Amnesty Report Spanien 28. März 2023

Spanien 2022

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Beim gewaltsamen Vorgehen der Behörden gegen Personen, die versuchten, die Grenze zwischen Melilla und Marokko zu überqueren, kam es zu Todesfällen, Folter und rechtswidrigen Abschiebungen. Gegen katalanische Politiker*innen und Mitglieder der Zivilgesellschaft wurde Spionagesoftware eingesetzt. Gewalt gegen Frauen war nach wie vor weit verbreitet. Dem Parlament lag ein Gesetzentwurf zur Beseitigung von Hindernissen für Schwangerschaftsabbrüche vor. Es wurde ein problematischer Gesetzesvorschlag eingebracht, der bestimmte Aspekte der Sexarbeit kriminalisieren würde. Die Regierung nahm einen wegweisenden Gesetzentwurf über geschlechtliche Selbstbestimmung an. Die Behörden schützten die Rechte auf Gesundheit und Wohnen nicht angemessen. Der Einsatz von Elektroschockgeräten durch die Polizei gab nach wie vor Anlass zur Sorge. Vage formulierte Straftatbestände wurden dazu genutzt, die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu beschränken. Ein neues Gesetz zur Bekämpfung der Straflosigkeit für die während des Bürgerkriegs und der Diktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen war ein positiver Schritt. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise blieben unzureichend.

Hintergrund

Ein Polizist wurde wegen Falschaussage gegen einige katalanische Politiker zu zwölf Monaten Haft verurteilt. Die Verurteilung stand im Zusammenhang mit umfassenderen laufenden Ermittlungen zu den Aktivitäten eines geheimen Netzwerks, der sogenannten "patriotischen Polizei". Diese stand im Verdacht, Beweismittel zu fälschen, um die Partei Podemos und führende Vertreter*innen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung zu diskreditieren.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Die Behörden begingen an den Grenzen schwerwiegende Verstöße gegen die Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen.

Am 24. Juni 2022 wandten die spanischen und die marokkanischen Behörden rechtswidrige Gewalt an und griffen auf Maßnahmen zurück, die möglicherweise Folter und andere Misshandlungen darstellten, um eine große Gruppe Schwarzer Männer aus Ländern südlich der Sahara daran zu hindern, in die spanische Enklave Melilla im Norden Marokkos zu gelangen und dort Schutz zu beantragen.  Mindestens 37 Personen starben und mehr als 470 wurden rechtswidrig abgeschoben. Im Oktober 2022 verurteilten UN-Expert*innen die anhaltende Straflosigkeit für den Tod und die Entmenschlichung afrikanischer Migrant*innen an Europas Grenzen.

Im März 2022 schoben die Behörden den algerischen Staatsangehörigen Mohamed Benhalima nach Algerien ab, ohne zu prüfen, ob seine Sicherheit dort gefährdet war. Bei seiner Rückkehr nach Algerien wurde der ehemalige Militärangehörige und Whistleblower inhaftiert und darüber informiert, dass er in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Die spanischen Behörden hatten seinen Asylantrag abgelehnt, weil er an Aktivitäten beteiligt gewesen sein soll, "die die nationale Sicherheit gefährden oder Spaniens Beziehungen mit anderen Ländern schaden könnten".

Die Behörden gewährten 156.000 ukrainischen Flüchtlingen gemäß der Massenzustrom-Richtlinie der EU vorübergehenden Schutz. Die Regierung richtete in Madrid, Barcelona, Alicante und Malaga eigens Aufnahmezentren ein, um eine koordinierte und schnelle Reaktion auf die Bedürfnisse der Geflüchteten zu gewährleisten.

Recht auf Privatsphäre

Für Kritik sorgte der Einsatz der Spionagesoftware Pegasus des Unternehmens NSO Group in Spanien, mit der die Mobiltelefone von prominenten katalanischen Politiker*innen, Journalist*innen, Rechtsanwält*innen und deren Familien ausgespäht wurden. Im Mai 2022 räumte die Direktorin des spanischen Geheimdiensts ein, dass mehrere katalanische Politiker*innen, die sich für die Unabhängigkeit Kataloniens einsetzen, ausspioniert worden waren. Die Regierung bestätigte zudem, dass die Diensttelefone des Präsidenten, des Innenministers und der Verteidigungsministerin mit der Pegasus-Spionagesoftware infiziert waren, woraufhin das Hohe Gericht im Mai eine Untersuchung einleitete. In separaten Ermittlungen katalanischer Gerichte im Zusammenhang mit der Bespitzelung von katalanischen Politiker*innen und Mitgliedern der Zivilgesellschaft wurden keine Fortschritte erzielt.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Gewalt gegen Frauen war nach wie vor weit verbreitet. Im Jahr 2022 wurden 49 Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern getötet. Seit Beginn der Erfassung entsprechender Daten im Jahr 2013 sind 48 Kinder im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt gegen ihre Mütter getötet worden, zwei davon im Jahr 2022.

