Amnesty Report Serbien 29. März 2022

Serbien 2021

Eine junge Frau aus Rückenansicht, die eine Faust in die Luft streckt.

Berichtszeitraum: 01. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021

Bei der Strafverfolgung von mutmaßlich Verantwortlichen für völkerrechtliche Verbrechen in der Vergangenheit gab es nur geringe Fortschritte. Misshandlungen durch die Polizei blieben straffrei. Medienschaffende und NGOs wurden von der Regierung und von regierungsnahen Medien angegriffen. Frauen, Rom_nja und Angehörige anderer ethnischer Minderheiten sowie LGBTI+ und sozial Benachteiligte wurden häufig diskriminiert.

Hintergrund

Die Serbische Fortschrittspartei (Srpska Napredna Stranka – SNS) festigte ihre Macht im Parlament, da es keine wirksame Opposition gab. Der von der EU und den USA geförderte Dialog über die Normalisierung der Beziehungen Serbiens zum Kosovo wurde im Juni 2021 wieder aufgenommen, geriet dann aber erneut ins Stocken. Nachdem die Regierung des Kosovo ein Verbot serbischer Nummernschilder durchgesetzt hatte, nahmen die Spannungen im September wieder zu.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Die Europäische Kommission wies im Oktober 2021 auf die schwache Bilanz Serbiens bei der Bekämpfung der Straflosigkeit hin, die im Gegensatz zu der Unterstützung und den Privilegien stehe, die der Staat verurteilten Kriegsverbrechern gewähre. In Verfahren vor dem Hohen Gericht in Belgrad wurden bosnisch-serbische Angeklagte wegen Kriegsverbrechen, darunter Folter, Mord, Vergewaltigung und sexuelle Ausbeutung, zur Rechenschaft gezogen. Dies geschah meist auf der Grundlage von Anklagen, die von der Staatsanwaltschaft von Bosnien und Herzegowina übertragen worden waren. Prozesse zu Srebrenica und Štrpci wurden um mehr als ein Jahr verschoben.

Im Januar 2021 sprach das Berufungsgericht zwei Personen frei, die im Rahmen des Massakers von Lovas (Kroatien) im Jahr 1991 wegen unmenschlicher Behandlung, Folter und Mordes an 69 kroatischen Zivilpersonen sowie wegen der Verletzung von zwölf weiteren Menschen angeklagt waren. Die Strafen von sechs weiteren Personen wurden auf ein Strafmaß reduziert, das unter der gesetzlichen Mindeststrafe lag.

Im September 2021 bestätigte das Berufungsgericht Urteile zur Entschädigung der Familien von 193 Kriegsgefangenen und Zivilpersonen, die 1991 von der jugoslawischen Armee im kroatischen Ovčara ermordet worden waren. Die Entschädigungen waren jedoch geringer als vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgesehen.

Im August 2021 verurteilte der Internationale Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe nach einer Neuverhandlung die ehemaligen Staatssicherheitsbeamten Jovica Stanišić und Franko Simatović zu zwölf Jahren Haft. Sie waren angeklagt wegen des Kriegsverbrechens Beihilfe zum Mord sowie wegen Mordes, Abschiebung, Zwangsverschleppung und Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sie in Bosnien und Herzegowina im April 1992 begangen hatten.

Verschwindenlassen

Im April 2021 mahnte der kroatische Präsident an, dass Serbien vor einem EU-Beitritt das Schicksal der vermissten Kroat_innen klären müsse. Lediglich sieben Leichen von vermissten Personen aus dem Kosovo waren an diesen übergeben worden. Keine der beiden Parteien gestattete Einsichtnahme in ihr Militärarchiv, wie es die Familien der Vermissten 2020 gefordert hatten.

Folter und andere Misshandlungen

Im Juli 2021 gab das Belgrader Zentrum für Menschenrechte bekannt, dass es keine Fortschritte bei den Strafanzeigen von 40 Personen gebe, die bei Demonstrationen im Juli des Vorjahres von der Polizei verletzt worden waren. Dies war darauf zurückzuführen, dass die Polizei die Verantwortlichen nicht identifiziert hatte.

Im Dezember 2021 forderte der UN-Ausschuss gegen Folter die serbischen Behörden auf, Rechtsgarantien zum Schutz der Rechte von Inhaftierten zu geben und die Straflosigkeit für Folter und andere Misshandlungen zu beenden, indem eine unabhängige Untersuchung aller Vorwürfe gewährleistet wird.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Ein Entwurf für ein Gesetz über innere Angelegenheiten wurde im September 2021 zurückgezogen, da Bedenken hinsichtlich seiner möglichen Auswirkungen auf das Recht auf Protest und Privatsphäre bestanden. Im Oktober 2021 wurde die Vorankündigungsfrist für Versammlungen im Rahmen eines neuen Umweltgesetzes zur Regelung des Lärmpegels auf 20 Tage erhöht. Im November setzte die Polizei exzessive Gewalt gegen Menschen ein, die gegen Umweltzerstörung demonstrierten.

Recht auf freie Meinungsäußerung

NGOs und unabhängige Medien wurden von Politiker_innen und regierungsnahen Medien verunglimpft. Im März 2021 warf der Fraktionsvorsitzende der SNS, Aleksandar Martinović, der NGO CRTA, die das Parlament beobachtet, Beteiligung an einem früheren Staatsstreich und versuchten Mord an Präsident Vučić vor. Im August 2021, als die Regierung ihre Kampagne gegen NGOs und unabhängige Medien intensivierte, wandten sich über 70 Organisationen an das Ministerium für Menschenrechte, um Schutz zu erhalten. Im Oktober und November 2021 wurde das Büro der Frauenrechtsorganisation Žene u crnom (Frauen in Schwarz) zweimal mit frauenfeindlichen und nationalistischen Graffiti verunstaltet.

