Amnesty Report Tunesien 28. März 2023

Tunesien 2022

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Präsident Kaïs Saïed setzte 2022 seine Bemühungen fort, nach seiner Machtergreifung im Vorjahr die Staatsmacht in seinen Händen zu bündeln. Er erließ zudem Gesetzesdekrete, um wichtige institutionelle Schutzmaßnahmen für die Menschenrechte abzubauen, und ging insbesondere gegen die Unabhängigkeit der Justiz und das Recht auf freie Meinungsäußerung vor. Die Behörden setzten rechtswidrige Gewalt gegen Demonstrierende ein, verfolgten Kritiker*innen und vermeintliche Gegner*innen des Präsidenten strafrechtlich und nahmen sie willkürlich fest. Das Recht auf Vereinigungsfreiheit war bedroht. Mit einem Gesetzesdekret zur Änderung des Wahlgesetzes wurden gesetzliche Maßnahmen zur Förderung der Vertretung von Frauen im Parlament zunichte gemacht. Einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Erwachsenen standen weiterhin unter Strafe.

Hintergrund

Am 18. Februar 2022 verlängerte Präsident Saïed den Ausnahmezustand bis zum Ende des Jahres und am 30. Dezember erneut bis zum 30. Januar 2023. Mit Verabschiedung der neuen Verfassung am 17. August, die der Exekutive mehr Macht eingeräumt, gewann der Präsident neue Befugnisse hinzu.

Am 30. März 2022 löste der Präsident das bis dahin suspendierte Parlament auf, nachdem rund 120 der 217 Abgeordneten eine Online-Plenarsitzung abgehalten hatten, um ihm die Stirn zu bieten. Die Behörden verhängten willkürliche Reiseverbote gegen mindestens drei Personen, darunter Mitglieder des kurz zuvor aufgelösten Parlaments aus Parteien, die sich öffentlich gegen Präsident Saïed gestellt hatten.

Die Wirtschaftskrise verschärfte sich; die Arbeitslosigkeit lag bei 15,3 Prozent, und die Inflation stieg auf 10,1 Prozent. Es kam zu Engpässen bei der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, und die Behörden kündigten eine Kürzung der seit Langem bestehenden Subventionen für Energie und Lebensmittel an. Im Oktober 2022 erzielten die Behörden eine prinzipielle Übereinkunft mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über eine mögliche finanzielle Unterstützung in Höhe von 1,9 Mrd. US-Dollar. Das Exekutivdirektorium des IWF verschob die für den 19. Dezember anberaumte Sitzung zur Erörterung des Darlehens allerdings, ohne umgehend einen neuen Termin festzulegen.

Nach Einschätzung von Expert*innen war das Land aufgrund seiner begrenzten Wasserressourcen und der zu erwartenden Häufung von Dürren und hohen Temperaturen in besonderem Maße vom Klimawandel betroffen und von Ernährungsunsicherheit bedroht.

Recht auf ein faires Verfahren

Unabhängigkeit der Justiz

Präsident Saïed erließ zwei neue Gesetzesdekrete, die ihm in Verbindung mit neuen Verfassungsbestimmungen die Befugnis verliehen, in die berufliche Laufbahn von Richter*innen einzugreifen, Richter*innen fristlos zu entlassen und Ernennungen von Richter*innen zu genehmigen, wodurch die Unabhängigkeit der Justiz untergraben wurde.

Am 1. Juni 2022 entließ der Präsident 57 Richter*innen fristlos, denen er Fehlverhalten vorwarf, darunter die Behinderung von Ermittlungen, Korruption und Ehebruch. Das Verwaltungsgericht hob 49 der Entlassungen auf, das Justizministerium weigerte sich jedoch, die betreffenden Richter*innen wieder einzusetzen.

Auch 2022 wurde das Verfassungsgericht, das bereits 2015 seine Arbeit aufnehmen sollte, nicht eingerichtet. Die neue Verfassung enthielt zwar Bestimmungen zur Schaffung eines solchen Gerichts, räumte dem Präsidenten jedoch das letzte Wort bei der Ernennung der Mitglieder ein.

