Amnesty Report Bulgarien 29. März 2022

Bulgarien 2021

Rückenansicht von zwei jungen Frauen, die eine Regenbogenflagge um die Schultern haben und sich umarmen.

Berichtszeitraum 1. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021

Die Freiheit der Medien geriet weiter unter Druck, da Journalist_innen bedroht und eingeschüchtert wurden. Migrant_innen und Asylsuchende waren von Pushbacks betroffen. Die häusliche Gewalt nahm zu. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche wurden von Personen attackiert, die den Rechten von Minderheiten feindlich gegenüberstanden. Rom_nja wurden massiv diskriminiert. In Einrichtungen der Sozialfürsorge waren Misshandlungen an der Tagesordnung.

Hintergrund

Im November 2021 fand in Bulgarien die dritte Parlamentswahl innerhalb eines Jahres statt, da nach vorgezogenen Neuwahlen im April und Juli keine Partei eine Regierung bilden konnte. Die während der Coronapandemie ursprünglich im Mai 2020 von der Regierung ausgerufene "epidemiologische Notlage" blieb das ganze Jahr 2021 über in Kraft und räumte der Regierung weitreichende Befugnisse ein.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Freiheit der Medien wurde weiter eingeschränkt. Journalist_innen und unabhängige Medienunternehmen, die zu den Themen Kriminalität und Korruption recherchierten, waren häufig Drohungen und Verleumdungskampagnen ausgesetzt, u. a. seitens Regierungsvertreter_innen.

Im April 2021 berichtete Dimitar Stojanow, ein investigativer Journalist vom Nachrichtenportal Bivol, dass er Morddrohungen von einem Geschäftsmann erhalten habe, den er wegen eines Interviews über einen Korruptionsfall kontaktiert hatte, in den dieser mutmaßlich verstrickt war. Die Staatsanwaltschaft in Sofia ging Dimitar Stojanows Anzeige nicht nach, und die Polizei erteilte ihm einen Warnhinweis mit der Aufforderung, seine Kommunikation mit dem Geschäftsmann einzustellen.

Ebenfalls im April "witzelte" der Parlamentsabgeordnete Toschko Jordanow in einer Fernsehsendung, man solle dem Journalisten Blagoy Tsitselkov von Nova TV zur Strafe für seine Lügen die Gliedmaßen abschneiden. Zuvor hatte der Journalist in einer Live-Sendung versehentlich die Namen zweier politischer Parteien verwechselt. Im Mai stellte Innenminister Bojko Raschkow die journalistische Integrität von zwei Fernsehmoderator_innen infrage, die ihn interviewten, und deutete an, dass ihnen gekündigt werden sollte. Weder Toschko Jordanow noch Bojko Raschkow wurde vom Parlament mit Sanktionen belegt.

Die Coronapandemie verschlechterte die ohnehin unsicheren Arbeitsbedingungen von Beschäftigten in der Medienbranche noch weiter und führte zu Gehaltskürzungen, verzögerten Zahlungen und der Aushöhlung der redaktionellen Unabhängigkeit. Die Regierung kürzte die Mittel für einige öffentliche Medienanstalten und den Rat für Elektronische Medien, die bulgarische Medienaufsichtsbehörde.

In ihrem Rechtsstaatlichkeitsbericht monierte die Europäische Kommission im Juli den Mangel an Transparenz, die Konzentration der Medieneignerschaft und die anhaltende politische Einmischung in die redaktionelle Selbstbestimmung einiger Medienunternehmen. Bulgarien wurde auf der internationalen Rangliste der Pressefreiheit (World Press Freedom Index) vom 111. auf den 112. Platz herabgestuft und blieb damit der EU-Mitgliedstaat mit dem geringsten Maß an Pressefreiheit.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen

Bulgarien nahm an seinen Grenzen weiter systematische Pushbacks von Migrant_innen und Asylsuchenden vor. Bis Ende 2021 wurden mehr als 1.000 Pushbacks dokumentiert, die mindestens 13.000 Personen betrafen. Im Juli erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Bulgarien gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen habe, als es 2016 einen Journalisten in die Türkei abschob, ohne zu berücksichtigen, dass er bei seiner Rückkehr der Gefahr von Misshandlungen ausgesetzt war.

Die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende blieben weiter unzulänglich. Im August 2021 erklärte die bulgarische Ombudsperson, dass die im Aufnahmezentrum Voenna Rampa speziell für unbegleitete Kinder vorgesehene Zone massiv überbelegt war und die Kinder dort unter extrem schlechten und unhygienischen Bedingungen lebten.

Im August 2021 gab die Regierung ihre Pläne bekannt, wegen des nach der Übernahme Afghanistans durch die Taliban befürchteten Zustroms afghanischer Asylsuchender die Präsenz von Polizei und Militär an den Grenzen zur Türkei und zu Griechenland zu verstärken.

