Amnesty Report Nicaragua 29. März 2022

Nicaragua 2021

Nahaufnahme gefalteter Hände in Fesseln

Berichtszeitraum: 01. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021

Die Menschenrechtskrise in Nicaragua dauerte an. Journalist_innen, Menschenrechtsverteidiger_innen und Beschäftigte im Gesundheitswesen agierten weiterhin in einem feindlichen Umfeld. Politische Aktivist_innen, Menschenrechtsverteidiger_innen und Journalist_innen wurden häufig willkürlich inhaftiert. Indigene Gemeinschaften litten weiterhin unter Gewalt. Die Regierung stellte keine exakten Informationen über die Coronapandemie zur Verfügung.

Hintergrund

Nach den Wahlen im November 2021, die die internationale Gemeinschaft wegen der starken Einschränkungen der bürgerlichen und politischen Rechte weitgehend als Farce verurteilt hatte, wurde Daniel Ortega zum Wahlsieger erklärt und trat seine vierte Amtszeit in Folge als Präsident an. Im November verkündete die Regierung den Austritt Nicaraguas aus der Organisation Amerikanischer Staaten.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im Mai 2021 leiteten die Behörden gegen Cristiana Chamorro Barrios, Direktorin der Stiftung Violeta Barrios de Chamorro, ein Ermittlungsverfahren wegen mutmaßlicher Geldwäsche ein. Die Stiftung setzt sich in Nicaragua für die Pressefreiheit ein. Im Juni 2021 wurde Cristiana Chamorro Barrios, die auch Präsidentschaftskandidatin war, festgenommen. Sie befand sich Ende 2021 noch immer in Haft.

Gleichfalls im Mai fand eine Razzia in den Büros des Online-Magazins Confidencial und des zugehörigen Fernsehprogramms Esta Semana statt. Der Direktor Carlos Fernando Chamorro Barrios sah sich gezwungen, ins Exil zu gehen. Im Juni wurden die beiden Journalisten Miguel Mora und Miguel Mendoza inhaftiert; sie befanden sich Ende des Jahres noch in Gewahrsam.

Bis August 2021 lud die Staatsanwaltschaft mehr als 25 Medienschaffende, die mit der Stiftung Violeta Barrios de Chamorro zusammengearbeitet hatten, zur Vernehmung vor. Mehrere Journalist_innen berichteten, dass ihnen während der Befragungen Strafanzeigen angedroht wurden, u. a. auf Grundlage des Sondergesetzes über Cyberkriminalität (Ley Especial de Ciberdelitos).

Im August 2021 fand bei der Zeitung La Prensa eine Razzia statt, bei der ihr Besitz beschlagnahmt wurde. Der Geschäftsführer wurde unter dem Vorwurf der Geldwäsche festgenommen. Die NGO Reporter ohne Grenzen forderte seine sofortige Freilassung, doch war er Ende des Jahres noch immer in Haft.

Im Laufe des Jahres sah sich eine Reihe von Journalist_innen aufgrund des feindseligen Umfelds und der ständigen Angriffe durch die Behörden zur Flucht aus dem Land gezwungen.

Menschenrechtsverteidiger_innen

Menschenrechtsverteidiger_innen und NGOs arbeiteten weiterhin in einem äußerst feindseligen Umfeld.

Im Laufe des Jahres wurde die gesetzliche Registrierung von mindestens 45 NGOs aufgehoben. Andere NGOs, denen seit 2018 von der Nationalversammlung die Registrierung entzogen worden war, wurden nicht wieder zugelassen, und ihre beschlagnahmten Vermögenswerte wurden weiterhin einbehalten.

Menschenrechtler_innen wurden kriminalisiert und willkürlich inhaftiert; einige von ihnen befanden sich Ende des Jahres noch immer in Haft. Menschenrechtsverteidigerinnen berichteten über Schikane durch die Polizei sowie Kriminalisierung, Verleumdungskampagnen und Drohungen.

Mindestens zwei Menschenrechtler_innen wurden nach dem Sondergesetz über Cyberkriminalität angeklagt, andere waren Berichten zufolge Schikanen, Überwachung und Drohungen ausgesetzt.