Die Militärgerichte verfolgten weiterhin Zivilpersonen strafrechtlich, allerdings seltener als noch im Jahr 2021. Gegen mindestens zwei Männer wurden wegen ihrer öffentlichen Äußerungen über die Polizei bzw. über Präsident Saïed und die Armee Verfahren vor Militärgerichten eröffnet.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Präsident Saïed untergrub das Recht auf freie Meinungsäußerung, indem er zwei Gesetzesdekrete erließ, die die arglistige Verbreitung von "Falschinformationen" und verleumderischen Äußerungen mit Haftstrafen ahndeten. Das am 21. März 2022 in Kraft getretene Gesetzesdekret 2022-14 sah Haftstrafen von zehn Jahren bis lebenslänglich für "in der Wirtschaft tätige Personen" vor, die vorsätzlich "erfundene oder falsche Informationen" über die Lieferung von Waren verbreiten. Das Gesetzesdekret 2022-54, ein neues Gesetz gegen Internetkriminalität, das am 13. September erlassen wurde, sah Haftstrafen von bis zu zehn Jahren für den vorsätzlichen Missbrauch von Telekommunikationsnetzwerken zur Erzeugung, zum Versand oder zur Verbreitung von "Falschinformationen" und anderen falschen oder verleumderischen Inhalten vor. Zudem ermöglichte es den Behörden, Einrichtungen aufzulösen, die gegen dieses Gesetz verstoßen. Das Gesetzesdekret bedrohte auch das Recht auf Privatsphäre, da es den Behörden weitreichende Befugnisse zur Überwachung der Internetnutzung, zum Abhören privater Kommunikation und zur Weitergabe persönlicher Daten an ausländische Regierungen einräumte.

Die Justizbehörden leiteten Ermittlungen oder strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen gegen mindestens 32 bekannte Kritiker*innen und vermeintliche Gegner*innen des Präsidenten ein, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen hatten. Unter ihnen befanden sich auch Mitglieder des aufgelösten Parlaments sowie Rechtsbeistände und Journalist*innen.

Anfang April 2022 leiteten die Justizbehörden Ermittlungen gegen mindestens 20 Abgeordnete ein, die an einer Online-Plenarsitzung teilgenommen hatten, um gegen die Entscheidung von Präsident Saïed zu protestieren, das Parlament aufzulösen. Mindestens zehn von ihnen wurden zum Verhör vorgeladen. Bis Ende des Jahres gab es keine Fortschritte bei den Ermittlungen.

Am 12. Mai 2022 leiteten die Justizbehörden eine strafrechtliche Untersuchung gegen Ghazi Chaouachi, den Vorsitzenden der Oppositionspartei Demokratische Strömung (Courant Démocratique), wegen Verleumdung eines Staatsbediensteten und Verbreitung falscher Informationen ein. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe standen im Zusammenhang mit einem Radiointerview, in dem er die Behörden kritisiert und gesagt hatte, dass Premierministerin Najla Bouden zurückgetreten sei, Präsident Saïed sich jedoch geweigert habe, ihren Rücktritt zu akzeptieren.

Im Mai 2021 verurteilte ein Militärgericht den Rechtsanwalt Abderrazak Kilani wegen Beleidigung eines Staatsbediensteten zu einer einmonatigen Haftstrafe auf Bewährung. Ein Militärstaatsanwalt hatte ihn im Januar 2022 angeklagt, nachdem es zu einer verbalen Auseinandersetzung mit Polizeikräften gekommen war, die ihm den Besuch bei einem Mandanten untersagt hatten. Zwar hob das militärische Berufungsgericht das Urteil später auf, ein Militärstaatsanwalt legte jedoch Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ein.

