Amnesty Report Serbien 28. März 2023

Serbien 2022

Sicherheitskräfte verhaften einen Mann in blauem Hemd

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Die Medienfreiheit wurde torpediert, indem unabhängige Journalist*innen und Medienunternehmen bedroht und mit Zivilklagen überzogen wurden. Auch Umweltschützer*innen wurden strafrechtlich verfolgt und sahen sich bei Protesten mit übermäßiger Polizeigewalt konfrontiert. Ein neues Gesetz zur Sozialfürsorge führte zur Diskriminierung von Minderheiten. Die Zahl der Flüchtlinge und Migrant*innen, die nach Serbien gelangten, stieg an.

Hintergrund

Präsident Vučić wurde im April 2022 wiedergewählt, das neue Parlament trat jedoch erst im September zusammen. Serbien strebte den EU-Beitritt an, setzte aber gleichzeitig auf engere wirtschaftliche Beziehungen zu China und Russland.

Im August 2022 einigten sich Serbien und der Kosovo unter EU-Vermittlung auf eine Vereinbarung über die Freizügigkeit zwischen ihren Ländern. Anfang November kündigten zahlreiche Angehörige der serbischen Minderheit im Norden des Kosovo aus Protest gegen eine neue Autokennzeichenverordnung ihre Anstellung bei staatlichen Institutionen. Im Dezember verschärften sich die Spannungen, als in der Stadt Mitrovica/Mitrovicë im Norden des Kosovo Barrikaden errichtet wurden, während in der serbischen Hauptstadt Belgrad rechte Gruppen auf die Straße gingen und Präsident Vučić die serbische Armee zur Rückkehr an die Grenze aufforderte. Nach internationalem Druck wurden am 29. Dezember 2022 zwar die Barrikaden im Kosovo entfernt, die politischen Spannungen hielten jedoch an.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Auch 2022 wurden verurteilte Kriegsverbrecher ausgezeichnet und befördert. Die strafrechtliche Verfolgung hochrangiger Militärs und die Bearbeitung von 1.731 Vorermittlungsfällen ließen hingegen auf sich warten. Die Kriegsverbrecherprozesse vor dem Belgrader Bezirksgericht kamen nur langsam voran.

Im Juli 2022 wurde das Belgrader Büro der Frauenrechtsorganisation Žene u crnom (Frauen in Schwarz) mit roter Farbe beschmiert, nachdem die Organisation von der Regierung ein offizielles Gedenken an den Völkermord von Srebrenica 1995 gefordert hatte.

Ebenfalls im Juli 2022 sagte ein ehemaliger serbischer Paramilitär gegen elf Mitglieder der 177. Einheit der jugoslawischen Armee aus, die wegen der Tötung von 118 Kosovo-Albaner*innen in den kosovarischen Dörfern Zahać/Zahaq, Ćuška/Qyshk, Pavlan/Plavljane und Ljubenić/Lubeniq im Mai 1999 angeklagt waren. Anschließend beantragte er den Zeugenschutzstatus.

Im Oktober 2022 fand in Serbien mit dem Prozess gegen Milenko Živanović das erste Verfahren gegen einen bosnisch-serbischen Befehlshaber statt. Der ehemalige General des Drina-Korps der Armee der Republika Srpska bestritt, im Juli 1995 den Befehl zur Vertreibung der bosniakischen Zivilbevölkerung aus Srebrenica gegeben zu haben.

Über den Verbleib von insgesamt 1.621 Personen, die aus dem Kosovo verschleppt worden waren oder als vermisst galten, war im August 2022 noch immer nichts bekannt.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im April 2022 wies die OSZE auf eine Zunahme gewalttätiger Drohungen und verbaler Angriffe gegen Medienschaffende hin. So wurden Medienschaffende u. a. mit dem Tod bedroht, der Tätigkeit für das Ausland beschuldigt oder als mutmaßliche Verräter*innen ins Visier genommen. Ende 2022 berichtete der unabhängige Journalist*innenverband NUNS über 107 Angriffe, Drohungen und Versuche, Journalist*innen unter Druck zu setzen.

Im Juni 2022 beantragten 14 Fernsehsender bei der Aufsichtsbehörde für elektronische Medien Sendelizenzen. Es wurden vier Lizenzen vergeben, allesamt an regierungsnahe Sender.

Politiker*innen und Unternehmen griffen auch im Jahr 2022 auf strategische Gerichtsverfahren gegen öffentliche Beteiligung (SLAPP-Klagen) zurück, um unabhängige Journalist*innen und regierungskritische Medien wegen "Rufschädigung" zu verklagen, was die Medienfreiheit in Gefahr brachte. Das im November ergangene Urteil in dem vom Geheimdienstchef Bratislav Gašić angestrengten Verfahren gegen die gemeinnützige Organisation zur Korruptionsbekämpfung Mreža za istraživanje kriminala i korupcije (KRIK) gefährdete die freie journalistische Berichterstattung über Gerichtsverfahren.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Umweltschützer*innen setzten 2022 in ganz Serbien ihre Proteste gegen Unternehmen der Rohstoffindustrie fort und sahen sich dabei mit übermäßiger Polizeigewalt und der Androhung von SLAPP-Klagen durch die betroffenen Unternehmen konfrontiert.

Im Juli 2022 nahm die Polizei im Verlauf von Demonstrationen gegen Pläne der Stadt Novi Sad für den Bau eines Wohn- und Geschäftskomplexes entlang der Donau zwei Umweltschützer fest. Eine Videoaufnahme zeigte, wie private Sicherheitsleute einen Demonstranten zu Boden zwangen und festhielten. Als die Proteste im Oktober fortgesetzt wurden, wandten Polizeikräfte, die keine sichtbare Kennung trugen, erneut unverhältnismäßige Gewalt an.

