Amnesty Report Libanon 29. März 2022

Libanon 2021

Polizisten in der Abenddämmerung vor einem historischen Gebäude

Berichtszeitraum: 01. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021

Die Wirtschaftskrise verschärfte sich und führte zu einem akuten Kraftstoff- und Medikamentenmangel. Statt Sozialprogramme aufzulegen, um die Auswirkungen der Krise zu lindern, reagierte die Regierung mit Kürzung der staatlichen Subventionen und gefährdete so das Recht der Bevölkerung auf Gesundheit und sogar ihr Recht auf Leben.

Personen, die für Morde, Folter und die verheerende Explosion im Jahr 2020 im Hafen der Hauptstadt Beirut verantwortlich waren, mussten weiterhin keine Strafverfolgung befürchten. Die Behörden griffen auf Terrorismusvorwürfe zurück, um strafrechtlich gegen Demonstrierende vorzugehen, die in Tripoli wirtschaftliche und soziale Rechte eingefordert hatten. Das diskriminierende Sponsorensystem (kafala) sorgte weiterhin dafür, dass die Rechte von Arbeitsmigrant_innen, insbesondere von weiblichen Hausangestellten, missachtet wurden.

Frauen wurden auch 2021 durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert. Die Behörden schoben nach wie vor syrische Flüchtlinge nach Syrien ab, obwohl ihnen dort schwere Menschenrechtsverletzungen drohten. Die seit 2014 dokumentierten Vorwürfe, wonach syrische Flüchtlinge gefoltert wurden, zogen keine Ermittlungen nach sich, selbst wenn sie vor Gericht vorgebracht wurden.

Hintergrund

Nach Angaben der Weltbank zählte die Wirtschaftskrise im Libanon zu den zehn schwersten weltweit seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Ende 2021 hatte die libanesische Lira 95 Prozent ihres Werts im Vergleich zu Ende 2019 eingebüßt. Im November 2021 betrug die jährliche Inflationsrate bei Lebensmitteln 357,95 Prozent. Das Welternährungsprogramm teilte im September 2021 mit, 22 Prozent der Libanes_innen, 50 Prozent der syrischen Flüchtlinge und 33 Prozent der Flüchtlinge anderer Nationalitäten litten unter Ernährungsunsicherheit. Laut einer im September 2021 veröffentlichten UN-Studie waren 82 Prozent der Bevölkerung von mehrdimensionaler Armut, also von Entbehrungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Lebensstandard, betroffen.

Im Januar 2021 befasste sich der UN-Menschenrechtsrat im Zuge seiner dritten Allgemeinen Regelmäßigen Überprüfung (UPR-Prozess) mit der Menschenrechtslage im Libanon.

Am 15. Juli 2021 trat der designierte Ministerpräsident Saad Hariri zurück und wurde am 26. Juli durch Najib Mikati ersetzt, der erfolgreich ein Kabinett bildete, das am 20. September vom Parlament bestätigt wurde. Mikatis Regierung funktionierte nur 20 Tage, dann wurden die Kabinettssitzungen ausgesetzt, nachdem ein politischer Streit über die Ermittlungen zur Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut am 4. August 2020 ausgebrochen war.

Am 11. August 2021 begann die Zentralbank damit, die Subventionen für Kraftstoffimporte einzustellen, was zu kritischen Versorgungsengpässen bei Benzin und Diesel führte, die sich durch Schmuggel und Hamsterkäufe noch verschärften. Bei Explosionen von Kraftstoffvorräten in Wohngebieten wurden zahlreiche Menschen getötet oder verletzt.

Nach monatelangen Verzögerungen führte die Regierung im Dezember Lebensmittelkarten für 500.000 Familien ein, doch war die Finanzierung dieses Programms am Jahresende noch ungewiss.

Recht auf Gesundheit

Aufgrund der Wirtschaftskrise war die Gesundheitsversorgung das gesamte Jahr über stark beeinträchtigt. Eine im September 2021 veröffentlichte UN-Studie stellte fest, dass der Prozentsatz der Haushalte, die keine medizinische Versorgung erhielten, von 9 Prozent im Jahr 2019 auf 33 Prozent im Jahr 2021 gestiegen war, was etwa 400.000 Haushalten von insgesamt 1,2 Millionen entsprach. Die Zahl der Menschen, die keine Medikamente mehr bekommen konnten, hatte sich innerhalb von zwei Jahren sogar verdoppelt.

Der akute Kraftstoff- und Medikamentenmangel führte im Juli und August dazu, dass Menschenleben gefährdet waren, u. a. weil Krankenhäuser keine angemessene Gesundheitsversorgung mehr leisten konnten. Die Behörden räumten Krankenhäusern und anderen systemrelevanten Diensten keinen Vorrang bei der Verteilung von Kraftstoff ein, den sie bei Schmuggler_innen und Hamsterkäufer_innen beschlagnahmt hatten. Im September berichteten die Direktoren von drei der größten libanesischen Krankenhäuser Amnesty International, dass es ihnen nicht gelungen sei, genügend Diesel für ihre Stromgeneratoren zu beschaffen, um den Betrieb auch nur einen Monat länger aufrechtzuerhalten, sodass sie auf UN-Spenden angewiesen waren.

