Amnesty Report Pakistan 28. März 2023

Pakistan 2022

Ein Mann sitzt inmitten eines Hochwassers, dahinter Garagen

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

In Pakistan wurden auch 2022 schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen verübt. Dazu zählten Fälle von Verschwindenlassen und Folter, die Niederschlagung friedlicher Proteste, Angriffe auf Journalist*innen und Gewalt gegen religiöse Minderheiten sowie andere marginalisierte Gruppen. Eine fortschrittliche Gesetzgebung bezüglich der Rechte von transgeschlechtlichen Menschen konnte nicht verhindern, dass sie zunehmend Gewalt ausgesetzt waren. Der Senat verabschiedete ein Gesetz, das erstmals Folter durch Staatsbedienstete unter Strafe stellen würde. Politische Turbulenzen führten zu einer angespannten Lage im Land. Die wirtschaftlichen Rechte der Bevölkerung wurden durch eine Wirtschaftskrise stark beeinträchtigt. Hitzewellen und verheerende Überschwemmungen, die durch den Klimawandel noch verschärft wurden, führten zum Tod zahlreicher Menschen. Die Katastrophen untergruben außerdem eine Reihe von Menschenrechten.

Hintergrund

Nach einem umstrittenen Misstrauensvotum im Parlament wurde Imran Khan am 9. April 2022 als Premierminister abgesetzt. Am 11. April wählte das Parlament Shehbaz Sharif, den Vorsitzenden der Pakistan Muslim League-Nawaz (PML-N), zum neuen Regierungschef. Imran Khan und seine Partei, die Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI), beschuldigten die USA und das oppositionelle Bündnis Pakistan Democratic Movement, sich verschworen zu haben, um seinen Sturz herbeizuführen. In der Folge kam es zu landesweiten Protesten von Anhänger*innen Imran Khans und wochenlangen politischen Unruhen.

Die Amtsenthebung Imran Khans wurde weithin als Anzeichen dafür gewertet, dass das allmächtige Militär ihm die Gunst entzogen und seine Entmachtung unterstützt haben könnte. Die Proteste hielten monatelang an und wurden durch die Forderung der PTI nach vorgezogenen Neuwahlen angetrieben. Am 3. November 2022 wurde bei einem langen Protestmarsch, der von Lahore in die Hauptstadt Islamabad führte, ein Anschlag auf Imran Khan verübt, den er leicht verletzt überlebte. Das Attentat stellte eine Zäsur in der ohnehin angespannten politischen Lage dar. Imran Khan ging auf Distanz zum Militär, das ihn einst gefördert hatte, und seine Anhänger*innen demonstrierten vor militärischen Einrichtungen.

Infolge des Klimawandels erlebte Pakistan von März bis Mai 2022 extreme Hitzewellen mit Höchsttemperaturen, wie sie in den vergangenen 60 Jahren kaum je gemessen wurden. Mit am stärksten betroffen waren Regionen in den Provinzen Sindh und Punjab. Die nachfolgende Dürre ging mit Wasserknappheit einher, hinzu kam ein Choleraausbruch im Mai. Ab Juni 2022 waren insbesondere die Provinzen Sindh und Belutschistan von schweren Überschwemmungen betroffen, bei denen mehr als 1.100 Menschen ums Leben kamen. Die Katastrophe beeinträchtigte das Leben von etwa 33 Millionen Menschen, fast 750.000 hatten keinen Zugang zu sicherem und angemessenem Wohnraum, zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Weil auch landwirtschaftliche Nutzflächen in großem Maße überflutet wurden, drohten Nahrungsmittelengpässe, was wiederum die Preise in die Höhe trieb. Im November 2022 erklärte Premierminister Shehbaz Sharif auf der Weltklimakonferenz (COP27), Pakistan benötige zur Entschädigung für Verluste und Schäden durch den Klimawandel internationale Finanzhilfen in Höhe von schätzungsweise 30 Mrd. US-Dollar (etwa 28 Mrd. Euro).