Bulgarien gewährte etwa 70 afghanischen Staatsangehörigen, die in Afghanistan für die bulgarische Botschaft und das bulgarische Militär gearbeitet hatten, zusammen mit ihren Familien internationalen Schutz. Mithilfe beschleunigter Verfahren, in denen ihre Anträge als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden, wurde dennoch weiter die große Mehrheit afghanischer Asylsuchender zurückgewiesen – eine fortlaufende Praxis, seit Bulgarien die Türkei zu einem sicheren Drittland erklärt hat.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Die Fälle von häuslicher Gewalt hatten sich seit Beginn der Coronapandemie verdreifacht und nahmen 2021 weiter zu.

Im Januar 2021 legte die Regierung dem Parlament Änderungsvorschläge für das Gesetz über den Schutz vor häuslicher Gewalt vor, die darauf abzielten, die bulgarischen Gesetze besser in Einklang mit internationalen Standards zu bringen. Manche der Maßnahmen sahen eine Stärkung von Schutzvorkehrungen vor sowie einen Überweisungsmechanismus und die Einrichtung eines Zentralregisters für Fälle häuslicher Gewalt, in dem auch Betroffene und Verantwortliche aufgeführt werden. Die Änderungsvorschläge waren bis zum Jahresende noch nicht verabschiedet worden.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

LGBTI+ waren weiter mit Drohungen und Menschenrechtsverstößen konfrontiert, u. a. durch politische Parteien und Amtspersonen.

Im Oktober 2021 wurde das Rainbow Hub, ein Zentrum für LGBTI-Veranstaltungen in Sofia, von einer Gruppierung unter der Führung von Bojan Rasate überfallen und verwüstet, dem Kandidaten der Partei Bulgarische Nationale Union (BNU) bei den Präsidentschaftswahlen im November. Nach scharfer Verurteilung durch Menschenrechtler_innen, politische Parteien und zahlreiche Botschaften in Sofia hob die Wahlkommission Bojan Rasates politische Immunität auf, und er wurde wegen Vandalismus und tätlichen Angriffs festgenommen und angeklagt. Im bulgarischen Strafgesetzbuch wird homofeindliche Gewalt noch nicht als Hassverbrechen eingestuft.

Die BNU kritisierte LGBTI-Gruppierungen regelmäßig öffentlich und warf ihnen vor, "Gender-Propaganda" zu verbreiten und Schulkindern "Perversionen" beizubringen.

Im Vorfeld der Parlamentswahlen im Juli wurden LGBTI-Veranstaltungen in Sofia, Plowdiw und Burgas von Gruppierungen attackiert, die den Rechten von Minderheiten feindselig gegenüberstehen. Vor dem Hintergrund weitreichender Anti-LGBTI-Proteste fand im Juli in Sofia die jährliche Pride-Parade statt.

Diskriminierung

Rom_nja waren u. a. in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Wohnraum und Beschäftigung nach wie vor sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt. Die Coronapandemie und der daraus resultierende lange Ausnahmezustand wirkten sich unverhältnismäßig stark auf die Rom_nja-Bevölkerung aus.

Rom_nja-Kinder erreichten wesentlich seltener einen Schul- oder Ausbildungsabschluss als die Allgemeinbevölkerung. Die Coronapandemie erhöhte für Romnja-Mädchen die Gefahr einer Frühverheiratung. Das Europäische Zentrum für die Rechte der Roma stellte fest, dass Rom_nja-Kinder im staatlichen System der Kinderfürsorge überrepräsentiert waren und mit höherer Wahrscheinlichkeit aus der Obhut ihrer Familien geholt wurden.

Das Oberste Verwaltungsgericht sprach im Juni 2021 den Vorsitzenden der Partei Bulgarische Nationale Bewegung, Krassimir Karakatschanow, der Diskriminierung für schuldig. Grundlage waren seine umstrittenen Äußerungen nach Vorfällen im Jahr 2019 in Wojwodinowo, die weitreichende Gewalt gegen Rom_nja ausgelöst hatten. Diese hatte zur Zerstörung von Häusern und der Vertreibung von Rom_nja-Familien geführt.

Grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung

Die Behörden ergriffen keine Maßnahmen, um der systematischen körperlichen Misshandlung von Bewohner_innen von Sozialfürsorgeheimen und Patient_innen mit psychischen Krankheiten Einhalt zu gebieten. Im Oktober 2021 meldete der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter zahlreiche Fälle, in denen Menschen geohrfeigt, geschlagen, getreten oder mit Stöcken verprügelt und mechanisch gefesselt oder hilflos in unhygienischen Bedingungen zurückgelassen wurden. Der Ausschuss forderte ein unverzügliches Eingreifen, um den Umgang Bulgariens mit Sozialfürsorgeheimen und psychiatrischen Einrichtungen von Grund auf zu verändern.

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