Journalist_innen und Medienschaffende

Im März 2021 traten fünf Medienorganisationen aus der Arbeitsgruppe für die Sicherheit und den Schutz von Journalist_innen aus, nachdem die Regierung begonnen hatte, hart gegen unabhängige Medien vorzugehen. Unter anderem beschuldigte die Regierung das Netzwerk zur Untersuchung von Kriminalität und Korruption (KRIK), mit dem organisierten Verbrechen zusammenzuarbeiten. Vier ehemalige Angehörige der Staatssicherheit wurden im Dezember 2021 wegen Mittäterschaft an der Ermordung des Journalisten Slavko Čuruvija im Jahr 1999 schuldig gesprochen.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Im Jahr 2021 wurden 30 Frauen getötet, davon 20 durch Gewalt in der Familie oder in der Partnerschaft. Fünf Todesfälle wurden noch untersucht. NGOs äußerten sich besorgt darüber, dass mit dem neuen Gesetz zur Geschlechtergleichstellung die Finanzierung von Hilfsangeboten für Betroffene von Gewalt bis 2024 verschoben wurde.

Mehrere Mädchen und Frauen erhoben Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs bzw. sexueller Belästigung gegen Männer, die leitende Positionen in der Politik, in Bildungseinrichtungen und in der Privatwirtschaft bekleideten. Zwar wurden gegen einige strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet, Verurteilungen gab es jedoch nicht.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen

Über 39.675 Migrant_innen und Flüchtlinge, vor allem aus Afghanistan und Syrien, reisten nach Serbien ein. 2.306 von ihnen bekundeten ihre Absicht, dort Asyl zu beantragen. Die Zahl der Asylanträge lag bei 158, doch im Zuge von 65 Entscheidungen in der Sache war bis Ende November nur sechs Personen der Flüchtlingsstatus und sechs weiteren Personen subsidiärer Schutz zuerkannt worden – unter ihnen befanden sich zwei relativ bekannte Personen.

Investigativjournalist_innen vermuteten, dass Staatsbedienstete an der Schleusung von Migrant_innen beteiligt waren.

Im Januar 2021 kam das Verfassungsgericht zu dem Schluss, dass 17 afghanische Staatsangehörige im Jahr 2017 unmenschliche Behandlung durch die Polizei erfahren hatten. Die Polizist_innen hatten die Schutzsuchenden nach Bulgarien zurückgeschoben, obwohl sie bereits ihre Absicht, Asyl zu beantragen, bekundet hatten.

Mitte Dezember 2021 berichtete der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR), dass 210 Personen von den serbischen Behörden nach Nordmazedonien zurückgeschoben worden seien. Die tatsächliche Zahl lag vermutlich höher. Zudem berichtete der UNHCR über 27.892 Kollektivausweisungen nach Serbien aus EU-Ländern (Ungarn, Kroatien und Rumänien) sowie aus Bosnien und Herzegowina.

Recht auf Wohnraum

Nach einer Beschwerde der NGO A11 Initiative sowie von sechs Rom_nja, die 2019 gewaltsam aus einer informellen Siedlung in Vinca in der Hauptstadt Belgrad vertrieben worden waren, erklärte sich die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung bereit, Verhandlungen mit den städtischen Behörden zu erleichtern, um die Rechte der Rom_nja zu gewährleisten, einschließlich des Rechts auf erschwingliche Alternativunterkünfte.

Im März 2021 legte ein obdachloses Paar erfolgreich Rechtsmittel gegen eine Geldstrafe ein, die ihm wegen Verstoßes gegen die zur Eindämmung der Coronapandemie verhängten Ausgangssperre auferlegt worden war. Während der Pandemie waren die Notunterkünfte geschlossen, und einige Obdachlose wurden zu 50 Tagen Haft verurteilt.

Recht auf Gesundheit

Im Oktober 2021 stieg die Zahl der Coronafälle dramatisch an. Menschenrechtsorganisationen forderten die Regierung immer wieder auf, zu handeln und das Recht auf körperliche und geistige Gesundheit zu schützen. Viele ungeimpfte Arbeitnehmende waren gezwungen, in geschlossenen Räumen ohne Mundschutz zu arbeiten.

Umweltschützer_innen wiesen auf die gesundheitsschädlichen Auswirkungen von Kohlekraftwerken und einer Kupfermine hin, die von einem chinesischen Unternehmen betrieben wird. Sie warnten auch vor der Erschließung einer Lithiummine durch das Unternehmen Rio Tinto.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Ein vom Präsidenten nicht unterstützter Gesetzentwurf über die eingetragene Lebenspartnerschaft wurde nicht angenommen. Der Entwurf gestattete die Eintragung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und sah eine Reihe anderer Rechte vor, während er LGBTI+ weitere Rechte, darunter das Recht auf Adoption, weiterhin vorenthielt. Die Pride-Veranstaltung im September 2021 forderte die Einführung des Gesetzes und darüber hinaus Maßnahmen gegen vorurteilsmotivierte Straftaten (Hate Crimes) und Hassreden sowie Fortschritte bei der Anerkennung der gewünschten Geschlechtsidentität. Im Oktober forderte die Gleichstellungsbeauftragte die lokalen Behörden auf, Vorschriften zur Änderung des amtlichen Geschlechts und die damit einhergehende offizielle Anerkennung der gewünschten Geschlechtsidentität umzusetzen.

Waffenhandel

Im August 2021 wurden bewaffnete Gruppen, die in der Sahelzone operieren, mit Kleinwaffen und leichten Waffen aus serbischer Produktion beobachtet. Dies verdeutlichte das hohe Risiko einer Umleitung der für Burkina Faso bestimmten Waffenlieferungen aus Serbien.

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