Am 11. Juni 2022 nahm die Polizei den Journalisten Salah Attia im Zusammenhang mit einem Fernsehinterview fest, in dem er gesagt hatte, die Armee habe ein Ersuchen von Präsident Saïed abgelehnt, das Büro der größten tunesischen Gewerkschaft zu schließen und führende Politiker*innen unter Hausarrest zu stellen. Am 16. August 2022 wurde Salah Attia  von einem Militärgericht wegen Verleumdung des Präsidenten und Beleidigung der Armee zu einer dreimonatigen Haftstrafe verurteilt. Da ihm seine Zeit in Haft vor der Verurteilung angerechnet wurde, kam er am 16. September nach Verbüßen seiner Strafe frei.

Die Staatsanwaltschaft leitete auf der Grundlage des Gesetzesdekrets 2022-54 Ermittlungen gegen mindestens fünf Personen ein. So wurde u. a. gegen Nizar Bahloul, Redakteur der Onlinezeitung Business News, ermittelt, weil er in einem Artikel Premierministerin Najla Bouden kritisiert hatte. Gegen den Rechtsanwalt Mehdi Zagrouba wurden wegen eines Facebook-Beitrags, in dem er Kritik an Justizministerin Leila Jeffal geübt hatte, Ermittlungen eingeleitet. Die Justizministerin leitete zudem ein Ermittlungsverfahren gegen den Politiker Ghazi Chaouachi aufgrund von Äußerungen gegenüber den Medien ein.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Im Februar 2022 wurde ein Entwurf für ein Vereinigungsgesetz bekannt, das den Behörden die Befugnis einräumen würde, die Gründung und die Aktivitäten von zivilgesellschaftlichen Gruppen sowie deren Finanzierung aus dem Ausland zu reglementieren. Zudem hätten die Behörden die Möglichkeit, solche Gruppen entweder wegen Inaktivität oder – unter Rückgriff auf unklar formulierte Bestimmungen – nach Belieben aufzulösen. Am 24. Februar 2022 erklärte Präsident Saïed, dass er beabsichtige, jegliche Finanzierung aus dem Ausland für zivilgesellschaftliche Gruppen zu verbieten. In einem schriftlichen Bericht und in mündlichen Äußerungen im November zur vierten Allgemeinen Regelmäßigen Überprüfung Tunesiens durch den UN-Menschenrechtsrat (UPR-Prozess) führten die Behörden Pläne zur Änderung des tunesischen Vereinigungsgesetzes an, ohne jedoch Einzelheiten zu nennen.

Versammlungsfreiheit und exzessive Gewaltanwendung

Im Laufe des Jahres 2022 fanden in der Hauptstadt Tunis Demonstrationen sowohl für als auch gegen Präsident Saïed statt. Die Behörden ließen die meisten davon zu, setzten jedoch bei mindestens drei Versammlungen von Gegner*innen des Präsidenten rechtswidrige Gewalt ein, um diese aufzulösen.

Am 14. Januar 2022 löste die Polizei in Tunis gewaltsam eine Demonstration auf. Die Demonstrierenden hatten sich versammelt, obwohl zwei Tage zuvor im Rahmen der Bekämpfung von Covid-19 ein zweiwöchiges Verbot öffentlicher Versammlungen verhängt worden war. Die Polizei setzte Schlagstöcke und Wasserwerfer ein und nahm mindestens 31 Personen fest. Ein Richter sprach 14 von ihnen frei, verhängte gegen 15 weitere jedoch eine Geldstrafe wegen Verstoßes gegen die Gesundheitsvorschriften.

Am 4. Juni 2022 setzte die Polizei Absperrgitter und chemische Reizstoffe ein, um eine Demonstration von Kritiker*innen des Präsidenten zu verhindern, die sich vor dem Büro der Wahlkommission versammeln wollten.

Am 22. Juli 2022 ging die Polizei gewaltsam gegen Gegner*innen des Präsidenten in Tunis vor, nachdem mehrere Demonstrierende versucht hatten, Absperrgitter zu entfernen. Die Polizei setzte chemische Reizstoffe ein, verprügelte einige Demonstrierende mit Schlagstöcken und nahm mindestens elf Personen fest. Vier der Festgenommenen berichteten Amnesty International, dass Polizeikräfte sie in Gewahrsam geschlagen hatten.