Im September 2022 wiesen zwei Männer, die an Demonstrationen gegen eine Kupfermine nahe der Kleinstadt Majdanpek teilgenommen hatten, schwere Verletzungen auf, nachdem sie über Nacht auf dem Polizeirevier von Negotin ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand festgehalten worden waren.

Im Dezember 2022 zog die Regierung auf erheblichen Druck der Zivilgesellschaft den Entwurf eines Gesetzes über innere Angelegenheiten zurück, welches übergriffige biometrische Überwachungsmaßnahmen sowie Einschränkungen des Rechts auf friedliche Versammlung vorgesehen hätte.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Nachdem zwischen dem 21. März und 1. April 2022 vier Frauen getötet worden waren, drei davon durch Familienmitglieder, forderten 61 Frauenrechtsorganisationen die Behörden auf, die bestehenden Maßnahmen zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen und zum Schutz der Gefährdeten konsequent umzusetzen. Im Laufe des Jahres wurden mindestens 21 Frauen von Familienmitgliedern getötet. Im Oktober 2022 regte Präsident Vučić höhere Strafen für Vergewaltigung und häusliche Gewalt an. Die Frauenrechtsorganisation Autonomous Women’s Centre hingegen drängte auf die Umsetzung des 2013 von Serbien ratifizierten Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) einschließlich der Annahme der darin enthaltenen zustimmungsbasierten Definition von Vergewaltigung.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Im September 2022 fand in Belgrad die EuroPride 2022 statt. Das Innenministerium hatte die Veranstaltung zunächst unter Hinweis auf Sicherheitsbedenken verboten, erlaubte aber später einen kurzen Umzug, begleitet von hoher Polizeipräsenz. Einige Teilnehmer*innen, vier Presseteams und mehrere Polizist*innen wurden von Menschen mit homofeindlichen Motiven angegriffen. Berichten zufolge wurden 64 Personen festgenommen.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Im Mai 2022 trat ein neues Gesetz zur Sozialfürsorge in Kraft, mit dem ein Algorithmus zur Bestimmung des Anspruchs auf Unterstützungsleistungen eingeführt wurde. NGOs fochten das Gesetz vor dem Verfassungsgericht mit der Begründung an, die Entscheidungsfindung durch einen Algorithmus berge Risiken im Hinblick auf die Menschenrechte. Dazu zählten die Erfassung und Anhäufung erheblicher Mengen persönlicher Daten, die Verletzung der Privatsphäre und die mögliche Diskriminierung von Minderheiten, insbesondere von Rom*nja.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Die Zahl der Menschen, die in bereits überfüllten Asyl- und Flüchtlingszentren ankamen, verdoppelte sich im September 2022 nahezu, sodass die Kapazitäten nicht mehr ausreichten und Gesundheitsrisiken bestanden. Gleichzeitig stieg die Zahl der inoffiziellen Lager und die Nutzung leer stehender Häuser an. Auch kamen immer mehr alleinstehende Frauen, Familien und unbegleitete Minderjährige ins Land.

Im Oktober 2022 führte die Polizei gewaltsame Razzien in den inoffiziellen Lagern durch. Dies erfolgte im Auftrag des damaligen Innenministers Aleksandar Vulin, der die Migrant*innen als "Abschaum" und "Bandit*innen" bezeichnete und damit migrant*innenfeindlicher Rhetorik und Schikanen Vorschub leistete. Ungarn schob Tausende Menschen nach Serbien zurück; gleichzeitig baute Serbien seinen Grenzzaun zu Nordmazedonien aus. Im Oktober 2022 befanden sich 84.512 Menschen in den staatlichen Aufnahmezentren. Obwohl 3.371 Personen angaben, einen Asylantrag stellen zu wollen, beantragten lediglich 270 Geflüchtete offiziell Asyl. Bis zum 31. Dezember hatten 27 Menschen irgendeine Form des internationalen Schutzes erhalten.

Der seit Juni 2021 in Serbien inhaftierte kurdische politische Aktivist Ecevit Piroğlu musste weiterhin seine Auslieferung an die Türkei befürchten. Internationale Menschenrechtsgruppen forderten Serbien auf, ihm Asyl zu gewähren, da ihm in der Türkei schwere Menschenrechtsverletzungen wie Folter und willkürliche Inhaftierung drohen würden.

Menschenhandel

Im Januar 2022 äußerte die UN-Sonderberichterstatterin über den Menschenhandel große Besorgnis über die Situation von 402 vietnamesische Arbeitsmigrant*innen, die zum Bau eines Reifenwerks der chinesischen Firma Shandong Linglong im serbischen Zrenjanin ins Land geholt worden waren. NGOs hatten dort Fälle von Zwangsarbeit, einschließlich Schuldknechtschaft, sowie unsichere und ungesunde Lebens- und Arbeitsbedingungen dokumentiert.

Umweltzerstörung

Obwohl die Regierung im Januar 2022 mitgeteilt hatte, dass sie nach landesweiten Protesten im Jahr 2021 die Genehmigungen für die Erschließung einer Lithiummine durch das Unternehmen Rio Tinto widerrufen habe, berichteten lokale Organisationen von fortgesetzten Aktivitäten im Jadar-Tal.

Das schwache serbische Aufsichtssystem stand weithin in der Kritik, weil es insbesondere chinesischen und russischen Bergbau- und Verarbeitungsunternehmen die Möglichkeit bot, die ohnehin unzureichenden Umweltschutzmaßnahmen zu umgehen und damit potenziell irreversible Umweltschäden zu verursachen.

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