Willkürliche Inhaftierungen

Willkürliche Inhaftierungen waren nach wie vor Teil der staatlichen Repressionsstrategie. Im Dezember 2021 berichteten lokale Organisationen, dass 160 Personen weiterhin nur deshalb in Haft waren, weil sie seit Ausbruch der Proteste im Jahr 2018 ihre Rechte wahrgenommen hatten. Angehörige der Inhaftierten, die diese nur unregelmäßig besuchen durften, berichteten von prekären Haftbedingungen, Misshandlungen und Haft ohne Kontakt zur Außenwelt. Laut Angaben von Frauenrechtsorganisationen waren einige der im Laufe des Jahres inhaftierten Frauen unter Anwendung von Gewalt, manchmal vor den Augen ihrer Kinder, festgenommen worden und befanden sich unter äußerst schlechten Bedingungen weiterhin in Haft. Einige Angehörige von Inhaftierten berichteten, dass sie u. a. durch Strafverfolgung und Ausreiseverbote schikaniert würden.

Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte erließ vorläufige Schutzmaßnahmen zugunsten einer Reihe von Häftlingen und ordnete ihre Freilassung an, doch kamen die Behörden den Anordnungen des Gerichtshofs nicht nach.

Die Behörden nahmen willkürlich Oppositionspolitiker_innen und Präsidentschaftskandidat_innen fest, ließen sie verschwinden oder verfolgten sie strafrechtlich. Im Vorfeld und während der Wahlen erhielt die Interamerikanische Menschenrechtskommission Informationen darüber, dass Oppositionssprecher_innen, Menschenrechtsverteidiger_innen, Mitglieder zivilgesellschaftlicher Organisationen und Journalist_innen zunehmend von der Polizei drangsaliert, bedroht oder willkürlich festgenommen wurden.

Verschwindenlassen

Von Ende Mai bis November 2021 nahmen die Behörden mindestens 39 Personen fest, die sie als Regierungsgegner_innen betrachteten, darunter sieben Präsidentschaftskandidat_innen. Einige von ihnen wurden Opfer des Verschwindenlassens, und ihr Schicksal und Verbleib blieben wochen- oder monatelang unbekannt.

Rechte indigener Gemeinschaften

Lokale NGOs und indigene Gemeinschaften berichteten, dass sich auf ihrem angestammten Land nichtindigene Siedler_innen aufhalten und Angriffe verüben würden. Einige dieser Angriffe hatten den Tod indigener Menschen zur Folge.

Im August 2021 wurden bei einem Angriff nichtindigener Siedler_innen auf eine indigene Gemeinschaft im Territorium Mayangna Sauni As mindestens neun indigene Menschen getötet.

Im September 2021 erklärte die Interamerikanische Menschenrechtskommission, dass ihr mehrere detaillierte Berichte vorlägen, denen zufolge die an der nördlichen Karibikküste lebenden indigenen Gemeinschaften weiterhin Opfer von Entführungen, Tötungen, sexuellen Übergriffen, Drohungen und Brandanschlägen auf ihre Häuser geworden seien.

Im Oktober 2021 äußerte sich der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte besorgt über Berichte, denen zufolge die Behörden die Bildung von Parallelregierungen in indigenen Territorien gefördert hatten, um die frei gewählten Vertreter_innen der indigenen Gemeinschaften zu ersetzen.

Recht auf Gesundheit

Im Februar 2021 äußerte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte Besorgnis, weil weder aufgeschlüsselte Daten zu den Corona-Infektionen in indigenen und afro-nicaraguanischen Gemeinschaften noch Informationen über spezifische Maßnahmen zu deren Schutz vorlagen.

Im August meldete die Panamerikanische Gesundheitsorganisation, dass sie den Stand der Pandemie in Nicaragua nicht einschätzen könne, da ihr keine offiziellen Informationen vorlägen.

Nicaragua räumte dem Gesundheitspersonal zu Beginn seines Corona-Impfprogramms unter Missachtung der internationalen Richtlinien der WHO keine Priorität ein. In einigen Medienberichten hieß es, dass Anhänger_innen der Regierung ungeachtet ihres Coronarisikos vorrangig geimpft worden seien.

Schikanen und Drohungen gegen Beschäftigte im Gesundheitswesen, die die Regierungspolitik kritisierten oder die Öffentlichkeit über die Pandemie informierten, hielten an. Im Juli beschimpfte die Vizepräsidentin Rosario Murillo sie öffentlich als "falsche Ärzt_innen". Einige von ihnen sahen sich gezwungen, zu ihrer eigenen Sicherheit aus dem Land zu fliehen.

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