Amnesty Report Kasachstan 29. März 2022

Kasachstan 2021

Das Bild zeigt mehrere Soldaten mit Gewehren

Mit Sturmgewehren bewaffnete Sicherheitskräfte in der kasachischen Stadt Almaty am 6. Januar 2022

Berichtszeitraum: 01. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021

Die Rechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit waren 2020 weiterhin stark eingeschränkt. Regierungskritiker_innen sahen sich mit politisch motivierten Strafverfahren konfrontiert. Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor weitverbreitet. Menschenrechtsverteidiger_innen wurden drangsaliert und mit zivilrechtlichen Verfahren wegen Verleumdung überzogen. Lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI) waren Stigmatisierung und Misshandlungen ausgesetzt. Menschen mit Behinderungen wurden ihre Rechte vorenthalten. Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage infolge der Corona-Pandemie schränkte den Zugang zu Bildung ein und führte zu einem Anstieg von Kinderarbeit.

Hintergrund

Am 10. Februar 2020 kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen ethnischen Kasach_innen und Dungan_innen, einer muslimischen Bevölkerungsgruppe chinesischer Abstammung. Dabei starben zehn Menschen, Hunderte wurden verletzt. Nach den ersten bestätigten Corona-Fällen verhängte die Regierung am 16. März 2020 den Ausnahmezustand, der bis zum 11. Mai andauerte. Offiziellen Angaben zufolge starben bis zum 29. Oktober 2.219 Menschen in Zusammenhang mit dem Corona-Virus. Amtliche Statistiken zur Übersterblichkeit deuteten jedoch auf eine wesentlich höhere Zahl hin. In einer Mitte des Jahres veröffentlichten Prognose ging die Weltbank davon aus, dass durch die Pandemie die Zahl der in Armut lebenden Menschen um 800.000 zunehmen werde.

Im September 2020 unterzeichnete Kasachstan das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und verpflichtete sich damit, keine Hinrichtungen vorzunehmen und die Todesstrafe abzuschaffen.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Friedlich Demonstrierende wurden in Verwaltungshaft genommen und mit Geldstrafen belegt. Im Mai 2020 unterzeichnete der Präsident ein neues Versammlungsgesetz, das nicht den internationalen Standards entsprach. Öffentliche Versammlungen waren demnach nur an bestimmten Orten erlaubt und mussten faktisch von den Behörden genehmigt werden. Zudem wurden ausländische Staatsangehörige, Personen mit geistigen oder "psychosozialen" Beeinträchtigungen und nicht zugelassene Organisationen durch das Gesetz offen diskriminiert.

Am 6. Juni lösten die Behörden eine friedliche Protestveranstaltung in Almaty mit der Begründung auf, das Gebiet müsse desinfiziert werden. Hunderte Personen wurden kurzzeitig inhaftiert. Die Menschenrechtsverteidigerin Asya Tulesova beschwerte sich bei der Polizei über die Festnahme friedlicher Demonstrierender und schlug einem Beamten die Polizeimütze vom Kopf. Sie musste daraufhin trotz des Risikos einer Corona-Infektion zwei Monate in Untersuchungshaft verbringen. Am 12. August verurteilte sie ein Gericht wegen Beleidigung und Angriffs auf einen Polizisten zu einer Geldstrafe und 18 Monaten "eingeschränkter Freiheit" (einer Strafe ohne Freiheitsentzug ähnlich einer Bewährungsstrafe).

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im Juni 2020 unterzeichnete der Präsident ein Gesetz zur Entkriminalisierung von Verleumdung. Friedliche Regierungskritiker_innen wurden jedoch weiterhin strafrechtlich verfolgt und mit harten Strafen belegt, weil die Behörden die in Paragraf 274 des Strafgesetzbuchs enthaltenden Notstandsregelungen zur "wissentlichen Verbreitung von Falschinformationen" nutzten, um gegen abweichende Meinungen vorzugehen. Von Januar bis August 2020 wurde in 81 Fällen Anklage gemäß Paragraf 274 erhoben, in fünf Fällen führte dies zu Gerichtsverfahren.

Am 22. Juni wurde Alnur Ilyashev nach Paragraf 274 schuldig gesprochen, weil er in drei Beiträgen in den sozialen Medien die Reaktion der Regierung auf die Corona-Pandemie und Korruption kritisiert hatte. Seine Strafe umfasste drei Jahre "eingeschränkte Freiheit" und ein fünfjähriges Verbot, an "freiwilligen politischen und sozialen Aktivitäten" teilzunehmen.

Gewaltlose politische Gefangene

Maks Bokayev musste 2020 weiterhin seine fünfjährige Haftstrafe verbüßen, obwohl sich sein Gesundheitszustand verschlechtert hatte. Er war u. a. wegen Verstößen gegen Paragraf 174 des Strafgesetzbuchs ("Anstiftung zu sozialer, nationaler, ethnischer oder religiöser Zwietracht") verurteilt worden. Gründe waren seine Beteiligung an der Organisation einer friedlichen Demonstration und Beiträge in den sozialen Medien.

