Amnesty Report Nicaragua 28. März 2023

Nicaragua 2022

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Die Menschenrechtskrise in Nicaragua dauerte weiter an. Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen und andere Aktivist*innen wurden auch 2022 schikaniert und kriminalisiert. Personen, die im Kontext der Krise inhaftiert wurden, litten unter harten Haftbedingungen und erhielten oft kein faires Gerichtsverfahren. Die Rechte indigener Gemeinschaften waren weiterhin gefährdet.

Hintergrund

Im März 2022 richtete der UN-Menschenrechtsrat einen unabhängigen Rechenschaftsmechanismus zur Untersuchung der seit 2018 in Nicaragua begangenen Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Der Menschenrechtsrat zeigte sich besorgt, dass Nicaragua sich einer konstruktiven Zusammenarbeit mit internationalen Menschenrechtsmechanismen verweigerte.

Im Laufe des Jahres brach die Regierung ihre diplomatischen Beziehungen zu mehreren internationalen Akteuren ab. So wies Nicaragua im März 2022 den Apostolischen Nuntius aus und zog im April und Mai seine Diplomat*innen aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ab. Gleichzeitig wurden Mitarbeiter*innen der OAS in Nicaragua aufgefordert, das Land zu verlassen, und deren Büros in der Hauptstadt Managua von den Behörden beschlagnahmt. Im September wies die Regierung die Botschafterin der Europäischen Union aus.

Die Regierung hinderte die meisten politischen Parteien an der Teilnahme an den Kommunalwahlen im November 2022, indem sie ihnen den Rechtsstatus entzog. Nach den Wahlen unterdrückte die Polizei Proteste von Unterstützer*innen der indigenen politischen Partei YATAMA in der Küstenregion Región Autónoma de la Costa Caribe Norte und nahm mindestens 19 Personen willkürlich fest.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Regierung schränkte die Rechte auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit weiterhin in unzulässiger Weise ein und hinderte damit soziale und politische Bewegungen an der Durchführung ihrer legitimen Aktivitäten.

Politische Aktivist*innen und Personen, die als Gegner*innen der Regierungspolitik wahrgenommen wurden, waren verschiedenen Formen der Schikane ausgesetzt. Im August 2022 hinderte die Polizei den Bischof von Matagalpa daran, eine Messe in der Kathedrale abzuhalten, weil er sich gegen die repressive Politik der Regierung ausgesprochen hatte. Noch im selben Monat leitete die Regierung eine strafrechtliche Untersuchung gegen den Bischof ein. Er wurde unter Hausarrest gestellt, der auch am Jahresende noch andauerte.

Journalist*innen und Medienunternehmen wurden weiterhin in ihrer Arbeit behindert, und Angriffe und Schikanen gegen sie blieben straflos. Mindestens zwei Journalisten wurden in unfairen Verfahren zu Haftstrafen verurteilt und mindestens 15 Radio- und Fernsehsender auf Anordnung der Behörden im Laufe des Jahres geschlossen. Im August 2022 führte die Polizei eine Razzia in einer katholischen Kapelle in Sébaco durch, um dort die Ausrüstung eines Radiosenders zu beschlagnahmen, dessen Schließung angeordnet worden war.

Die Regierung verweigerte vermeintlichen Kritiker*innen, auch einigen mit nicaraguanischer Staatsbürgerschaft, die Einreise ins Land. Zu den Betroffenen zählten Künstler*innen, Menschenrechtler*innen, Wissenschaftler*innen und Priester.

Im Oktober 2022 forderten Expert*innen der Vereinten Nationen und der Interamerikanischen Menschenrechtskommission die Regierung nachdrücklich auf, von der willkürlichen Nutzung von Gesetzen und von missbräuchlichen Praktiken zur Einschränkung der Bürger*innenbeteiligung und der Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit abzusehen.

Unterdrückung Andersdenkender

Die Behörden entzogen im Laufe des Jahres 2022 mehr als 1.000 Organisationen die rechtliche Zulassung. Sie setzten damit einen Trend zur Einschränkung zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume fort, der 2018 begonnen und sich mit dem Gesetz über ausländische Agenten (Ley de Regulación de Agentes Extranjeros) im Jahr 2020 fortgesetzt hatte. Mit dem Allgemeinen Gesetz zur Regulierung und Kontrolle gemeinnütziger Organisationen (Ley General de Regulación y Control de Organismos sin Fines de Lucro) wurde er im Jahr 2022 noch verschärft.

Menschenrechtsverteidiger*innen und NGOs wurden weiterhin schikaniert und eingeschüchtert. Organisationen, denen seit 2018 der Rechtsstatus aberkannt worden war, konnten ihre Tätigkeiten nicht wieder aufnehmen, da ihnen sonst Repressalien drohten. Ihr beschlagnahmtes Vermögen wurde weiterhin einbehalten.

