Amnesty Report Vietnam 28. März 2023

Vietnam 2022

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Das harte Vorgehen der Behörden gegen abweichende Meinungen, sowohl im Internet als auch im öffentlichen Raum, ließ eine neue Repressionswelle gegen die Zivilgesellschaft befürchten. Unabhängige Journalist*innen, Aktivist*innen, Religionsausübende und andere, die die Regierung kritisierten, wurden festgenommen und auf der Grundlage repressiver Gesetze angeklagt. Menschenrechtsverteidiger*innen waren Schikanen, digitaler Überwachung, willkürlicher Festnahme und politisch motivierter Strafverfolgung ausgesetzt. Folter und andere Misshandlungen wurden nach wie vor in besorgniserregendem Ausmaß gemeldet.

Hintergrund

Die im Oktober 2022 durchgeführte sechste Sitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) zementierte den Einfluss von Generalsekretär Nguyễn Phú Trọng und ließ erkennen, dass der Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft weiterhin kontrolliert und eingeschränkt werden wird. Vietnam wurde in den UN-Menschenrechtsrat gewählt, obwohl dessen Mitglieder verpflichtet sind, die höchsten Menschenrechtsstandards einzuhalten. Die Regierung gab zwar mehrere Zusagen zur Einhaltung der Menschenrechte, doch nachdem das Land seine Kandidatur für den Menschenrechtsrat erklärt hatte, wurden mindestens 48 Journalist*innen, Aktivist*innen und leitende NGO-Angestellte festgenommen und inhaftiert bzw. verurteilt. Im Oktober 2022 aktualisierte Vietnam seinen nationalen Klimaschutzbeitrag (Nationally Determined Contribution – NDC) und steckte sich ambitioniertere Emissionsreduktionsziele. Zugleich wurden jedoch mehrere führende Klimabeobachter*innen und Klimaaktivist*innen festgenommen, was Zweifel am Engagement des Landes im Hinblick auf die Bewältigung der Klimakrise aufkommen ließ.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Der harte Kurs gegen abweichende Meinungen hielt auch im Jahr 2022 an, und das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde weiterhin eingeschränkt. Die Paragrafen 117 und 331 des Strafgesetzbuchs von 2015 wurden nach wie vor dazu genutzt, Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen, Religionsausübende und andere, die die Regierung oder die KPV kritisierten, willkürlich festzunehmen und strafrechtlich zu verfolgen. Im August 2022 weckte die Veröffentlichung des Dekrets Nr. 53 Befürchtungen, dass weitere Repressionen bevorstehen könnten. Das Dekret enthielt u. a. die Anordnung, dass Technologieunternehmen die Daten ihrer Nutzer*innen speichern und potenziell an die Ermittlungsbehörden weitergeben müssen. Zudem wurde mit dem Dekret eine Taskforce für Cybersicherheit eingerichtet, die dabei helfen soll, die Umsetzung dieser und der im Gesetz über Cybersicherheit von 2019 enthaltenen repressiven Maßnahmen zu gewährleisten.

Sechs Angehörige des buddhistischen Tempels Tịnh Thất Bồng Lai wurden gemäß Paragraf 331 des Strafgesetzbuchs festgenommen und wegen "Missbrauchs demokratischer Freiheiten" angeklagt, weil sie Videos ins Internet gestellt hatten, die als "Veröffentlichung von Falschinformationen" und "Verletzung der Würde" der örtlichen Polizei sowie eines Mönchs der von der Regierung kontrollierten buddhistischen Gemeinschaft (Vietnamesische Buddhistische Sangha) erachtet wurden. Am 21. Juli 2022 erhielten die sechs Personen Haftstrafen zwischen drei und fünf Jahren.

Das Ehepaar Nguyễn Thái Hưng und Vũ Thị Kim Hoàn wurde ebenfalls auf der Grundlage von Paragraf 331 des Strafgesetzbuchs festgenommen, nachdem es die Regierung in einem Livestream kritisiert hatte. Im November 2022 wurden Nguyễn Thái Hưng und Vũ Thị Kim Hoàn zu vier bzw. zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.

Im Juli 2022 wurde der Aktivist und unabhängige Journalist Nguyễn Lân Thắng wegen des in Paragraf 117 des Strafgesetzbuchs vage definierten Straftatbestands der "Herstellung, Speicherung oder Verbreitung" von Informationen "gegen die Sozialistische Republik Vietnam" festgenommen. Im September 2022 wurden die Aktivisten Bùi Tuấn Lâm, Đặng Đăng Phước und Phan Sơn Tùng wegen desselben Vorwurfs festgenommen. Bei einer Verurteilung drohten ihnen bis zu 20 Jahre Haft. Am Jahresende befanden sich alle vier noch in Untersuchungshaft.

Im August 2022 wurden drei Personen wegen Facebook-Posts mit Geldstrafen in Höhe von jeweils 7,5 Mio. Vietnamesischen Dong (etwa 295 Euro) belegt. In einem Fall handelte es sich um einen Kommentar zu polizeilichen Aktivitäten, und in den beiden anderen lautete der Vorwurf auf "Verbreitung gefälschter, unwahrer, verleumderischer Informationen, die den Ruf von Behörden und Organisationen und die Ehre und Würde von Personen verletzen". Die staatlichen Medien berichteten im Laufe des Jahres über insgesamt 35 Fälle, in denen Bußgelder wegen Facebook-Posts verhängt wurden.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Die Verhängung übermäßig langer Haftstrafen wurde als Taktik eingesetzt, um bekannte Menschenrechtler*innen zum Schweigen zu bringen. Ein Berufungsgericht bestätigte 2022 die neunjährige Haftstrafe gegen die Journalistin Phạm Đoan Trang sowie die Urteile gegen vier Landrechtsaktivist*innen, die zwischen sechs und zehn Jahre Haft und drei bis fünf Jahre Bewährung erhalten hatten. Die Aktivist*innen hatten sich öffentlich zu einem aufsehenerregenden Streit um Land im Dorf Dong Tam in der Nähe der Hauptstadt Hanoi geäußert. Dabei war es im Januar 2020 während einer Polizeirazzia zu Zusammenstößen gekommen, die zum Tod eines 84-jährigen Dorfsprechers und dreier Polizisten geführt hatten.