Positiv war zu verzeichnen, dass das Gleichstellungsministerium damit begann, Daten zu Gewalttaten gegen Frauen zu erfassen, die von anderen Personen als den Partnern oder Ex-Partnern der Betroffenen begangen wurden.

Im Oktober 2022 trat das Gesetz über den umfassenden Schutz der sexuellen Freiheit in Kraft, mit dem das Strafgesetzbuch geändert und sexualisierte Gewalt dahingehend neu definiert wurde, dass Sex ohne Zustimmung bereits den Tatbestand der Vergewaltigung erfüllt.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Im Dezember 2022 verabschiedete der Kongress einen Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über sexuelle und reproduktive Rechte. Damit entfiel die Notwendigkeit der elterlichen Zustimmung zu einem Schwangerschaftsabbruch für 16- und 17-Jährige. Auch andere Hindernisse für den Zugang zu einem rechtzeitigen Schwangerschaftsabbruch, wie die obligatorische Beratung und die Bedenkzeit, wurden abgeschafft.

Arbeitnehmer*innenrechte

Ein Gesetzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuchs, der bestimmte Aspekte der Sexarbeit kriminalisieren würde, war Ende 2022 noch im Parlament anhängig. Von der Kriminalisierung betroffen wären u. a. diejenigen, die sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nehmen, sowie Drittpersonen. Es wurde befürchtet, dass ein solches Gesetz Auswirkungen auf die Rechte und die Sicherheit von Sexarbeiter*innen haben würde.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Im Juni 2022 nahm die Regierung einen wegweisenden Gesetzentwurf an, der das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung anerkennt. Er ermöglicht es transgeschlechtlichen Menschen, ihre Geschlechtsidentität rechtlich anerkennen und die Kennzeichnung ihres Geschlechts in Ausweispapieren ändern zu lassen, ohne dass eine Hormonbehandlung oder ein ärztliches Gutachten erforderlich ist. Dies gilt auch für Kinder ab zwölf Jahren. Im Dezember wurde der Gesetzentwurf vom Kongress verabschiedet. Die Bestätigung durch den Senat wurde für Anfang 2023 erwartet.

Recht auf Gesundheit

Auf nationaler und regionaler Ebene wurden keine ausreichenden Mittel für den Schutz des Rechts auf Gesundheit bereitgestellt. Das nationale Budget für die primäre Gesundheitsversorgung betrug 14 Prozent des gesamten öffentlichen Gesundheitsetats und lag damit weit unter dem von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Anteil von mindestens 25 Prozent. Das Gesamtbudget der autonomen Gemeinschaften für die Gesundheitsversorgung war 2022 nur 4,5 Prozent höher als 2021, obwohl sich die Ausgaben zwischen 2019 und 2020 um mehr als 9 Prozent erhöht hatten. In Aragón und Castilla La Mancha wurden die Gesundheitsetats im Vergleich zum Vorjahr sogar gekürzt.

Nach 15-jährigem Stillstand wurde mit der Umsetzung der im Dezember 2021 genehmigten neuen "Nationalen Strategie für psychische Gesundheit 2022–2026" begonnen.

Ältere Menschen

Die Sterberate älterer Menschen in Pflegeheimen während der Coronapandemie wurde von den Behörden nicht angemessen untersucht. Etwa 90 Prozent der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wurden eingestellt, obwohl die Generalstaatsanwaltschaft einräumte, dass es in Pflegeheimen zu Menschenrechtsverletzungen gekommen war.

Die Arbeit der meisten regionalen Wahrheitskommissionen, die mit der Untersuchung der Behandlung älterer Menschen in Pflegeheimen betraut waren, wurde ohne klare Begründung eingestellt. Die Behörden richteten auch keine nationale Wahrheitskommission ein, um die Verantwortlichen für die Todesfälle in Pflegeheimen zur Rechenschaft zu ziehen.

