Amnesty Report Marokko 29. März 2022

Marokko / Westsahara 2021

Eine Frau steht zwischen zahlreichen uniformierten Polizisten mit Schildern und klatscht.

Berichtszeitraum: 01. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021

Die Behörden griffen weiterhin auf den im Jahr 2020 per Dekret ausgerufenen Gesundheitsnotstand zurück, um die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit willkürlich einzuschränken. Davon waren u. a. Journalist_innen, Aktivist_innen und Arbeitnehmer_innen betroffen. Die Behörden verletzten nach wie vor die Rechte von Befürworter_innen der Unabhängigkeit der Westsahara durch willkürliche Hausarreste, Misshandlungen und Schikanen. Die Regierung führte einen Corona-Impfpass ein, der für den Zugang zum Arbeitsplatz, zu öffentlichen und privaten Einrichtungen und Restaurants sowie für Reisen innerhalb und außerhalb Marokkos erforderlich ist. In mehreren Städten fanden Proteste gegen diesen Impfpass statt, die mindestens einmal gewaltsam niedergeschlagen wurden.

Die Frauenrechtsorganisation Feminist Action Union verzeichnete Monat für Monat einen Anstieg der Fälle von häuslicher Gewalt in fast allen Städten Marokkos. Das Parlament verabschiedete ein neues Gesetz, das eine Geschlechtsangleichung für "Hermaphroditen" erlaubt, von LGBTI-Gemeinschaften jedoch wegen seiner vagen Formulierungen und des Fehlens von Bestimmungen zu transgeschlechtlichen Menschen kritisiert wurde. Migrant_innen und Asylsuchende wurden willkürlich inhaftiert. In Gebieten nahe Grenzübergängen führten die Behörden Razzien in den Unterkünften von Menschen aus Ländern südlich der Sahara durch, verbrannten mitunter ihr Hab und Gut oder vertrieben sie gewaltsam.

Hintergrund

Zu den Regierungsmaßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft im zweiten Jahr der Pandemie gehörte die Entschädigung derjenigen Beschäftigten, die nicht arbeiten konnten. Diese Regelung galt jedoch nur für Arbeitnehmer_innen in formellen Arbeitsverhältnissen.

Im Oktober 2021 verlängerten die Vereinten Nationen das Mandat der UN-Mission für das Referendum in Westsahara (MINURSO). Das Mandat enthielt jedoch nach wie vor keine Bestimmungen zur Überwachung der Menschenrechtslage. Menschenrechtsorganisationen hatten weiterhin keinen Zugang zum Gebiet der Westsahara und zu den Lagern der Bewegung Frente Polisario.

Am 21. Oktober 2021 gab die Regierung bekannt, dass für den Zugang zum Arbeitsplatz, zu Restaurants und für alle Reisen inner- und außerhalb Marokkos ein Impfnachweis gegen Covid-19 erforderlich sei. Die Gewerkschaft der Café- und Restaurantbesitzer_innen, die Gewerkschaft der Rechtsbeistände und einige Bürgerrechtsorganisationen kritisierten diesen Schritt und erklärten, ein solcher Impfpass sei verfassungswidrig, willkürlich und stelle eine Gefahr für die Wirtschaft dar. Am 31. Oktober fanden in ganz Marokko Proteste gegen das Vorhaben statt.

Zwischen Januar und Dezember 2021 begnadigte der König 4.127 Gefangene.

Im September brach Algerien die diplomatischen Beziehungen zu Marokko ab.

Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit

Menschenrechtsverteidiger_innen, Journalist_innen, Nutzer_innen Sozialer Medien, Akademiker_innen und Aktivist_innen waren bei der legitimen Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung weiterhin mit Repressionen konfrontiert. Mindestens sieben Personen wurden wegen der Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung festgenommen und/oder strafrechtlich verfolgt. Am 23. März 2021 wurde der Wissenschaftler und Menschenrechtsverteidiger Maati Monjib vorläufig aus dem Gefängnis El Arajat nahe der Hauptstadt Rabat entlassen. Im Oktober wurde er aufgrund eines willkürlichen Reiseverbots, das im Oktober 2020 gegen ihn verhängt worden war, daran gehindert, für einen Arzttermin und Familienbesuch nach Frankreich zu reisen.

