Amnesty Report Libyen 29. März 2022

Libyen 2021

Das Bild zeigt viele Männer die mit gekreuzten Armen am Boden knien

Migranten protestieren in einem Lager in der libyschen Region Gharian gegen ihre Inhaftierung und fordern ihre Evakuierung nach Europa (Archivaufnahme 2018).

Milizen, bewaffnete Gruppen und staatliche Sicherheitskräfte hielten weiterhin Tausende Menschen willkürlich fest, einige seit mehr als einem Jahrzehnt, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung anzufechten. Zahlreiche Journalist_innen, Politiker_innen, Regierungsangestellte und zivilgesellschaftliche Aktivist_innen wurden aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten politischen Überzeugung, ihrer Herkunft, ihrer Stammeszugehörigkeit und/oder wegen ihres Engagements im Zusammenhang mit den geplanten Wahlen Opfer von Entführung, Verschwindenlassen, Folter oder anderweitiger Misshandlung. Milizen und bewaffnete Gruppen töteten und verletzten Zivilpersonen und zerstörten bei sporadischen, örtlich begrenzten Zusammenstößen ziviles Eigentum.

Durch Anschläge bewaffneter Gruppen auf die Wasserinfrastruktur wurde der Zugang zu sauberem Wasser für Millionen Menschen untergraben. Die Behörden finanzierten weiterhin bewaffnete Gruppen und Milizen, die für Kriegsverbrechen und schwere Menschenrechtsverstöße verantwortlich waren, und integrierten sie in staatliche Einrichtungen. Vonseiten der Behörden gab es keinerlei Bemühungen, Frauen, Mädchen und LGBTI+ vor sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen oder gegen ihre Diskriminierung vorzugehen.

Ethnische Minderheiten und Binnenvertriebene trafen auf Hindernisse beim Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Milizen und Sicherheitskräfte setzten rechtswidrige tödliche Gewalt und andere Gewalt ein, um Tausende Migrant_innen und Flüchtlinge willkürlich festzunehmen, während die von der EU unterstützte libysche Küstenwache Tausende von ihnen auf See abfing und sie gegen ihren Willen in libysche Haft zurückbrachte. Inhaftierte Migrant_innen und Flüchtlinge waren Folter, rechtswidrigen Tötungen, sexualisierter Gewalt und Zwangsarbeit ausgesetzt. Militärgerichte verurteilten zahlreiche Zivilpersonen in grob unfairen Prozessen.

Hintergrund

Der von den Vereinten Nationen ausgehandelte Friedensprozess führte im März 2021 zur Vereidigung der Regierung der Nationalen Einheit, welche die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorbereiten sollte. Die politischen Spaltungen blieben bestehen, und die selbst ernannten Libysch-Arabischen Streitkräfte (Libyan Arab Armed Forces – LAAF), eine bewaffnete Gruppe, behielten die Kontrolle über weite Teile des Ostens und Südens Libyens.

Am 22. Dezember 2021 wurden die für den 24. Dezember angesetzten Präsidentschaftswahlen verschoben, da die Behörden keine offizielle Liste zugelassener Kandidat_innen vorlegten. Es gab weiterhin Meinungsverschiedenheiten darüber, wer sich zur Wahl stellen durfte, sowie über die verfassungsmäßige und rechtliche Grundlage für die Wahlen. Mehrere Wahlbezirke bezeichneten die vom Parlamentssprecher verkündeten Wahlgesetze als ungültig, da es keine parlamentarische Abstimmung gegeben habe, Verfahrensfehler vorlägen und gegen den von den Vereinten Nationen unterstützten Friedensfahrplan verstoßen worden sei. Anfang Dezember übernahm kurzzeitig der stellvertretende Premierminister Ramadan Abu Janah die Rolle des Regierungschefs, nachdem der amtierende Premierminister Abdel Hamid al-Dbeibah angekündigt hatte, für das Präsidentschaftsamt kandidieren zu wollen.

Trotz einer im August 2021 von Angehörigen der Regierung der Nationalen Einheit und der LAAF getroffenen Vereinbarung über den schrittweisen Abzug ausländischer Kämpfer_innen blieben Tausende von ihnen im Land.