Folter und andere Misshandlungen

In den Hafteinrichtungen waren Folter und anderweitige Misshandlungen nach wie vor weitverbreitet. Abgesehen von wenigen Ausnahmen leiteten die Behörden keine unparteiischen, unabhängigen und wirksamen Untersuchungen ein.

Am 6. Oktober 2020 wurde ein Beamter des Geheimdienstes (KNB) wegen Vergewaltigung und Folter zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Transfrau Viktoriya Berdkhodzhaeva, die seit 2017 eine Haftstrafe in einer Strafkolonie für Frauen verbüßte, gab an, der Beamte habe sie im Juli 2019 vergewaltigt. Sie hatte bereits zuvor über sexualisierte Übergriffe männlicher Wärter und Diskriminierung durch Mitgefangene berichtet.

Am 17. Oktober 2020 wurde Azamat Orazaly wegen mutmaßlichen Viehdiebstahls inhaftiert. Er starb noch am selben Tag im Dorf Makanchi in Ostkasachstan in Polizeigewahrsam. Drei Polizisten wurden wegen Folterverdachts festgenommen. Die Untersuchungen dauerten Ende 2020 noch an

Menschenrechtsverteidiger_innen

Menschenrechtsverteidiger_innen wurden drangsaliert und mit Klagen überzogen. Gegen Elena Semionova aus Pawlodar im Norden Kasachstans liefen 2020 acht zivilrechtliche Verfahren wegen Verleumdung, die Strafvollzugsbeamte aus sechs Gefängnissen gegen sie angestrengt hatten, weil sie im Rahmen ihrer Arbeit auf mutmaßliche Fälle von Folter aufmerksam gemacht hatte. Am 3. Juni urteilte ein Gericht, Elena Semionova habe die Angestellten von Gefängnis 161/2 diffamiert, und wies sie an, ihre Aussagen öffentlich zurückzunehmen. Am 3. Juli verlor sie einen Prozess wegen Verleumdung, den der Leiter des Gefängnisses 164/4 im Dorf Zarechny in der Region Almaty gegen sie angestrengt hatte. Sie hatte darüber berichtet, dass Wärter des Gefängnisses einen Häftling am 10. April verprügelt hatten. Doch obwohl ärztliche Berichte die Verletzungen des Häftlings bestätigten, war das Gericht der Ansicht, die Angaben der Menschenrechtlerin seien unwahr und schädigten den Ruf des Gefängnisleiters. Zwei Klagen gegen Elena Semionova wurden von den Klägern fallen gelassen, vier weitere waren Ende 2020 noch anhängig.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen

Die LGBTI-Aktivistin Nurbibi Nurkadilova veröffentlichte im Mai 2020 eine Erklärung der Europäischen Union und einiger ausländischer Botschaften in Kasachstan zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi- und Transphobie. Die Veröffentlichung führte zu zahlreichen homo- und transfeindlichen Kommentaren, u. a. von dem bekannten Mixed-Martial-Arts-Kämpfer Kuat Khamitov. Nachdem Nurbibi Nurkadilova ihm geantwortet und erklärt hatte, dass sie eine Transfrau sei, forderte er andere auf, lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen anzugreifen. Die Behörden ergriffen keinerlei Maßnahmen.

Kinderrechte

Die Schließung der Grenze zwischen Kasachstan und Usbekistan aufgrund der Corona-Pandemie führte zu einem Arbeitskräftemangel. Der Sender Radio Azattyk berichtete im Oktober 2020 über Kinderarbeit auf den Baumwollfeldern in der Region Türkistan im Süden des Landes. In Kasachstan dürfen Kinder ab 16 Jahren leichte Arbeiten verrichten, einige der betreffenden Kinder waren jedoch jünger. Die Weltbank erklärte, aufgrund der pandemiebedingten Schulschließungen und des unzureichenden Zugangs zu Fernunterricht werde die Zahl der funktionalen Analphabet_innen unter den Schüler_innen der weiterführenden Schulen steigen.

Rechte von Menschen mit Behinderungen

Gerichte sprachen Menschen mit geistigen Behinderungen weiterhin die Rechtsfähigkeit ab und beschränkten somit auch ihren Zugang zu Grundrechten. Aufgrund fehlender Überprüfungsmechanismen gab es nur sehr wenige Fälle, in denen Betroffene ihre Rechte zurückerhielten. Im Januar 2020 erklärte ein Gericht in Almaty Vadim Nesterov für rechtsfähig. Nachdem man ihn als "behindert" eingestuft hatte, war ihm im Alter von 18 Jahren, während er in einem Heim lebte, die Rechtsfähigkeit aberkannt worden.

Die Einweisungsrate war weiterhin hoch. Im April 2020 starben in einem Heim für Kinder mit Behinderungen in Ajagös im Osten Kasachstans vier Kinder an den Folgen von Krankheiten, während sich der Großteil des Personals wegen Quarantänemaßnahmen in unbezahltem Urlaub befand. Eine Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass das Heim keine angemessene medizinische Versorgung sichergestellt hatte. Gegen einige Angestellte wurden Disziplinarmaßnahmen verhängt. 

Am 22. Oktober kündigte der Präsident an, Kasachstan werde bis 2022 das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifizieren. Damit würden Beschwerden gegen Verstöße möglich.

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