Straflosigkeit

Die Behörden zogen Angehörige der Sicherheitskräfte, denen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden, trotz glaubhafter Beweise in den meisten Fällen nicht zur Rechenschaft.

In keinem der zehn Gerichtsverfahren gegen Angehörige der Sicherheitskräfte wegen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen während der Revolution in Tunesien zwischen Dezember 2010 und Januar 2011 wurden Urteile oder andere Entscheidungen gefällt. Die Verfahren waren 2018 eröffnet worden, nachdem die Kommission für Wahrheit und Würde die Fälle an spezialisierte Gerichte verwiesen hatte.

Am 13. Januar 2022 begann ein Verfahren gegen 14 Polizisten, die beschuldigt wurden, den Tod von Omar Laabidi verursacht zu haben. Der junge Mann war laut Zeugenaussagen ertrunken, nachdem ihn Angehörige der Polizei trotz seines wiederholten Hinweises, er könne nicht schwimmen, in einen Kanal gestoßen hatten. Am 3. November verurteilte das Gericht zwölf der angeklagten Polizisten wegen Totschlags zu zwei Jahren Gefängnis und sprach zwei weitere frei.

Die Beschwerden der Familien von Noureddine Bhiri, einem ehemaligen Justizminister, und Fathi Beldi, einer Sicherheitskraft, wegen deren willkürlicher Inhaftierung ab dem 31. Dezember 2021 wurden nicht wirksam untersucht. Die Behörden hatten beide Männer 67 Tage lang ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand festgehalten, bevor sie ohne Anklage freigelassen wurden.

Rechte von Frauen und Mädchen

Mit dem am 15. September 2022 erlassenen Gesetzesdekret 2022-55 wurde das tunesische Wahlgesetz geändert, um Bestimmungen aufzuheben, die u. a. die Vertretung von Frauen im Parlament fördern sollten. Zuvor sah das Gesetz vor, dass die Kandidat*innenlisten für die Parlamentswahlen die gleiche Anzahl von Männern und Frauen enthalten sollten. Nach dem geänderten Gesetz wählen die Tunesier*innen ihre Abgeordneten nun einzeln. Eine Bestimmung zur Gewährleistung der Geschlechterparität unter den Kandidat*innen sah das neue Gesetz nicht vor.

Das tunesische Recht diskriminierte Frauen weiterhin in Erbschaftsangelegenheiten. Nach dem Personenstandsgesetz haben männliche Nachkommen das Recht, das Doppelte dessen zu erben, was ihre Schwestern erben, wenn das Vermögen sowohl auf männliche als auch auf weibliche Nachkommen übergeht.

Bereits 2017 hatte Tunesien ein wegweisendes Gesetz zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, das sogenannte Gesetz 58, verabschiedet. Auch 2022 gab es jedoch kaum Fortschritte bei der behördlichen Bereitstellung angemessener Ressourcen und Schulungen für Polizeikräfte, damit diese Anzeigen wirksam untersuchen und gefährdeten Frauen Schutz bieten können.

Tunesischen Frauenrechtsgruppen zufolge waren Frauen weiterhin häuslicher Gewalt und anderen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Zudem berichteten sie über einen Mangel an aktuellen offiziellen Statistiken über gemeldete Tötungen und andere Gewalttaten gegen Frauen.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Tunesien bestrafte nach wie vor einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen gleichgeschlechtlichen Erwachsenen gemäß Paragraf 230 des Strafgesetzbuchs mit drei Jahren Haft. Nach Angaben der Association Tunisienne pour la justice et l’égalité (Damj), einer tunesischen Gruppe, die sich für die Rechte von LGBTI+ einsetzt, wurden 2022 in mindestens 47 Fällen Personen aufgrund von Verstößen gegen Paragraf 230 vor Gericht gestellt.

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