Zwei weitere Aktivisten der Menschenrechtsverteidiger Đỗ Nam Trung und der Journalist Lê Văn Dũng –, die nach Paragraf 117 des Strafgesetzbuchs verurteilt worden waren, weil sie in den Sozialen Medien Informationen über Menschenrechtsverstöße und Korruption geteilt hatten, verloren ihre Berufungsverfahren. Sie hatten ihre Strafen von zehn Jahren Haft, davon fünf auf Bewährung, bzw. fünf Jahren Haft auf Bewährung angefochten.

Im April 2022 wurde die bekannte Menschenrechtsverteidigerin Nguyễn Thuý Hạnh ein Jahr nach ihrer gemäß Paragraf 117 erfolgten Inhaftierung zur Zwangsbehandlung in eine psychiatrische Klinik verlegt. Sie wartete immer noch auf die Bekanntgabe eines Termins für ihren Prozess. Nguyễn Thuý Hạnh ist Gründerin des 50K-Fund zur Unterstützung von Familien unrechtmäßig inhaftierter Personen in Vietnam.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Die Festnahme von Personen, die leitende Funktionen in drei großen Umweltorganisationen hatten, zeigte, dass die Behörden das Recht auf Vereinigungsfreiheit aktiv untergruben. Zudem signalisierten neue Gesetze und Verordnungen die Absicht der Regierung, die Tätigkeit von NGOs weiter einzuschränken bzw. zu unterbinden.

Am 31. August 2022 erließen die Behörden das Dekret Nr. 58 zur Regulierung ausländischer NGOs. Außerdem wurden Verordnungen über die Gestaltung, den Betrieb und die Verwaltung inländischer NGOs ausgearbeitet. Beide Regelwerke würden es ermöglichen, NGOs mit vagen Begründungen aufzulösen, z. B. zwecks Schutz "nationaler Interessen" oder der "sozialen Ordnung". Zudem würden sie den Behörden nahezu unbegrenzte Befugnisse einräumen, um Kritiker*innen sowie Personen, die nicht genehmigte Aktivitäten durchführen, zum Schweigen zu bringen. Es befand sich noch ein weiteres Dekret in Arbeit, mit dem lokalen NGOs die "Untergrabung" des Staates untersagt werden soll.

Folter und andere Misshandlungen

Auch 2022 gab es zahlreiche Berichte über die Folterung und anderweitige Misshandlung von Inhaftierten.

Im September 2022 berichtete der Landrechtsaktivist Trịnh Bá Tư, der eine achtjährige Haftstrafe wegen "Propaganda gegen den Staat" verbüßte, dass er in Gewahrsam geschlagen und tagelang gefesselt in Einzelhaft festgehalten wurde. Forderungen von NGOs nach einer unabhängigen Untersuchung wurden ignoriert. Die Familie von Trịnh Bá Tư besuchte ihn im Gefängnis Nr. 6 und berichtete, dass er sich nach einem 22-tägigen Hungerstreik langsam erholte.

Die Journalistin Huỳnh Thục Vy berichtete, in der Haft geschlagen und gewürgt worden zu sein. Sie verbüßte eine Haftstrafe von zwei Jahren und neun Monaten, zu der sie nach Paragraf 276 des Strafgesetzbuchs wegen Verunstaltung einer Nationalflagge verurteilt worden war.

Recht auf Gesundheit

Am 9. August 2022, wenige Tage nach dem Tod des Journalisten Đỗ Công Đương, der Berichten zufolge vor seiner Verurteilung wegen "Störung der öffentlichen Ordnung" vollkommen gesund war, brachten Familienangehörige von 24 Inhaftierten in einem offenen Brief an die Behörden ihre Sorge über die Behandlung der Gefangenen zum Ausdruck. Trotz wiederholter Bitten seiner Familie war Đỗ Công Đương während seiner Haft der rechtzeitige Zugang zu medizinischer Versorgung verweigert worden. Die Todesursache blieb unbekannt.

Nguyễn Tường Thuỵ, ein 72-jähriger Journalist, der 2020 wegen "Propaganda gegen den Staat" zu elf Jahren Haft verurteilt worden war, erhielt im Gefängnis keine medizinische Behandlung, obwohl er sich Berichten zufolge in einem schlechten gesundheitlichen Zustand befand. Auch Lê Hữu Minh Tuấn, Mitglied der Vereinigung unabhängiger Journalist*innen und ebenfalls wegen "Propaganda gegen den Staat" in Haft, war Berichten zufolge bei schlechter Gesundheit. Seine Schwester, die ihn aufgrund der Coronabeschränkungen seit mehr als zwei Jahren nicht im Gefängnis hatte besuchen können, berichtete im Mai 2022, dass ihr Bruder an Gehörverlust leide und unterernährt sei. Dem Aktivisten Trần Văn Bang, der seit März 2022 auf der Grundlage von Paragraf 117 inhaftiert war, wurde die medizinische Versorgung verweigert, obwohl es Befürchtungen gab, dass sich bei ihm ein großer Tumor gebildet hatte.

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