Amnesty Report Tadschikistan 28. März 2023

Tadschikistan 2022

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Bei der gewaltsamen Niederschlagung von Demonstrationen und einem "Antiterroreinsatz" im Osten des Landes wurden zahlreiche Angehörige der ethnischen Gruppe der Pamiris von Sicherheitskräften getötet. Aktivist*innen, lokale Sprecher*innen, Journalist*innen und Blogger*innen wurden festgenommen und in unfairen Gerichtsverfahren verurteilt. Viele berichteten von Folterungen. Der Zugang zu Informationen, u. a. mittels der Medien und des Internets, blieb massiv eingeschränkt. Häusliche Gewalt war nach wie vor weit verbreitet, und nur selten wurde den Betroffenen Gerechtigkeit oder Unterstützung zuteil. Flüchtlinge aus Afghanistan wurden nach wie vor inhaftiert und abgeschoben.

Hintergrund

Das wirtschaftliche und politische Leben in Tadschikistan stand weiter unter der strikten Kontrolle des seit fast 30 Jahren regierenden Präsidenten und seiner Familie.

Bei Zusammenstößen an der Grenze zwischen Tadschikistan und Kirgisistan kamen im September 2022 mehr als 100 Menschen ums Leben, darunter zahlreiche Zivilpersonen. Wohnhäuser, Schulen und Märkte wurden zerstört.

Nach monatelanger gezielter Unterdrückung durch die Zentralregierung eskalierten im Mai 2022 in der östlich gelegenen autonomen Provinz Berg-Badachschan die langjährigen Spannungen zwischen den Behörden und den Pamiris, einer kleinen, nicht anerkannten ethnischen Minderheit, die dem schiitischen ismailitischen Islam anhängt, und brachen sich in neuen Protesten Bahn. Diese wurden von den Behörden brutal unterdrückt. Sie leiteten am 18. Mai 2022 einen "Antiterroreinsatz" ein, bei dem im Laufe mehrerer Wochen Dutzende Pamiris ums Leben kamen. Über 200 Personen wurden festgenommen.

Recht auf Leben und Sicherheit der Person

Regierungsangaben vom Mai 2022 zufolge betrug die Zahl der bei dem "Antiterroreinsatz" in der autonomen Provinz Berg-Badachschan Getöteten 21, doch laut inoffiziellen Quellen lag sie doppelt so hoch. Die Umstände vieler Todesfälle lösten, auch mangels einer unabhängigen Berichterstattung, Mutmaßungen über außergerichtliche Hinrichtungen aus. Bekannte Aktivist*innen, informelle lokale Sprecher*innen, Dichter*innen, religiöse Sprecher*innen und Journalist*innen wurden willkürlich inhaftiert.

Mehrere bekannte Angehörige der Pamiri-Diaspora in Russland wurden entführt und tauchten später in Gewahrsam in Tadschikistan auf. Bis Ende 2022 waren die meisten der Festgenommenen in unfairen Gerichtsverfahren zu langen Haftstrafen verurteilt worden, in der Regel wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung oder versuchten Sturzes der verfassungsmäßigen Ordnung. Das Schicksal und der Verbleib einiger Festgenommener blieben jedoch unbekannt, was befürchten ließ, dass sie dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen waren.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Das harte Durchgreifen gegen bekannte pamirische Influencer*innen, lokale Sprecher*innen und Aktivist*innen war begleitet von einem umfassenderen Angriff auf das kulturelle Erbe der Pamiris. Nach den Unruhen im Mai und Juni 2022 schlossen und enteigneten die Behörden zahlreiche lokale Organisationen, die mit der NGO Aga Khan Development Network in Verbindung standen und in den Bereichen Bildung, wirtschaftliche Entwicklung und religiöse Unterweisung tätig waren.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Das Recht auf freie Meinungsäußerung war auch 2022 stark eingeschränkt. Die wenigen verbliebenen unabhängigen Medienunternehmen sowie Menschenrechtsverteidiger*innen und Blogger*innen wurden in der Zeit nach den Protesten in Berg-Badachschan massiv ins Visier genommen.

Die beiden Journalisten Mullorajab Yusufi und Anushervon Aripov, die für den tadschikischen Dienst von Radio Free Europe und den regionalen Nachrichtenkanal Current Time arbeiteten, wurden am 17. Mai 2022 in der Hauptstadt Duschanbe von unbekannten Angreifern brutal verprügelt. Der Vorfall ereignete sich, kurz nachdem sie die bekannte pamirische Journalistin und Menschenrechtlerin Ulfatkhonim Mamadshoeva zu den Ereignissen in Berg-Badachschan interviewt hatten.

Am nächsten Tag wurde Ulfatkhonim Mamadshoeva selbst festgenommen und beschuldigt, "öffentlich zum Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung aufgefordert" zu haben. Im Dezember 2022 wurde sie nach einem nichtöffentlichen, unfairen Gerichtsverfahren zu 21 Jahren Haft verurteilt. Nach ihrer Festnahme verboten die Behörden der privaten Nachrichtenagentur Asia-Plus, für die sie gearbeitet hatte, weiter über die Ereignisse in Berg-Badachschan zu berichten. Andere Medienunternehmen meldeten ähnliche Repressalien.

Am 19. Mai 2022 wurde der pamirische Blogger und Journalist Khushruz Jumayev (im Internet als Khush Gulyam bekannt) festgenommen. Im Dezember verurteilte man ihn aufgrund undurchsichtiger Vorwürfe in Bezug auf die Geschehnisse vom Mai in Berg-Badachschan zu acht Jahren Haft.

