Amnesty Report Bosnien und Herzegowina 29. März 2022

Bosnien und Herzegowina 2021

Zentral im Bild schwenkt eine junge Frau eine Regenbogenfahne. Im Hintergrund befinden sich weitere Demonstrant_innen.

Pride Parade für die Rechte von LGBTIQ-Personen in Sarajevo in Bosnien und Herzegowina am 14. September 2021.

Berichtszeitraum 01. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021

Zahlreiche Asylsuchende und Migrant_innen lebten unter unmenschlichen Bedingungen. Unabhängige Medien und Journalist_innen gerieten ins Visier der Politik. Während der Pandemie kam es vermehrt zu Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt. LGBTI+ waren nach wie vor Diskriminierung ausgesetzt. Die Strafverfolgung von Kriegsverbrechen verzögerte sich weiter.

Hintergrund

Bosnien und Herzegowina erlebte 2021 die schwerste politische Krise seit Ende des Konflikts im Jahr 1995. Im Juli erklärte der Hohe Repräsentant der Vereinten Nationen für Bosnien und Herzegowina die öffentliche Leugnung von Völkermord zu einem Straftatbestand, woraufhin die politische Führung der serbischen Teilrepublik (Republika Srpska) zum Boykott staatlicher Institutionen aufrief und sich die nationalistische Rhetorik monatelang verschärfte. Im Dezember stimmten Abgeordnete der Nationalversammlung der Republika Srpska dafür, sich aus der bosnischen Armee, den Sicherheitsdiensten, dem Steuersystem und der Justiz zurückzuziehen. Ein Rückzug der Republika Srpska aus den staatlichen Institutionen von Bosnien und Herzegowina könnte eine Bedrohung für das Fortbestehen des Zentralstaates und damit für Frieden und Stabilität im Land darstellen.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant:innen

Knapp 16.000 Menschen durchquerten Bosnien und Herzegowina im Jahr 2021 bei dem Versuch, EU-Länder zu erreichen. Tausende Menschen saßen zu verschiedenen Zeitpunkten im Land fest, zumeist im Kanton Una-Sana. In der zweiten Jahreshälfte nahm die Zahl der neu eintreffenden Menschen stark ab.

Zwischen Januar und April 2021 lebten rund 900 Migrant_innen und Asylsuchende unter unmenschlichen Bedingungen und ohne Zugang zu Nahrung, Wasser und Strom im Notaufnahmelager Lipa in Una-Sana, weil die Behörden ihrer Umsiedlung in geeignetere Einrichtungen in anderen Landesteilen nicht zugestimmt hatten. Der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Josep Borrell, warf den Behörden vor, eine "ernste humanitäre Lage" herbeigeführt zu haben.

Zwischen Mai und Oktober 2021 übernachteten rund 2.000 Menschen, darunter Familien und Kinder, unter freiem Himmel, in verlassenen Häusern, Fabrikhallen und Wäldern im Kanton Una-Sana, da die Aufnahmeeinrichtungen vor Ort unzureichend oder nicht zugänglich waren. Im November 2021 eröffneten die Behörden mit Unterstützung der EU ein neues Aufnahmezentrum für 1.500 Personen in Lipa.

Die Kantonsbehörden untersagten die Lieferung humanitärer und medizinischer Hilfsgüter an Personen, die außerhalb der offiziellen Aufnahmeeinrichtungen lebten. Hilfsorganisationen und Einzelpersonen wurden schikaniert, bedroht oder daran gehindert, Hilfe zu leisten. Die 2020 von den Kantonsbehörden gegen Asylsuchende und Migrant_innen verhängten Maßnahmen, zu denen auch rechtswidrige Einschränkungen der Bewegungsfreiheit gehörten sowie das Verbot, sich auf öffentlichen Plätzen zu versammeln und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, blieben bestehen.

Das Asylsystem war infolge der fortbestehenden institutionellen Mängel und der extrem niedrigen Anerkennungsquoten nach wie vor weitgehend ineffektiv. So wurde im Jahr 2021 nur drei Personen der Flüchtlingsstatus zuerkannt.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Medien und Journalist_innen, die über Korruption, Kriegsverbrechen und Migration berichteten, sahen sich weiterhin mit Feindseligkeit, schweren Drohungen und Einschüchterungsversuchen konfrontiert, auch vonseiten Staatsbediensteter.

Im Mai 2021 bezeichnete der Vorsitzende des Staatspräsidiums von Bosnien und Herzegowina, Milorad Dodik, die Journalistin Tanja Topić aus Banja Luka als "erwiesene Verräterin" und "deutsche Agentin", nachdem sie sich kritisch über ihn und seine Partei geäußert hatte. Andere Journalist_innen, darunter Borka Rudić, Präsident des Journalist_innenverbandes von Bosnien und Herzegowina, wurden Ziel einer Verleumdungskampagne im Internet, die aus dem Umfeld der Partei der demokratischen Aktion (Stranka demokratske akcije – SDA) kam. Die Journalistin und Migrationsaktivistin Nidžara Ahmetašević wurde unter dem Vorwurf, "die öffentliche Ruhe und Ordnung gestört" zu haben, festgenommen und mehrere Stunden lang in Polizeigewahrsam gehalten, nachdem sie zwei Polizisten gebeten hatte, Masken zu tragen.