Verschwindenlassen

Staatsbedienstete ließen weiterhin Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen und Regierungskritiker*innen verschwinden. Nach Angaben der pakistanischen Untersuchungskommission zum Verschwindenlassen (Commission of Inquiry on Enforced Disappearances) waren Ende Oktober 2022 mindestens 2.210 Fälle nicht aufgeklärt. Die tatsächliche Zahl war vermutlich noch weit höher. Familienangehörige, die Aufklärung und Gerechtigkeit forderten, wurden noch Jahre nach dem Verschwinden ihrer Angehörigen eingeschüchtert.

Im Juni 2022 entführten Sicherheitskräfte bei zwei getrennten Vorfällen die Journalisten Nafees Naeem und Arsalan Khan. Beide kamen nach 24 Stunden wieder frei. Am 28. April "verschwand" der belutschische Student Bebagr Imdad, als er einen Freund an der Punjab-Universität in Lahore besuchte. Er wurde 13 Tage später wieder freigelassen.

Berichten zufolge verabschiedete die Nationalversammlung am 21. Oktober 2022, gut ein Jahr nach der ersten Abstimmung, zum zweiten Mal einen Gesetzentwurf, der das Verschwindenlassen unter Strafe stellte. In Medienberichten hieß es, mehrere Abgeordnete hätten gefordert, einen Passus zu streichen, der eine Geld- oder Haftstrafe für den Fall vorsah, dass der Vorwurf des Verschwindenlassens "fälschlich" erhoben wurde. Ende 2022 war das Gesetz noch nicht in Kraft getreten, weil die Zustimmung des Senats noch ausstand. Außerdem war es der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich gemacht worden.

Nach Erkenntnissen von Amnesty International gab es in der Provinz Belutschistan besonders viele Fälle von Verschwindenlassen. Ihre Zahl stieg, nachdem am 25. April 2022 vor der Universität von Karatschi bei einem Selbstmordattentat, zu dem sich die bewaffnete Gruppe Balochistan Liberation Army bekannte, vier Menschen getötet worden waren. Belutschische Aktivist*innen erklärten in den Medien, der Staat nutze solche Anschläge als Vorwand, um gegen belutschische Frauen, Aktivist*innen und Demonstrierende vorzugehen. Medienberichten zufolge wurden innerhalb einer Woche zwei belutschische Aktivistinnen entführt. Am 7. Juni 2022 "verschwanden" die beiden Studenten Doda Ellahi und Ghamshad Baloch aus ihrer Wohnung in Karatschi. Nach viertägigen friedlichen Protesten gegen ihr Verschwinden kamen sie am 14. Juni wieder frei.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Die Behörden schränkten das Recht auf Versammlungsfreiheit stark ein, schikanierten und inhaftierten Kritiker*innen und Oppositionelle, lösten Proteste gewaltsam auf und griffen Journalist*innen und andere Personen an.

Nach der Absetzung von Premierminister Imran Khan starteten dessen Anhänger*innen landesweite Proteste, die zum Teil in Gewalt umschlugen. In Islamabad bewarfen Demonstrierende die Polizei mit Steinen, zündeten Bäume an und beschädigten Fahrzeuge. In einigen Fällen ging die Polizei mit exzessiver Gewalt gegen Proteste vor. Am 25. Mai 2022 feuerte sie in Lahore Tränengasgranaten auf friedlich Demonstrierende.

Auf friedliche Demonstrationen, die Familienangehörige Verschwundener und Aktivist*innen veranstalteten, reagierten die Sicherheitskräfte zumeist mit rechtswidriger Gewaltanwendung, Einschüchterung und willkürlichen Inhaftierungen. Am 13. Juni 2022 ging die Polizei mit rechtswidriger Gewalt gegen Demonstrierende vor, die sich in Karatschi vor dem Parlament der Provinz Sindh versammelt hatten. Ein Video des Vorfalls zeigt, wie uniformierte Polizeiangehörige, die teilweise mit Stöcken bewaffnet sind, auf sitzende Demonstrierende losgehen, diese gewaltsam packen, über den Boden schleifen und in Polizeifahrzeuge verfrachten.

Am 27. Juni 2022 kam es in Karatschi zu Protesten, weil inmitten des heißesten Sommers aller Zeiten Wasser- und Stromknappheit herrschte. Medienberichten zufolge setzte die Polizei Schlagstöcke und Tränengas ein, um Demonstrierende auseinanderzutreiben, die eine Straße zum Hafen blockierten.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Behörden verschärften die Kontrolle der Medien. Nach Angaben von Medienschaffenden nahmen Nötigungen, Zensur und Inhaftierungen von Journalist*innen im Jahr 2022 zu.