Zu den anderen Aktivist*innen, die im Jahr 2022 unfairen Gerichtsverfahren ausgesetzt waren, zählten etwa ein Dutzend Mitglieder von Commission 44. Hierbei handelt es sich um eine unabhängige Gruppe von Anwält*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen, die gegründet worden war, um die Tötung eines Aktivisten im November 2021 zu untersuchen, die in Berg-Badachschan Proteste ausgelöst hatte. Shaftolu Bekdavlatov und Khujamri Pirmamadov wurden unter der Anklage, eine kriminelle Vereinigung gegründet und finanzielle Unterstützung aus dem Ausland angenommen zu haben, zu je 18 Jahren Haft verurteilt. Der Vorsitzende der pamirischen Anwält*innenvereinigung, Mannuchehr Kholiknazarov, erhielt am 9. Dezember 2022 eine 15-jährige Gefängnisstrafe.

Journalist*innen und Blogger*innen wurden aber auch wegen kritischer Berichterstattung, die nicht mit der autonomen Provinz Berg-Badachschan zusammenhing, strafrechtlich verfolgt. Die beiden Journalisten Daler Imomali und Avazmad Gurbatov (auch bekannt als Abdullo Gurbati), die über Verstöße gegen wirtschaftliche und soziale Rechte berichtet hatten, wurden am 15. Juni 2022 kurz nach einer Reportage über den Abriss von Privathäusern in Duschanbe festgenommen.

Am 4. Oktober 2022 wurde Avazmad Gurbatov in einem nichtöffentlichen Verfahren auf der Grundlage konstruierter Anklagepunkte zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. Man warf ihm vor, einen Polizisten tätlich angegriffen zu haben und Mitglied der willkürlich verbotenen politischen Organisation Gruppe 24 zu sein. Daler Imomali wurde zwei Wochen später in einem separaten Verfahren auf der Basis ebenso weit hergeholter Vorwürfe wegen Steuerhinterziehung, Verbreitung von Falschinformationen sowie angeblicher Mitgliedschaft in der Gruppe 24 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.

In den ersten Monaten des Jahres 2022 wurde das Internet in Berg-Badachschan komplett abgeschaltet und für den Rest des Jahres nur phasenweise und unvollständig wieder hergestellt. Im ganzen Land unterlag der Internetzugang dauerhaft strengen Beschränkungen.

Folter und andere Misshandlungen

Folter und andere Misshandlungen blieben sowohl als Mittel der Einschüchterung als auch zum Erzwingen von "Geständnissen" weit verbreitet. Inhaftierte berichteten nach wie vor von Misshandlungen und Vernachlässigung, u. a. wurden sie mit Schlägen traktiert, hatten nicht ausreichend Zugang zu Essen und Trinken, und litten in den Zellen unter Kälte und Feuchtigkeit.

Der Blogger Abdusattor Pirmuhammadzoda wurde im Juli 2022 festgenommen und in Untersuchungshaft genommen. Es gelang ihm, einen Brief hinauszuschmuggeln, in dem er schildert, dass man ihn brutalen Schlägen, Elektroschocks und psychologischer Folter, einschließlich Drohungen gegen seine Familie, unterzogen habe, um ein "Geständnis" zu erzwingen. Im November 2022 wurde er zu sieben Jahren Haft verurteilt. Im Jahr 2020 war ihm wegen seiner Kritik an der Regierung bei einem staatlichen Radiosender gekündigt worden.

Im Juni 2022 wurde Elobat Oghalykova, die gerade auf dem Weg zu einem Konzert in einem öffentlichen Park in Duschanbe war, festgenommen, weil sie aus Trauer um einen ihrer Söhne ein schwarzes Kleid trug – ein Brauch, der seit 2017 verboten ist. Sie wurde auf dem Polizeirevier des Bezirks Spitamen mit Schlägen misshandelt und musste im Krankenhaus behandelt werden. Als sie eine Beschwerde einreichte, wurden ihr wegen Ungehorsams gegenüber einem Polizisten 15 Tage Haft angedroht.

Rechte von Frauen und Mädchen

Laut zahlreicher im Laufe des Jahres veröffentlichter Indikatoren, darunter jenen im Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums, war Tadschikistan das zentralasiatische Land mit dem größten Gendergap, und auch weltweit zählte es zu den Ländern, in denen die Kluft zwischen den Geschlechtern am ausgeprägtesten war.

Einer von der EU-UN Spotlight Initiative im Juni veröffentlichten Umfrage zufolge waren 77,3 Prozent aller Befragten der Meinung, dass Gewalt gegen Frauen in Tadschikistan weit verbreitet sei, und 34 Prozent aller Befragten (Männer und Frauen) hielten es für gerechtfertigt, eine Partnerin, die nicht gehorchen will, zu schlagen. Der begleitende Bericht beleuchtete viele langjährige Probleme: die schwache Rechtsgrundlage, die begrenzte Reichweite und mangelhafte Finanzierung von Schutzdiensten sowie stereotype Haltungen bei öffentlichen Leistungsträgern, u. a. den Strafverfolgungsbehörden. Gesetzesvorschläge zur Kriminalisierung von häuslicher Gewalt, die dem Parlament 2021 vorgelegt worden waren, harrten Ende 2022 noch immer ihrer Verabschiedung.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Im August 2022 äußerte sich das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) sehr besorgt über die Praxis der Inhaftierung und Abschiebung von afghanischen Flüchtlingen. Der UNHCR dokumentierte allein im August und im September 2022 Dutzende solcher Fälle. Angehörige der fast 14.000 Personen umfassenden afghanischen Flüchtlingsgemeinschaft in Tadschikistan berichteten, dass die Abschiebungen ohne jedes Verfahren und ohne nachvollziehbare Rechtfertigung stattfanden.

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