Im Juli 2021 wurde Omar Radi, ein unabhängiger Journalist, der den Behörden häufig kritisch gegenüberstand, nach einem Prozess, der nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entsprach, wegen Spionage und Vergewaltigung zu sechs Jahren Haft verurteilt. Unter anderem wurde ihm das Recht verweigert, alle gegen ihn verwendeten Beweise einzusehen und anfechten zu können.

Im September 2021 verurteilte das Erstinstanzliche Gericht in Marrakesch Jamila Saadane zu einer dreimonatigen Haftstrafe, weil sie Videos auf Youtube veröffentlicht hatte, in denen sie die marokkanischen Behörden beschuldigte, Prostitutionsnetzwerke und Menschenhandel in Marrakesch zu vertuschen. Sie wurde wegen "Diffamierung von Institutionen" und "Verbreitung von Falschinformationen" schuldig gesprochen.

Die marokkanischen Behörden verletzten das ganze Jahr über die Rechte von sahrauischen Aktivist_innen, die sich für die Unabhängigkeit der Westsahara einsetzen, durch Misshandlungen, Festnahmen und Schikanen. Im Mai 2021 nahmen die Behörden Essabi Yahdih, einen sahrauischen Journalisten und Direktor des Online-Nachrichtenportals Algargarat Media, an seinem Arbeitsplatz in der Westsahara fest. Sie verhörten ihn über seine journalistische Arbeit und beschuldigten ihn, Militärkasernen in Dakhla, einer Stadt in der Westsahara, gefilmt zu haben. Am 29. Juli wurde er zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt. Im Gefängnis von Dakhla wurde ihm die ärztliche Behandlung seines bereits zuvor bestehenden Hör- und Sehproblems verweigert.

Recht auf Privatsphäre

Im Juli 2021 deckte Amnesty International gemeinsam mit der NGO Forbidden Stories im Rahmen eines gemeinsames Recherche-Projekts von mehr als 80 Medienschaffenden in zehn Ländern auf, dass die Spionagesoftware Pegasus der israelischen Firma NSO Group in großem Umfang von den marokkanischen Behörden eingesetzt wurde. Journalist_innen, Aktivist_innen und politische Persönlichkeiten französischer und marokkanischer Herkunft wurden mit der Spionagesoftware überwacht. Die Endgeräte von Hicham Mansouri, einem marokkanischen Journalisten, der in Frankreich im Exil lebt, von Claude Mangin, dem Lebensgefährten der sahrauischen Aktivistin Naama Asfari, die in Marokko inhaftiert ist, und von Mahjoub Maliha, einem sahrauischen Menschenrechtsverteidiger, wurden mit der Pegasus-Software infiziert, was eine Verletzung ihrer Rechte auf Privatsphäre und Meinungsfreiheit darstellt.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Bei mindestens vier Gelegenheiten unterdrückten die Behörden friedliche Proteste, auf denen bessere Arbeitsbedingungen gefordert wurden, und nutzten das Gesetz über den Gesundheitsnotstand, um Beschwerden von Arbeitnehmer_innen zu unterbinden.

Im April 2021 nahm die Polizei willkürlich 33 Lehrer_innen fest, die in Rabat friedlich gegen die Bildungspolitik protestierten, die sie als schädlich für das öffentliche Bildungssystem ansahen. Die Demonstrierenden wurden gewaltsam auseinandergetrieben, obwohl sie Coronamaßnahmen wie etwa die Abstandsregeln einhielten. Die Lehrer_innen wurden nach 48 Stunden vorläufig freigelassen, müssen sich aber weiterhin wegen "Anstiftung zu einer unbewaffneten Versammlung ohne Genehmigung", "Verstoßes gegen den Gesundheitsnotstand" und "Beleidigung von Staatsbediensteten" verantworten. Der Prozess gegen die Lehrer_innen dauerte Ende 2021 noch an.

Im Juli 2021 wurde Noureddine Aouaj, ein Aktivist und Menschenrechtsverteidiger, zu zwei Jahren Haft verurteilt. Er war im Juni festgenommen worden, nachdem er an einer friedlichen Kundgebung zur Unterstützung der inhaftierten Journalisten Omar Radi und Suleiman Raissouni teilgenommen hatte. Er wurde wegen "Diffamierung der verfassungsmäßigen Institutionen, Grundsätze und Symbole des Königreichs", des "Anprangerns frei erfundener Verbrechen" und "Untergrabung der Justiz" angeklagt.