Menschenrechtsverteidiger*innen, die in Costa Rica und anderen Ländern der Region ins Exil gegangen waren, konnten nicht unter sicheren Bedingungen nach Nicaragua zurückkehren und setzten ihre Arbeit deshalb vom Ausland aus fort.

Bis zum Jahresende schloss die Regierung mindestens zwölf Universitäten. Die Schließungen waren offenbar Akte der Vergeltung für die politische Haltung von einigen Mitarbeitenden und Studierenden.

Straflosigkeit

In der Vergangenheit begangene völkerrechtliche Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Inhaftierung, Verschwindenlassen, Folter und andere Misshandlungen blieben weiterhin ungeahndet.

Rechte von Inhaftierten

Ende 2022 befanden sich noch 225 Personen im Gefängnis, die seit 2018 in Verbindung mit der Menschenrechtskrise festgenommen worden waren.

Inhaftierte wurden unter Bedingungen festgehalten, die gegen das humanitäre Völkerrecht und internationale Menschenrechtsstandards verstießen. NGOs und Familienangehörige von Häftlingen äußerten sich besorgt darüber, dass Häftlinge über lange Zeiträume hinweg ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert waren und ihnen medizinische Versorgung und Familienbesuche verweigert wurden. Sie prangerten auch die Verletzung weiterer Rechte von Inhaftierten an. Frauen waren in Gewahrsam mit geschlechtsspezifischen Rechtsverletzungen konfrontiert, u. a. sexualisierten Beleidigungen, lang andauernder Einzelhaft und zusätzlichen Einschränkungen in Bezug auf Besuche ihrer kleinen Kinder. Einige Gefangene wurden in Polizeieinrichtungen statt in offiziellen Haftanstalten festgehalten.

Im Februar 2022 starb der bekannte Oppositionspolitiker Hugo Torres Jiménez, der im Jahr 2021 inhaftiert worden war, in staatlichem Gewahrsam. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte äußerte sich besorgt über diesen Fall sowie über den Gesundheitszustand anderer Personen, die auf der Polizeistation Evaristo Vásquez in Managua inhaftiert waren oder in der Vergangenheit dort festgehalten wurden.

Recht auf ein faires Gerichtsverfahren

Das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren wurde von den Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden regelmäßig verletzt.

Im Februar 2022 kündigte die Generalstaatsanwaltschaft den Beginn der Prozesse gegen inhaftierte Dissident*innen und Regierungskritiker*innen an. Die Behörden verstießen gegen das Recht der Angeklagten, sich zusammen mit ihren Rechtsbeiständen ohne Zeitdruck und unter Achtung ihres Rechts auf Privatsphäre auf ihre Verteidigung vorzubereiten. Die Rechtsbeistände erhielten auch nicht die Möglichkeit, vor den Anhörungen die Gerichtsakten einzusehen.

Mindestens 50 Personen, die seit 2018 im Zusammenhang mit den politischen Unruhen inhaftiert worden waren, wurden im Laufe des Jahres vor Gericht gestellt. Viele wurden wegen angeblicher politischer und korruptionsbezogener Straftaten zu Gefängnisstrafen von bis zu 13 Jahren verurteilt. Einige Fälle wurden nicht vor einem Gericht, sondern in einer Justizvollzugsanstalt verhandelt. Beobachter*innen waren weiterhin von den hinter verschlossenen Türen stattfindenden Verfahren ausgeschlossen.

Rechte indigener Gemeinschaften

Indigene Gemeinschaften und Afro-Nicaraguaner*innen wurden weiterhin diskriminiert und an der Wahrnehmung ihrer Rechte gehindert.

Im Februar 2022 verlängerte die Interamerikanische Menschenrechtskommission die gewährten Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit der Einwohner*innen der Gemeinden Musawas, Wilú und Suniwas, die zur indigenen Gemeinschaft der Mayangna gehören. Sie waren aufgrund anhaltender Schwierigkeiten bei der Regelung der Besitzverhältnisse ihrer Territorien Risiken ausgesetzt.

Im April 2022 wurden mindestens 25 Miskito-Familien von bewaffneten Personen, die sich ihr Land aneignen wollten, bedroht und aus ihren Siedlungen im Weiler Sang Sang in der Küstenregion Región Autónoma de la Costa Caribe Norte vertrieben.

Im August 2022 äußerte der UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung Besorgnis angesichts der Gewalt gegen indigene und afro-nicaraguanische Gemeinschaften und forderte die Behörden auf, deren Rechte wirksam zu schützen.

Weitere Artikel