Am 13. April 2022 nahm die Bundespolizei in der Provinz Punjab acht Personen fest, denen sie vorwarf, in den Sozialen Medien eine Hetzkampagne gegen staatliche Einrichtungen organisiert zu haben.

Am 21. Mai 2022 nahm die Polizei die hochrangige PTI-Politikerin Shireen Mazari in der Nähe ihres Hauses in Islamabad fest. Nach offiziellen Angaben erfolgte die Festnahme im Zusammenhang mit einem Landstreit aus dem Jahr 1972, ihre Familie vermutete jedoch politische Gründe, weil Shireen Mazari Regierung und Militär kritisiert hatte. Das Hohe Gericht von Islamabad ordnete noch am selben Tag ihre Freilassung an. Gegen ihre Tochter, Imaan Hazir-Mazari, wurde ein Verfahren eingeleitet, weil sie sich nach der Festnahme ihrer Mutter "abfällig" über die Armee geäußert habe. Am 20. Juni wurde das Verfahren eingestellt, nachdem Imaan Hazir-Mazari erklärt hatte, sie bedauere ihre Äußerungen.

Am 1. Juli 2022 wurde Ayaz Amir, ein leitender Journalist des Nachrichtensenders Dunya News, von Unbekannten angegriffen. Er soll Tage zuvor in einem Seminar Imran Khan und das Militär kritisiert haben.

Am 5. Juli 2022 nahm die Polizei den Journalisten Imran Riaz Khan fest, dem sie wegen seiner Kritik am Militär Aufwiegelung zur Last legte. Seine Festnahme erfolgte auf Grundlage von Bestimmungen des Strafgesetzbuchs, die u. a. Verleumdung betrafen, sowie des drakonischen Gesetzes gegen Cyberkriminalität. Am 7. Juli ordnete ein Gericht seine Freilassung an, doch nahm ihn die Polizei sofort wieder fest. Am 9. Juli kam er gegen Kaution frei. Ende 2022 war er noch nicht vor Gericht gestellt worden.

Im Oktober 2022 wurde der Journalist Arshad Sharif in Kenia getötet. Der bekannte Anhänger von Imran Khan soll dorthin geflohen sein, nachdem er in Pakistan bedroht worden war. Die Regierung setzte eine zweiköpfige Untersuchungskommission ein, die im Dezember zu dem Schluss kam, es habe sich um einen "geplanten Mord" gehandelt.

Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit

Blasphemievorwürfe lösten weiterhin Gewalt sowohl gegen religiöse Minderheiten als auch gegen Muslim*innen aus. Im Januar 2022 wurde eine Frau wegen angeblich "blasphemischer" Nachrichten, die sie über Whatsapp verschickt hatte, zum Tode verurteilt. Im Februar lynchte ein Mob im Bezirk Khanewal einen Mann, dem vorgeworfen wurde, er habe Seiten aus dem Koran verbrannt. Im Oktober wurde in Ghotki ein junger Mann mit Behinderungen, der jahrelang in einem lokalen Schrein gelebt hatte, von einem Mann, der ihn der Blasphemie bezichtigte, in einem Teich ertränkt.

Im September 2022 fasste der Oberste Gerichtshof einen wegweisenden Beschluss, indem er "alle Beteiligten" zu "allerhöchster Sorgfalt" aufrief, "damit in der Rechtspflege kein Unrecht geschieht". Er erkannte damit an, dass bei Ermittlungen und Prozessen, die Blasphemie betrafen, häufig gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstoßen wurde.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Die Nationalversammlung hatte das Gesetz zur Bekämpfung häuslicher Gewalt (Domestic Violence [Prevention and Protection] Bill) noch nicht endgültig verabschiedet, obwohl der Senat es im Jahr 2021 angenommen hatte. Mehrere Fälle, die in den Medien große Beachtung fanden, machten das anhaltende Problem der Gewalt gegen Frauen deutlich.