Die libysche Wirtschaft zeigte Anzeichen einer Erholung, was zum Teil auf die Wiederaufnahme der Ölproduktion zurückzuführen war. Das Versäumnis, einen Staatshaushalt zu verabschieden und die beiden Zentralbanken zu konsolidieren, schränkte jedoch die sozioökonomischen Rechte der Bevölkerung ein und führte zu wiederholten Verzögerungen bei der Auszahlung der Löhne für die Beschäftigten des öffentlichen Sektors.

Im Oktober 2021 verlängerte der UN-Menschenrechtsrat das Mandat der Erkundungsmission, die in Libyen völkerrechtliche Verbrechen untersucht, welche seit 2016 begangen worden waren.

Willkürliche Inhaftierung und rechtswidriger Freiheitsentzug

Die Regierung der Nationalen Einheit und die LAAF kündigten 2021 die Freilassung zahlreicher Gefangener an, unter ihnen al-Saadi al-Gaddafi, Sohn des ehemaligen Machthabers Muammar al-Gaddafi. Allerdings hielten Milizen, bewaffnete Gruppen und Sicherheitskräfte weiterhin Tausende Menschen willkürlich fest. Einige von ihnen befanden sich bereits seit über zehn Jahren ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Haft.

Das ganze Jahr über wurden Menschen wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Einstellung bzw. Stammeszugehörigkeit oder aufgrund ihres Engagements im Zusammenhang mit den Wahlen festgenommen. Einige Personen wurden Opfer des Verschwindenlassens oder wurden bis zu sieben Monate lang ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten.

Im März 2021 entführten Angehörige der Internal Security Agency – ein der LAAF nahestehendes Kollektiv bewaffneter Gruppen – Haneen al-Abduli auf offener Straße in Bengasi und hielten sie bis zum 28. Juni im al-Kouwifyia-Gefängnis fest. Haneen al-Abduli hatte öffentlich Rechenschaftspflicht für den Tod ihrer Mutter, der Anwältin Hanan al-Barassi, eingefordert, die 2020 erschossen worden war.

Militärgerichte in den von der LAAF kontrollierten Gebieten verurteilten zahlreiche Zivilpersonen nach grob unfairen Prozessen. Die Rechte auf eine angemessene Verteidigung, ein begründetes Urteil und eine ernsthafte Überprüfung wurden routinemäßig missachtet.

Im September ließ die LAAF den Journalisten Ismail al-Zway frei, der aufgrund seiner Medienarbeit eine von einem Militärgericht verhängte 15-jährige Haftstrafe verbüßte.

Folter und andere Misshandlungen

Milizen und bewaffnete Gruppen folterten und misshandelten Gefangene in offiziellen und inoffiziellen Haftanstalten systematisch und ungestraft. Zu den Folterpraktiken, denen Häftlinge ausgesetzt waren, zählten Schläge, Elektroschocks, Scheinhinrichtungen, Auspeitschungen, Waterboarding, Aufhängen in schmerzhaften Positionen und sexualisierte Gewalt. Dies betraf Personen in Gewahrsam der Special Deterrence Force, des Stability Support Apparatus, der Brigade 444, der Public Security Agency und der Security Directorate Support Force sowie Personen in der Gewalt bewaffneter Gruppen wie Tareq Ibn Zeyad, der Internal Security Agency und der 128. und 106. Brigade.

Gefängnisbehörden, Milizen und bewaffnete Gruppen hielten Gefangene unter grausamen und unmenschlichen Bedingungen fest. Es herrschten Überbelegung und unhygienische Bedingungen, es gab keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, und die Inhaftierten erhielten weder ausreichend Möglichkeit, sich zu bewegen, noch Lebensmittel. Mindestens zwei Männer starben in Gewahrsam, nachdem ihnen eine angemessene medizinische Behandlung verweigert worden war.

Das libysche Recht sah auch 2021 weiterhin Körperstrafen vor, darunter Auspeitschungen und Amputationen.

Im Juni 2021 verurteilte ein Militärgericht in Tripolis einen Soldaten zu 80 Peitschenhieben, weil er Alkohol getrunken hatte. Die Auspeitschung wurde von der Militärpolizei vorgenommen.

Rechtswidrige Tötungen

Die Leichen von mindestens 20 Personen wurden gefunden, nachdem sie von Milizen und bewaffneten Gruppen entführt worden waren. Einige wiesen Folterverletzungen oder Schusswunden auf.

Im August 2021 wurde die Leiche von Abdelaziz al-Ogali in Bengasi entdeckt. Der 56-Jährige war im November 2020 von bewaffneten Männern entführt worden, von denen angenommen wurde, dass sie der LAAF nahestanden.

Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit

Während des gesamten Jahres 2021 bedrohten Milizen und bewaffnete Gruppen in den von der Regierung der Nationalen Einheit und der LAAF kontrollierten Gebieten zahlreiche Aktivist_innen und Politiker_innen und forderten sie auf, ihre Aktivitäten und ihr politisches Engagement für die Wahlen einzustellen, wobei mindestens 20 Männer festgenommen wurden.

Nachdem die Nationale Jugendliga, eine staatliche Organisation, zu Protesten gegen die Verschiebung der Wahlen aufgerufen hatte, entführten bewaffnete Männer im September den Direktor der Organisation, Imad al-Harati, aus seinem Büro in Tripolis und hielten ihn neun Tage lang ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft.

Im Oktober 2021 verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur Internetkriminalität, das die freie Meinungsäußerung im Internet massiv einschränkt, Überwachung und Zensur durch die Regierung ermöglicht und die Verbreitung von Inhalten, die als "unmoralisch" gelten, mit Haftstrafen belegt.

Milizen und bewaffnete Gruppen gingen weiterhin gegen Journalist_innen und Nutzer_innen Sozialer Medien vor, indem sie sie willkürlich festnahmen, inhaftierten und bedrohten, nur weil sie kritische Ansichten geäußert hatten und friedlich ihrer Arbeit nachgegangen waren.

Im Oktober 2021 entführten unbekannte bewaffnete Männer in Militäruniform den Journalisten Saddam al-Saket während seiner Berichterstattung über eine Sitzblockade von Flüchtlingen in Tripolis. Sein Verbleib war Ende des Jahres weiterhin unbekannt.

Die Registrierung, Finanzierung und Arbeitsweise von NGOs brachte undurchsichtige und langwierige bürokratische Verfahren mit sich. Ein Gerichtsverfahren wegen unzulässiger Einschränkung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit durch Verordnung Nr. 286/2019 zur Regulierung von NGOs war Ende 2021 noch vor einem Verwaltungsgericht in Tripolis anhängig.

Angehörige humanitärer Hilfsorganisationen berichteten über immer mehr Beschränkungen des Zugangs nach Libyen und zu bedürftigen Gemeinschaften.

Menschenrechtsverstöße bewaffneter Gruppen

Die seit Oktober 2020 geltende nationale Waffenruhe hielt 2021 an. Allerdings verletzten Milizen und bewaffnete Gruppen bei sporadischen, lokal begrenzten bewaffneten Zusammenstößen das humanitäre Völkerrecht. Unter anderem kam es zu wahllosen Anschlägen und zur Zerstörung von ziviler Infrastruktur und Privateigentum.

Im Juni 2021 wurden bei Zusammenstößen mit Maschinengewehren zwischen der Miliz Criminal Investigations Unit mit Sitz in der Stadt al-Zawiya und einer Miliz unter der Führung von Mohamed al-Shalfoh mit Sitz in der benachbarten Stadt al-Agiliat zwei Frauen und ein Mann getötet und ziviles Eigentum beschädigt.

Im Oktober 2021 wurde in der Stadt Sebha im Süden des Landes ein Junge bei Zusammenstößen zwischen der Brigade 116 und einer lokalen bewaffneten Gruppe getötet. Bei der Brigade 16 handelt es sich um eine bewaffnete Gruppe, die der LAAF nahesteht, nominell aber von der Regierung der Nationalen Einheit befehligt wird.

Landminen, die von mit der LAAF verbündeten nichtstaatlichen Gruppen vor ihrem Rückzug aus Tripolis im Jahr 2020 gelegt worden waren, töteten und verletzten mindestens 24 Zivilpersonen, darunter auch Kinder. Im März 2021 wurden ein Mann und ein Junge bei zwei voneinander unabhängigen Landminenexplosionen in den südlichen Außenbezirken von Tripolis getötet.

Bewaffnete Gruppen griffen wiederholt die Infrastruktur des Great Man-Made River (GMMR) an. Die daraus resultierende Beschädigung dieses Netzwerks von Wasserleitungen, das Wasser aus den Grundwasservorkommen im Süden des Landes in die Küstengebiete transportiert, schränkte den Zugang zu Wasser für Millionen von Menschen ein. Im August zwangen bewaffnete Männer des Magarha-Stamms die GMMR-Verwaltung, die Wasserversorgung für den Westen Libyens für eine Woche zu unterbrechen, und forderten die Freilassung ihres Stammesführers Abdallah al-Senussi, eines ehemaligen Geheimdienstchefs, der 2015 zum Tode verurteilt worden war.