Am 26. August 2021 versammelten sich Krebspatient_innen vor den UN-Büros in Beirut, um gegen den Medikamentenmangel zu protestieren, nachdem die Regierung den Subventionsanteil nicht an die Pharmalieferanten bezahlt hatte. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurde der Mangel teilweise dadurch verursacht, dass Händler_innen Medikamente horteten. Die Behörden ergriffen jedoch keine Maßnahmen, um dies zu verhindern oder zu bestrafen.

Am 9. November 2021 strich die Regierung die Zuschüsse für die meisten Medikamente, mit Ausnahme derjenigen, die für Dialysen, Krebsbehandlungen und zur Behandlung psychischer Krankheiten erforderlich waren. Das ganze Jahr über waren Medikamente für den Großteil der Bevölkerung entweder nicht verfügbar oder nicht erschwinglich.

Ende 2021 hatten 35,15 Prozent der Bevölkerung (Staatsangehörige und Personen mit Wohnsitz im Libanon) ihre erste Impfung gegen Covid-19 erhalten und 28 Prozent ihre zweite. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge entsandte Teams, um den Flüchtlingen im Libanon eine Impfung zu ermöglichen, doch war der Anteil der geimpften Flüchtlinge sehr gering.

Straflosigkeit

Staatsbedienstete, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren, genossen weiterhin Straffreiheit. Dies galt gleichermaßen für Vorwürfe von Mord, Folter und Straftaten im Zusammenhang mit der Explosion im Hafen von Beirut im Jahr 2020. Die Behörden behinderten wiederholt die Ermittlungen im Zusammenhang mit der Explosionskatastrophe und unternahmen zahlreiche Schritte, um Politiker und Staatsbedienstete davor zu schützen, strafrechtlich verfolgt und vom Untersuchungsrichter vorgeladen zu werden.

Im Juni 2021 forderte eine Gruppe von 53 libanesischen und internationalen Menschenrechtsgruppen, darunter Amnesty International, sowie 62 Überlebende und Familien von Opfern und Feuerwehrleuten den UN-Menschenrechtsrat auf, ein Gremium einzusetzen, um die Hintergründe der Explosion zu untersuchen. Im Juli lehnten die Behörden die wiederholten Anträge des Untersuchungsrichters ab, die Immunität von Parlamentsabgeordneten aufzuheben und hochrangige Angehörige der Sicherheitskräfte zu befragen. Die Abgeordneten reichten mehr als ein Dutzend Beschwerden ein, in denen sie dem Richter politische Parteilichkeit vorwarfen, und erreichten, dass die Ermittlungen viermal unterbrochen wurden. Die Justiz wies die meisten dieser Beschwerden ab. Eine im Dezember eingereichte Beschwerde erreichte jedoch, dass die Ermittlungen auf 2022 verschoben wurden.

Die Ermittlungen zu den tödlichen Schüssen auf den Publizisten und Aktivisten Lokman Slim, der am 4. Februar 2021 in seinem Auto im Südlibanon erschossen wurde, hatten bis zum Jahresende keine Ergebnisse erbracht.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Während des gesamten Jahres kam es an vielen Orten zu kleineren Protesten, die sich gegen den Kraftstoff- und Medikamentenmangel, die steigenden Lebenshaltungskosten und die Untätigkeit der Regierung in der Wirtschaftskrise richteten.

In den meisten Fällen schritten die Behörden nicht ein, im Januar 2021 setzten die Sicherheitskräfte jedoch bei Protesten in der Stadt Tripoli im Norden des Landes scharfe Munition, Tränengas und Wasserwerfer ein, nachdem es zu Zusammenstößen mit Demonstrierenden gekommen war, die Gebäude der Stadtverwaltung in Brand gesetzt hatten. Ein Demonstrant wurde getötet, 300 Personen wurden verletzt. Nach Angaben der Sicherheitskräfte gab es in ihren Reihen mehr als 40 Verletzte. Zwischen dem 25. und 31. Januar 2021 wurden 35 Demonstrierende ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert. Ein Mann, der nach seiner Freilassung am ganzen Körper Spuren schwerer Prügel sowie erhebliche Verletzungen an Kopf, Schultern und Nacken aufwies, berichtete, er sei gefoltert und anderweitig misshandelt worden. Am 19. Februar 2021 klagte die Militärstaatsanwaltschaft mindestens 23 Inhaftierte, darunter zwei Minderjährige, wegen terroristischer Straftaten an. Amnesty International wertete dies als Versuch, Demonstrierende zu schikanieren. Im Fall eines Schuldspruchs drohte den Angeklagten die Todesstrafe. Nach wochenlanger Haft wurden die Inhaftierten gegen Kaution freigelassen.

Die Parlamentspolizei und unbekannte bewaffnete Männer griffen am 11. August Familienangehörige der Opfer der Explosionskatastrophe und Journalist_innen an.