Recht auf Wohnen

Tausenden Haushalten wurde das Recht auf angemessenen Wohnraum verwehrt. Zwischen Januar und September 2022 gab es 29.285 Zwangsräumungen. Im Juni verlängerte die Regierung das vorübergehende Räumungsverbot für wirtschaftlich gefährdete Menschen bis zum 31. Dezember. Die Maßnahme war zwar zu begrüßen, reichte jedoch nicht aus, um Tausende Menschen, die nicht zu dieser Kategorie gehörten, vor Obdachlosigkeit zu schützen.

Die steigenden Energiekosten hatten massive Folgen für Tausende Haushalte. So konnten 14,3 Prozent der Bevölkerung ihre Wohnungen nicht mehr angemessen beheizen. Im Jahr 2020 waren es 10,9 Prozent. In Madrids Stadtteil Cañada Real lebten 4.500 Menschen, darunter 1.800 Kinder, weiterhin ohne Stromversorgung, obwohl die Ombudsperson empfohlen hatte, die 2020 gekappte Stromversorgung wiederherzustellen.

Exzessive Gewaltanwendung

Es war weiterhin fraglich, ob die Ausbildung und die Vorschriften für den Einsatz sogenannter weniger tödlicher Waffen durch die verschiedenen Polizeieinheiten des Landes angemessen waren. Das Innenministerium verlängerte eine Bestimmung, nach der Elektroschockgeräte Teil der Standardausrüstung der nationalen Sicherheitskräfte und der Guardia Civil sowie der regionalen Polizeikräfte im Baskenland und in Katalonien waren.

Bis Ende 2022 war noch niemand im Zusammenhang mit dem Tod eines Mannes im November 2021 in Barcelona angeklagt worden, der von der katalanischen Polizei mehrfach mit einem Elektroschockgerät traktiert worden war, auch nachdem man ihn bereits fixiert hatte.

Menschen, die bei Demonstrationen durch von der Polizei abgefeuerte Schaumstoffgeschosse schwer verletzt worden waren, liefen Gefahr, keine Gerechtigkeit zu erhalten, da die Staatsanwaltschaft plante, die strafrechtlichen Ermittlungen wegen mangelnder Kooperation der Polizei einzustellen.

Auch Ende 2022 waren die strafrechtlichen Ermittlungen wegen rechtswidriger Gewaltanwendung durch die Polizei im Zusammenhang mit den Protesten vom Oktober 2017 noch immer nicht abgeschlossen.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Das Gesetz über die öffentliche Sicherheit wurde von den Behörden auch 2022 dazu missbraucht, das Recht auf freie Meinungsäußerung von Demonstrierenden und Journalist*innen einzuschränken. Daten zur Anwendung dieses Gesetzes zeigten, dass die Zahl der verhängten Geldstrafen für vage definierte Ordnungswidrigkeiten wie "Respektlosigkeit gegenüber einer Ordnungskraft" oder "Ungehorsam bzw. Widerstand gegen die Behörden oder ihre Vertreter" zugenommen hatte.

Das Parlament begann mit der Novellierung des Strafgesetzbuchs, um die Straftatbestände "Beleidigung der Krone" und "Beleidigung staatlicher Institutionen" aufzuheben, die ebenfalls zur Einschränkung der Meinungsfreiheit missbraucht wurden.

Straflosigkeit

Im Oktober 2022 trat das "Gesetz zur demokratischen Erinnerung" in Kraft, um das "Gesetz über das historische Gedenken" von 2007 zu ersetzen. Gemäß dem neuen Gesetz liegt die Suche nach Opfern des Verschwindenlassens während des Bürgerkriegs und der Diktatur in der Verantwortung des Staates. Außerdem sind von Militär-, Zivil- oder Sondergerichten aus politischen Gründen gefällte Urteile als nichtig zu betrachten. Das Gesetz sieht allerdings keine strafrechtliche Verfolgung der völkerrechtlichen Verbrechen vor, die in diesem Zeitraum begangen wurden.

Das während der Diktatur verabschiedete "Gesetz über geheime Informationen" (1968) stellte nach wie vor ein Hindernis für den Zugang zur Justiz dar.

Klimakrise

Nach Schätzungen des staatlichen Gesundheitsinstituts Instituto de Salud Carlos III waren 5.829 Todesfälle in den Monaten Januar bis Oktober 2022 auf hohe Temperaturen zurückzuführen. Im gleichen Zeitraum wurden durch Brände 259.491,42 Hektar Land zerstört, dreimal mehr als im Vorjahreszeitraum. Laut dem Verzeichnis für Treibhausgasemissionen lag der Bruttoausstoß an Kohlendioxid im Jahr 2021 in Spanien bei 288,6 Mio. Tonnen, was einem Anstieg von 5,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr entsprach.

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