Im Juni 2021 bekannte sich die bewaffnete Gruppe Islamischer Staat zu einem Selbstmordanschlag auf einen Polizeikontrollpunkt in Sebha, bei dem sechs Zivilpersonen getötet wurden.

Mehrere Länder, darunter Russland, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate, verstießen gegen das seit 2011 bestehende UN-Waffenembargo, indem sie ausländische Kämpfer_innen und militärische Ausrüstung nicht aus Libyen abzogen. Auf Echtheit geprüfte Videos zeigten, wie Milizen im Oktober 2021 bei einem Angriff auf Migrant_innen und Flüchtlinge in Tripolis gepanzerte Fahrzeuge aus den Vereinigten Arabischen Emiraten einsetzten. Die Fahrzeuge waren wahrscheinlich von Milizen, die der früheren Einheitsregierung nahestehen, während der Kämpfe in Tripolis im Jahr 2020 von der LAAF beschlagnahmt worden.

Straflosigkeit

Staatsbedienstete sowie Angehörige von Milizen und bewaffneten Gruppen, die für völkerrechtliche Verbrechen verantwortlich sind, genossen nahezu völlige Straffreiheit. Die Behörden finanzierten weiterhin bewaffnete Gruppen und Milizen, ohne sie zu überprüfen, und integrierten sie in staatliche Einrichtungen.

Im Januar 2021 wurde Abdel Ghani al-Kikli, der Befehlshaber der Miliz Abu-Salim-Miliz Central Security Force, zum Leiter der neu geschaffenen Sicherheitsbehörde (Stability Support Authority) ernannt, die nachrichtendienstliche und Strafverfolgungsaufgaben wahrnimmt, obwohl glaubwürdige Berichte über die Beteiligung seiner Miliz an Kriegsverbrechen seit 2011 vorliegen.

Libysche Staatsbedienstete und Personen, die de facto libysche Gebiete kontrollierten, ignorierten die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). Saif al-Islam al-Gaddafi, der vom IStGH wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt worden war, kandidierte für das Amt des Präsidenten.

Im Februar 2021 starb Al-Tuhamy Mohamed Khaled, der vom IStGH wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gesucht wurde, in Freiheit in Ägypten. Im März wurde Mahmoud al-Werfalli, der vom IStGH wegen der Ermordung von 33 Menschen in Bengasi und Umgebung gesucht wurde, in Bengasi getötet.

Im April 2021 ließ die Regierung der Nationalen Einheit Abdelrahman Milad, auch bekannt als Bidja, nach einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft aus Mangel an Beweisen frei. Er stand weiterhin unter den im Juni 2018 gegen ihn verhängten Sanktionen des UN-Sicherheitsrats wegen seiner Beteiligung am Menschenhandel. Er nahm seine Rolle als Leiter der westlichen Abteilung der libyschen Küstenwache in al-Zawiya wieder auf. Osama al-Kuni blieb Direktor des al-Nasr-Haftzentrums in al-Zawiya, obwohl er im Oktober wegen seiner Rolle bei Verbrechen gegen inhaftierte Migrant_innen und Flüchtlinge auf die Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrats gesetzt wurde.

Im Juni 2021 berichtete die LAAF, Angehörige der bewaffneten Gruppe Tareq Ibn Zeyad hätten Mohamed al-Kani, einen Befehlshaber der mit der LAAF verbündeten bewaffneten Gruppe al-Kaniat, getötet, als dieser sich seiner Festnahme widersetzte. Nach dem Rückzug von al-Kaniat aus der Stadt Tarhunah im Juni 2020 wurden dort Hunderte Massengräber mit den sterblichen Überresten von Erwachsenen und Kindern entdeckt, die augenscheinlich von al-Kaniat rechtswidrig getötet worden waren. Obwohl die Behörden Ermittlungen ankündigten, wurden die mutmaßlichen Verantwortlichen auch 2021 nicht vor Gericht gestellt.