Die Geheimdienste bestellten weiterhin Aktivist_innenen, Künstler_innen und Journalist_innen zu Verhören ein, weil sie sich im Internet regierungskritisch geäußert hatten. Am 4. Oktober 2021 lud der allgemeine Geheimdienst den Theaterregisseur Awad Awad vor und beschuldigte ihn, in einem improvisierten Theaterstück den Präsidenten kritisiert zu haben. Außerdem habe er den Text des Stücks nicht wie vorgeschrieben bei der Zensurabteilung des Geheimdiensts eingereicht, um die Aufführung genehmigen zu lassen. Er wurde anschließend freigelassen.

Frauenrechte

Frauen wurden auch 2021 durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert. Frauenrechtsgruppen setzten sich weiterhin für eine Reihe von Personenstandsrechten und politischen Rechten ein, so z. B. für ein gemeinsames Sorgerecht und für das Recht von Frauen, die mit ausländischen Staatsangehörigen verheiratet sind, ihre Staatsangehörigkeit an ihren Ehemann und ihre Kinder weiterzugeben.

Im Rahmen des UPR-Prozesses lehnte der Libanon mehrere Empfehlungen des UN-Menschenrechtsrats ab, wie z. B. die Einführung eines einheitlichen Personenstandsgesetzes, und bestand auf seinen Vorbehalten bezüglich des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW). Die Empfehlung, das diskriminierende Staatsangehörigkeitsrecht zu reformieren, wurde jedoch teilweise akzeptiert.

Rechte von Arbeitsmigrant_innen

Das Kafala-System sorgte weiterhin für die systematische Diskriminierung von Arbeitsmigrant_innen, bei denen es sich zu 99 Prozent um Frauen handelte, die als Hausangestellte arbeiteten. Viele von ihnen wurden aufgrund der Wirtschaftskrise und der Coronapandemie entlassen, ohne dass ihnen ihr Lohn gezahlt oder ihre Habseligkeiten und Pässe ausgehändigt wurden. Im Oktober 2021 teilte die Internationale Organisation für Migration mit, im Libanon würden etwa 400.000 zumeist asiatische und afrikanische Arbeitsmigrant_innen und Hausangestellte festsitzen, die keine Arbeit mehr hätten und keine Mittel, um in ihre Heimatländer zurückkehren zu können.

Im Zuge des UPR-Prozesses lehnte der Libanon eine Abschaffung des Kafala-Systems ebenso ab wie die Empfehlung des UN-Menschenrechtsrats, die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Arbeitsmigrant_innen und ihrer Familienangehörigen zu unterzeichnen und zu ratifizieren.

Rechte von Flüchtlingen

Der Libanon beherbergte 2021 etwa 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge, von denen im September 879.529 beim UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge registriert waren. Im weltweiten Vergleich waren das nach wie vor die meisten Flüchtlinge pro Kopf der Bevölkerung.

Im März 2021 veröffentlichte Amnesty International einen Bericht über eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen, die vor allem der militärische Geheimdienst an 26 syrischen Flüchtlingen, darunter vier Minderjährigen, verübt hatte, die zwischen 2014 und Anfang 2021 wegen Terrorismusvorwürfen inhaftiert waren. Zu den Menschenrechtsverletzungen zählten unfaire Gerichtsverfahren und Folter, u. a. durch Schläge mit Metallstöcken, Elektrokabeln und Plastikrohren. Die Behörden gingen den Foltervorwürfen nicht nach, selbst wenn die Inhaftierten oder ihre Rechtsbeistände vor Gericht auf die Folter hinwiesen.

Der Libanon schob weiterhin Flüchtlinge nach Syrien ab, obwohl ihnen bei einer Rückkehr schwere Menschenrechtsverletzungen drohten. Am 28. August 2021 nahm der militärische Geheimdienst sechs syrische Männer vor der syrischen Botschaft im Bezirk Baabda fest, denen die Botschaft zuvor telefonisch mitgeteilt hatte, sie könnten ihre Pässe abholen. Die Männer wurden beschuldigt, ohne gültige Papiere eingereist zu sein, und dem allgemeinen Geheimdienst übergeben, der am 5. September ihre Abschiebung anordnete. Die sechs Männer wurden 46 Tage lang ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten. Nachdem Forderungen laut wurden, sie freizulassen, hob der Geheimdienst die Ausweisungsbefehle am 8. September auf und ließ alle Männer am 12. Oktober frei.

Bei einem weiteren Vorfall im September 2021 nahm der allgemeine Geheimdienst drei syrische Männer, die vor den anhaltenden Kämpfen in der Provinz Daraa im Süden Syriens geflohen waren, am internationalen Flughafen von Beirut in Gewahrsam. Nach wachsendem Druck, die Männer nicht abzuschieben, kamen sie im Oktober frei.

Todesstrafe

Die Gerichte verhängten 2021 weiterhin Todesurteile; Hinrichtungen wurden nicht vollzogen. Empfehlungen zur Abschaffung der Todesstrafe im Zuge des UPR-Prozesses lehnte der Libanon ab.

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