen unbedingt erforderlich ist, um sich selbst oder andere vor unmittelbarer Lebensgefahr oder der unmittelbaren Gefahr schwerer Verletzungen zu schützen. Der vorsätzliche tödliche Schusswaffengebrauch ist nur dann zulässig, wenn er zum Schutz des Lebens absolut unvermeidbar ist. Die vorsätzliche Tötung völkerrechtlich geschützter Personen und das vorsätzliche Zufügen großen Leidens oder schwerer Verletzungen sind schwere Verstöße gegen das Vierte Genfer Abkommen und stellen Kriegsverbrechen dar.

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