Im Oktober stellte die UN-Erkundungsmission fest, dass alle Konfliktparteien gegen das Völkerrecht verstoßen hätten und die Menschenrechtsverstöße gegen Flüchtlinge und Migrant_innen möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellten.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Vonseiten der Behörden gab es keinerlei Bemühungen, Frauen, Mädchen und LGBTI+ vor sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt sowie vor Tötungen, Folter und rechtswidrigem Freiheitsentzug durch Milizen, bewaffnete Gruppen und andere nichtstaatliche Akteure zu schützen.

Frauen und Mädchen sahen sich mit Hindernissen konfrontiert, wenn sie nach Vergewaltigungen und anderer sexualisierter Gewalt Anzeige erstatten wollten. So waren sie dem Risiko der strafrechtlichen Verfolgung wegen sexueller Beziehungen außerhalb der Ehe – in Libyen eine Straftat – ausgesetzt und mussten Racheakte der Täter in Kauf nehmen. Aktivistinnen und Politikerinnen, darunter Najla al-Mangoush, die Außenministerin der Regierung der Nationalen Einheit, sowie die Präsidentschaftskandidatinnen Laila Ben Khalifa und Huneida al-Mahdi, waren im Internet frauenfeindlichen Beleidigungen und Drohungen ausgesetzt.

Im Februar 2021 wurde die Studentin Widad al-Sheriqi nach einem Familienstreit von bewaffneten Männern unter Führung ihres Vaters entführt, gefoltert und an einem privaten Ort in al-Zawiya gefangen gehalten, bis sie im März entkommen konnte.

Im Juli nahmen Angehörige der Special Deterrence Force ein Mädchen, das die häusliche Gewalt seiner Eltern überlebt hatte, fest und brachten es gegen seinen Willen zu seiner Familie zurück.

Bewaffnete Gruppen und Milizen griffen weiterhin LGBTI+ an, schikanierten sie und nahmen sie fest. Einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen standen weiterhin unter Strafe.

Im September floh ein trans Mann aus Libyen, nachdem eine der LAAF nahestehende bewaffnete Gruppe damit gedroht hatte, ihn und seinen Freund in Bengasi zu töten.

Diskriminierung

Ethnische Minderheiten und indigene Gemeinschaften

Einige Angehörige der ethnischen Minderheiten der Tabu und der Tuareg, insbesondere diejenigen, die keinen libyschen Ausweis besaßen, wurden im Süden Libyens beim Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, einschließlich Gesundheitsversorgung und Bildung, sowie zu Sportvereinen diskriminiert. In al-Kufra im Südosten Libyens hatten Angehörige der Tabu keinen Zugang zur einzigen Universität der Stadt, da diese in einem Gebiet liegt, das von rivalisierenden bewaffneten Gruppen kontrolliert wird. Im September 2021 kündigte der Ministerpräsident einen Ausschuss an, der umstrittene Anträge auf Staatsangehörigkeit – vor allem von Angehörigen ethnischer Minderheiten – prüfen soll.

Binnenvertriebene

Knapp 200.000 Menschen waren nach wie vor Binnenvertriebene, einige schon seit über zehn Jahren. Tausende Binnenflüchtlinge aus Ostlibyen konnten nicht in ihre Heimat zurückkehren, da sie Vergeltungsmaßnahmen durch bewaffnete Gruppen und die Zerstörung ihres Eigentums befürchteten. Tausende Einwohner_innen der Stadt Tawergha, die seit 2011 vertrieben waren, konnten nicht in ihre Häuser zurückkehren, da es an Sicherheit und wichtigen Dienstleistungen mangelte.

Binnenvertriebene sahen sich mit Hindernissen konfrontiert, die ihren Zugang zu Bildung, Gesundheitsfürsorge, Wohnraum und Beschäftigung einschränkten, nachdem mehrere aufeinanderfolgende Regierungen ihren Rechten, u. a. bei der Zuteilung staatlicher Gelder, keine Priorität eingeräumt hatten. Sie hatten sie auch nicht vor willkürlicher Inhaftierung, drohender Vertreibung und anderen Angriffen durch bewaffnete Gruppen und Milizen geschützt.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen

Flüchtlinge und Migrant_innen waren großflächigen und systematischen Menschenrechtsverletzungen und -verstößen durch Staatsbedienstete, Milizen und bewaffnete Gruppen ausgesetzt, ohne dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden.