Folter und andere Misshandlungen

Einige Gefangene wurden unter harten Bedingungen festgehalten, einschließlich lang anhaltender und unbegrenzter Einzelhaft, was einen Verstoß gegen das Verbot von Folter und anderen Misshandlungen darstellt.

Suleiman Raissouni, Journalist und Herausgeber der Zeitung Akhbar al Yaoum, befand sich nach wie vor in Einzelhaft, nachdem er bereits im Mai 2020 inhaftiert wurde. Am 8. April 2021 trat er in einen 118-tägigen Hungerstreik, um gegen seine Isolation zu protestieren.

Auch der Aktivist Mohamed Lamine Haddi befand sich weiterhin in Einzelhaft, nachdem er im Juli 2017 nach einem unfairen Massenverfahren zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war. Das Verfahren stand im Zusammenhang mit Zusammenstößen in Gdeim Izik (Westsahara) im Jahr 2010. Im Januar 2021 trat er in den Hungerstreik, um gegen seine Misshandlungen in der Haft zu protestieren. Im März 2021 beendeten Vollzugsbedienstete den Hungerstreik, indem sie ihn zwangsernährten, was nach internationalem Recht als Folter gilt.

Angehörige der Sicherheitskräfte durchsuchten das Haus der sahrauischen Aktivistin Sultana Khaya in Boujdour im Jahr 2021 mindestens dreimal. Sie berichtete, dass Sicherheitskräfte sie bei einer Razzia im Mai mit Schlagstöcken geschlagen hätten und versucht hätten, sie zu vergewaltigen, und dass ihre Schwester tätlich angegriffen und vergewaltigt worden sei. Am 15. November brachen Angehörige der Sicherheitskräfte in ihr Haus ein, vergewaltigten sie und missbrauchten ihre beiden Schwestern und ihre 80-jährige Mutter sexuell.

Recht auf Gesundheit

Im Mai 2021 führte das Unabhängige Syndikat der Ärzt_innen des öffentlichen Sektors (Syndicate of Public Sector Doctors) einen 48-stündigen landesweiten Streik durch, von dem die Notdienste ausgenommen waren. Die Ärzt_innen protestierten gegen die Untätigkeit der Behörden, die ihre langjährigen Forderungen nach mehr Gehalt, besseren Arbeitsbedingungen und einer besseren Ausstattung der öffentlichen Krankenhäuser nicht erfüllt hatten.

Ende des Jahres waren in Marokko rund 67 Prozent der Bevölkerung vollständig gegen das Coronavirus geimpft.

Rechte von Frauen und Mädchen

Im Jahr 2020 wurde ein nationaler Pandemiefonds eingerichtet, um diejenigen zu entschädigen, die gezwungen waren, ihre Arbeit aufzugeben. Die marokkanische NGO Feminist Action Union stellte jedoch fest, dass Frauen weniger als Männer in der Lage waren, von dieser Regelung zu profitieren, da sie sich seltener in formellen Arbeitsverhältnissen befanden.

Die Umsetzung des Gesetzes 103-13 zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen aus dem Jahr 2018 erfolgte weiterhin schleppend. Entgegen den Behauptungen der Staatsanwaltschaft, dass die Fälle von häuslicher Gewalt im Vergleich zu den Vorjahren um zehn Prozent zurückgegangen seien, verzeichnete die Feminist Action Union von Januar bis April 2021 in fast allen Städten Marokkos einen stetigen Anstieg der Fälle von häuslicher Gewalt.

Im Mai 2021 gab der Justizminister bekannt, dass die Zahl der Kinderehen seit 2019 zurückgegangen sei. UN Women bestritt dies mit der Begründung, dass die Zahlen keine Informationen über traditionelle Eheschließungen nach islamischem Recht – die nicht bei den Behörden angemeldet werden – enthielten. Außerdem würden sie die Auswirkungen der Coronapandemie auf die Bewegungsfreiheit und den Zugang zu öffentlichen Verwaltungseinrichtungen nicht berücksichtigen. Paragraf 19 des Familiengesetzes legt das Heiratsalter auf 18 Jahre fest; die Paragrafen 20 und 21 geben jedoch den für Familienangelegenheiten zuständigen Richter_innen die Befugnis, Anträge auf Kinderehen zu genehmigen.