Am 24. Februar 2022 wurde Zahir Jaffer wegen der Folterung, Vergewaltigung und Ermordung von Noor Mukadam im Jahr 2021 zum Tode verurteilt. Der Schuldspruch war insofern bedeutsam, als die allermeisten Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt straflos blieben. Allerdings war nach wie vor eine grundlegende Reform der entsprechenden Verfahren und Institutionen notwendig, um die fest verwurzelte Gewalt gegen Frauen – ohne Rückgriff auf die Todesstrafe –zu bekämpfen.

Rechte von transgeschlechtlichen Menschen

Trotz eines Gesetzes zum Schutz transgeschlechtlicher Personen aus dem Jahr 2018 waren die Betreffenden weiterhin Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt. Im September bat Senator Mushtaq Ahmad Khan von der islamischen Partei Jamat-e-Islami das Scharia-Gericht des Landes (Federal Shariat Court) um eine Prüfung des Gesetzes, weil es seiner Ansicht nach den islamischen Geboten der Verfassung widerspricht und "Homosexualität fördert". Der Rat für Islamische Weltanschauung (Council of Islamic Ideology) forderte die Regierung auf, einen Ausschuss einzusetzen, um das Gesetz zu überprüfen.

Trans Aktivist*innen berichteten über gezielte Kampagnen in den Sozialen Medien, in denen gegen sie gehetzt und zu Gewalt und Hass aufgerufen wurde. Sie erhielten Drohungen, mussten untertauchen und ihren Tagesablauf ständig ändern, um Angriffen zu entgehen. Nach Angaben des Trans Murder Monitoring Project wurden von Oktober 2021 bis September 2022 in Pakistan 18 trans Menschen getötet und damit so viele wie in keinem anderen asiatischen Land.

Folter und andere Misshandlungen

Im Oktober 2022 verabschiedete der Senat ein Gesetz über Folter und Tod in Gewahrsam (Torture and Custodial Death Act), das erstmals Folter durch einen "Staatsbediensteten oder eine in amtlicher Eigenschaft tätige Person" unter Strafe stellte.

Doch wurden Folter und andere Misshandlungen regelmäßig angewendet. Am 9. August 2022 wurde der hochrangige PTI-Politiker Shahbaz Gill in Islamabad festgenommen, nachdem er das Militär öffentlich kritisiert hatte. Er kam am 16. September gegen Kaution wieder frei. Shahbaz Gill und PTI-Vertreter*innen erhoben den Vorwurf, er sei in der Haft gefoltert worden, während medizinische Berichte und die Regierung dies bestritten.

Die Bundespolizei nahm Senator Azam Khan Swati im Oktober 2022 fest. Ihm wurde Aufwiegelung zur Last gelegt, nachdem er in Tweets den Militärchef kritisiert hatte. Er berichtete Reporter*innen, man habe ihn entkleidet und gefoltert, insbesondere im Genitalbereich. Er wurde gegen Kaution freigelassen, jedoch im November wegen derselben Tweets erneut festgenommen.

Diskriminierung

Frauen und Mädchen, die dem Hinduismus, dem Christentum oder dem Sikhismus anhingen, wurden weiterhin Opfer von Zwangskonvertierungen zum Islam, ohne sich rechtlich dagegen wehren zu können, insbesondere, wenn sie ärmeren Bevölkerungsgruppen angehörten.

Hinduistische Dalits (sogenannte Scheduled Castes) wurden beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, Einkommensmöglichkeiten und Aufstiegschancen stark benachteiligt. Viele blieben in Schuldknechtschaft gefangen und waren Vergewaltigung und anderen Formen von Gewalt ausgesetzt. Auch Angehörige der verfolgten muslimischen Ahmadiyya-Gemeinschaft berichteten, dass sie weiterhin diskriminiert wurden. Im Juli 2022 wurden fünf Ahmadis festgenommen, weil sie beim Opferfest (Eid-ul-Adha) ein rituelles Tieropfer dargebracht hatten, das nur "wahren" Muslimen erlaubt ist. Im Juli 2022 kündigte der Ministerpräsident von Punjab an, die Provinzregierung werde eine zusätzliche Bedingung für Brautpaare einführen, die eine Heiratsurkunde erhalten wollen; Braut und Bräutigam müssten schwören, dass Mohammed der "letzte" Prophet sei. Dies diskriminierte insbesondere Ahmadis, nach deren Lehre Mohammed der "größte", jedoch nicht der "letzte" Prophet ist.

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