Die von der EU unterstützte libysche Küstenwache gefährdete das Leben von Flüchtlingen und Migrant_innen, die das Mittelmeer überqueren wollten. Die Küstenwache schoss auf ihre Boote oder beschädigte sie anderweitig vorsätzlich, was zum Tod von Menschen führte (siehe Länderkapitel Italien). 32.425 Flüchtlinge und Migrant_innen wurden abgefangen und gegen ihren Willen nach Libyen zurückgebracht, wo Tausende Personen auf unbestimmte Zeit unter extrem schlechten Bedingungen in Hafteinrichtungen der Abteilung zur Bekämpfung unerlaubter Migration (Directorate for Combating Illegal Migration – DCIM) festgehalten wurden. Tausende weitere Menschen wurden nach der Ausschiffung Opfer des Verschwindenlassens.

Flüchtlinge und Migrant_innen wurden auch willkürlich in ihren Häusern, auf der Straße und an Kontrollpunkten festgenommen. Im Oktober griffen libysche Sicherheitskräfte und in Tripolis ansässige Milizen auf rechtswidrige Gewalt zurück, um über 5.000 Erwachsene und Kinder, die aus Ländern südlich der Sahara stammten, aus ihren Unterkünften zu holen und zu inhaftieren.

Wachleute und Milizen setzten Personen in ihrem Gewahrsam Folter und anderen Misshandlungen aus, darunter sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt, Zwangsarbeit und andere Ausbeutung, u. a. in dem im Januar 2021 in Tripolis eröffneten DCIM-Haftzentrum al-Mabani. Das Wachpersonal des DCIM-Zentrums Shara' al-Zawiya in Tripolis vergewaltigte Migrant_innen und zwang sie zu sexuellen Handlungen im Tausch gegen Lebensmittel.

Im Osten Libyens schoben Angehörige der DCIM mindestens 2.839 Flüchtlinge und Migrant_innen ohne ordnungsgemäßes Verfahren in den Tschad, nach Ägypten oder in den Sudan ab.

Die libyschen Behörden verhinderten den Abflug mehrerer Neuansiedlungs- und Evakuierungsflüge für Flüchtlinge und Asylsuchende aus Libyen in andere Länder.

Wachleute, Männer in Militäruniformen und Milizionäre schossen in DCIM-Haftzentren oder bei Fluchtversuchen rechtswidrig auf Flüchtlinge und Migrant_innen. Dabei wurden im Februar, April, Juli und Oktober 2021 im al-Mabani-Lager und in den von Abu Salim kontrollierten Hafteinrichtungen mindestens zehn Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt.

Recht auf Gesundheit

Ab April 2021 stand der Impfstoff gegen Covid-19 zur Verfügung. Es kam jedoch zu Verzögerungen beim Impfen. Zudem waren Personen ohne Papiere anfangs von den Impfungen ausgeschlossen, und medizinisches Personal und andere Risikogruppen wurden nicht vorrangig immunisiert.

Die libyschen Behörden beschafften nicht ausreichend Impfstoff, betrieben nicht genügend Aufklärung und stellten den Zugang zu Impfstoffen für Risikogruppen nicht angemessen sicher. Migrant_innen, Flüchtlingen und Binnenvertriebenen wurde der Zugang zu Impfstoff durch Vetternwirtschaft und Diskriminierung zusätzlich erschwert. Milizen und bewaffnete Gruppen ließen Personen in ihrem Gewahrsam nicht impfen. Ende 2021 waren nur 12 Prozent aller Libyer_innen und weniger als 1 Prozent der ausländischen Staatsangehörigen im Land vollständig geimpft.

Dem Gesundheitssektor stand nur begrenzte und beschädigte Infrastruktur und Ausrüstung zur Verfügung, was zur Schließung mehrerer Quarantänestationen führte. Medizinisches und humanitäres Personal wurde von bewaffneten Männern angegriffen und entführt.

Todesstrafe

Nach libyschem Recht wurde die Todesstrafe auch über die vorsätzliche Tötung hinaus für eine Vielzahl von Straftaten beibehalten, und es wurden weiterhin Todesurteile verhängt. Es wurden jedoch keine Hinrichtungen vollzogen.

Im Mai 2021 hob der Oberste Gerichtshof die Verurteilung und das Todesurteil gegen Saif al-Islam al-Gaddafi und acht weitere Personen auf und ordnete eine Wiederaufnahme des Prozesses an, da Bedenken hinsichtlich der Fairness des Verfahrens bestanden.

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