Im September 2021 verurteilte die OSZE die "Hasskampagne" gegen Medienschaffende und forderte die Behörden auf, die Verantwortlichen unverzüglich zu ermitteln und strafrechtlich zu verfolgen.

Der Journalist_innenverband von Bosnien und Herzegowina verzeichnete 2021 fast 300 vor verschiedenen Gerichten des Landes anhängige Verleumdungsklagen. Dazu gehörten Klagen gegen Journalist_innen, die mit unverhältnismäßig hohen Schadenersatzforderungen verbunden waren. Zu 80 Prozent beruhten diese auf Vorwürfen von Politiker_innen.

Recht auf Gesundheit

Obwohl Bosnien und Herzegowina gemessen an seiner Einwohnerzahl die meisten coronabedingten Todesfälle auf dem Balkan verzeichnete, beschafften die Behörden keine Impfstoffe, als diese verfügbar wurden. Eine landesweite Impfkampagne wurde erst im April 2021 gestartet, nachdem das Land über den COVAX-Mechanismus und andere Hilfsprogramme eine bescheidene Menge an Impfstoffen erhalten hatte. Die Impfrate lag zum Jahresende unter 20 Prozent. Gründe dafür waren eine weitverbreitete Impfskepsis und das Fehlen wirksamer Kampagnen zur Eindämmung von Falschinformationen.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Die Coronapandemie und die noch bis Mai 2021 geltenden Einschränkungen führten zu einem Anstieg der geschlechtsspezifischen Gewalt und schränkten den Zugang von Betroffenen zu Notunterkünften, Rechtshilfe und psychologischer Beratung erheblich ein.

Bei der Harmonisierung der nationalen Gesetzgebung mit dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention), das Bosnien und Herzegowina 2013 ratifiziert hatte, gab es nahezu keine Fortschritte.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Im August 2021 fand in Sarajevo die zweite Pride-Parade statt. Es gab strenge Sicherheitsvorkehrungen und keine bekannten Zwischenfälle.

LGBTI+ waren nach wie vor in allen Lebensbereichen Diskriminierung ausgesetzt, auch bei Bildung, Arbeit und Wohnungssuche.

Es gab keine Fortschritte hinsichtlich der Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften.

Rechte von Inhaftierten

Im September 2021 berichtete der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe über die weitverbreitete körperliche und seelische Misshandlung von Inhaftierten durch Ordnungskräfte in der Föderation Bosnien und Herzegowina und forderte rigorose Maßnahmen für einen Kulturwandel in der Polizei.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Im Juni 2021 bestätigte der Internationale Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe in Den Haag das ursprüngliche Urteil aus dem Jahr 2017 und verurteilte den ehemaligen General der bosnisch-serbischen Armee Ratko Mladić wegen Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu lebenslanger Haft.

Systembedingte Defizite in der Staatsanwaltschaft und die Abwesenheit von Angeklagten, die in andere Länder geflohen waren, sorgten auch weiterhin für Verzögerungen bei der strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen. Ende 2021 waren fast 600 Fälle vor verschiedenen Gerichten in Bosnien und Herzegowina anhängig.

Im Juli 2021 änderte der Hohe Repräsentant der Vereinten Nationen das Strafgesetzbuch von Bosnien und Herzegowina und erklärte die öffentliche Leugnung oder Verherrlichung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen zu einem Straftatbestand, der mit einer Freiheitsstrafe geahndet wird. Aus Protest dagegen startete die politische Führung der Republika Srpska einen Boykott staatlicher Institutionen.

Im September 2021 richteten die Behörden eine Arbeitsgruppe ein, die einen Plan für die Umsetzung einer Entscheidung des UN-Ausschusses für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau von 2019 entwickeln sollte. Der Ausschuss hatte entschieden, dass Bosnien und Herzegowina in einem Fall von Kriegsvergewaltigung keine angemessene Entschädigung gezahlt habe, und hatte die Behörden aufgefordert, allen Überlebenden von sexualisierter Gewalt in Kriegszeiten unverzügliche und umfassende Unterstützung zukommen zu lassen. Der Plan war Ende 2021 noch nicht verabschiedet worden.

Mehr als 7.200 Menschen wurden als Folge des bewaffneten Konflikts noch immer vermisst. Politischer Druck und ein Mangel an Ressourcen behinderten nach wie vor die Arbeit des Instituts für vermisste Personen in Bosnien und Herzegowina.

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