Im Januar 2021 zog die ehemalige Polizistin Wahiba Kharchich in die USA um, nachdem ihr durch die Veröffentlichung eines Videos durch das Medienunternehmen ChoufTV im Dezember 2020 unterstellt wurde, eine außereheliche Affäre gehabt zu haben. Sie hatte 2016 eine Beschwerde über sexuelle Belästigung durch ihren Chef Aziz Boumehdi, den Leiter der Polizeieinheit von El Jadida, eingereicht, die jedoch nie weiterverfolgt wurde.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Paragraf 489 des Strafgesetzbuchs stellte einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen weiterhin unter Strafe.

Im Juli verabschiedete das Parlament Paragraf 28 des Personenstandsgesetzes 36.21, der besagt, dass das zugewiesene Geschlecht von "hermaphroditischen" Neugeborenen in ihrem späteren Leben geändert werden kann. Die Gesetzesänderung wurde als Fortschritt für die LGBTI-Rechte in Marokko bezeichnet, doch die trans Organisationen kritisierten sie und erklärten, dass sie nicht konsultiert worden seien und viele den Begriff "Hermaphrodit" als beleidigend empfänden. Darüber hinaus ordnet das Gesetz intergeschlechtliche Menschen weiterhin entweder dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht zu und konzentriert sich auf das Aussehen der Genitalien, ohne Chromosomen oder Hormone einzubeziehen. Keine Berücksichtigung findet in dem Gesetz das Recht von trans Personen auf eine Geschlechtsangleichung – trans Personen werden in den Bestimmungen nach wie vor nicht erwähnt.

Im Februar 2021 wurde der Künstler Abdelatif Nhaila, der sich als nicht geschlechtskonform (gender non-conforming) bezeichnet, nach Verbüßung einer 2020 gegen ihn verhängten viermonatigen Haftstrafe freigelassen. Abdelatif Nhaila hatte eine Polizeistation aufgesucht, um Todesdrohungen und homofeindliche Drangsalierungen anzuzeigen, mit denen er seit April 2020 aufgrund einer Hetzkampagne in den Sozialen Medien konfrontiert war. Er wurde festgenommen und wegen "Verstoßes gegen den Gesundheitsnotstand" und "Beamtenbeleidigung" angeklagt und verurteilt.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen

Die Behörden nahmen im Laufe des Jahres Migrant_innen und Asylsuchende fest und inhaftierten sie willkürlich, schoben einige in ihr Herkunftsland ab und wiesen andere in Gebiete im Süden Marokkos und in die Westsahara aus. In der Nähe der Grenzübergänge und auf den Migrationsrouten nach Europa, u. a. in Nador, Oujda und El Aaiún, führten die Behörden Razzien in den Unterkünften und Lagern von Menschen aus Ländern südlich der Sahara durch, verbrannten mitunter ihr Hab und Gut oder vertrieben sie gewaltsam aus ihren Behelfsunterkünften, berichtete die marokkanische Menschenrechtsorganisation Association Marocaine des Droits Humains.

Die meisten der mindestens 8.000 Menschen, die Ende Mai 2021 von Marokko in die spanische Enklave Ceuta kamen (siehe Länderbericht Spanien) waren Marokkaner_innen sowie Flüchtlinge und Migrant_innen aus Ländern südlich der Sahara, des Nahen Ostens und Nordafrikas. Unter ihnen befanden sich mindestens 2.000 unbegleitete Kinder. Zwischen April und Mai 2021 starben mindestens drei unbekannte Migranten und neun marokkanische Männer bei dem Versuch, die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla von marokkanischem Staatsgebiet aus zu erreichen.

Marokko arbeitete weiterhin mit der EU zusammen, um Migrant_innen daran zu hindern, ohne offizielle Erlaubnis von Marokko nach Europa weiterzureisen. Im Juni 2021 wurden 15 sudanesische und tschadische Asylsuchende, darunter zwei Minderjährige, zu je sechs Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie versucht hatten, von Marokko aus nach Melilla einzureisen.

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