Amnesty Report Belarus 28. März 2023

Belarus 2022

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit blieben weiter massiv eingeschränkt. Mindestens ein Mann wurde hingerichtet. Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor an der Tagesordnung und blieben meist ungeahndet. Das Justizsystem wurde zur Unterdrückung kritischer Stimmen missbraucht, und Gerichtsverfahren entsprachen regelmäßig nicht internationalen Standards. Ethnische und religiöse Minderheiten wurden diskriminiert. Flüchtlinge und Migrant*innen waren Gewalt und Zurückweisung (Refoulement) ausgesetzt.

Hintergrund

Belarus blieb international weitgehend isoliert, da die EU und die USA Alexander Lukaschenko weiterhin die demokratische Legitimität als Präsident absprachen. Belarus richtete seine Außen- und Verteidigungspolitik weitgehend an Russland aus, u. a. indem es strategische Unterstützung für Russlands Krieg gegen die Ukraine bereitstellte.

Nachdem der Handel mit der Ukraine zum Stillstand gekommen war und westliche Regierungen neue Sanktionen gegen belarussische Firmen verhängt hatten, brach das Bruttoinlandsprodukt ein und die Inflation stieg an.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Das Recht auf freie Meinungsäußerung blieb auch 2022 massiv eingeschränkt. Tausende Menschen wurden strafrechtlich verfolgt, weil sie z. B. Unterstützung für die Ukraine bekundet, über die Bewegungen russischer Truppen bzw. Militärausrüstung berichtet oder die belarussische Regierung kritisiert hatten. 40 unabhängige Journalist*innen wurden willkürlich festgenommen, und gegen bereits inhaftierte Journalist*innen wurden neue Vorwürfe erhoben. Am Jahresende befanden sich 32 Journalist*innen in Zusammenhang mit ihrer beruflichen Arbeit in Haft.

Hunderte Personen standen in nichtöffentlichen Verfahren vor Gericht, weil sie Staatsbedienstete "beleidigt", staatliche Institutionen und Symbole "diskreditiert" oder "zu gesellschaftlicher Feindseligkeit und Feindschaft angestachelt" haben sollen. Im Juli 2022 wurde die Studentin Danuta Perednya zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt, weil sie im Internet einen Beitrag geteilt hatte, der den Krieg in der Ukraine anprangerte und Alexander Lukaschenkos Rolle darin kritisierte.

Die Behörden verhängten weiterhin willkürlich das Etikett "extremistisch" über Organisationen und Online-Inhalte sowie gedruckte und andere Materialien. Tausende Menschen wurden strafrechtlich verfolgt, weil sie z. B. einen Beitrag in den Sozialen Medien gelikt oder ein T-Shirt mit einem "extremistischen" Aufdruck getragen hatten. Offiziell galten mehr als 2.200 Personen als "Extremist*innen", von denen sich die meisten aufgrund politisch motivierter Anklagen in Haft befanden.

Der Journalist Juri Hantsarewitsch wurde im Juli 2022 zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt, weil er "eine extremistische Handlung ermöglicht" haben soll, indem er Fotos von russischem Militärgerät an unabhängige Medien geschickt hatte.

Im November 2022 verbot das Innenministerium die Verwendung des traditionellen Grußes "Lang lebe Belarus" und setzte ihn auf die Liste der "Nazisymbole und -embleme". Der Slogan wurde u. a. von Belaruss*innen verwendet, die 2020 im Zuge der Proteste gegen Machthaber Alexander Lukaschenko auf die Straße gegangen waren.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Die Behörden setzten auch 2022 ihr hartes Durchgreifen gegen unabhängige Organisationen der Zivilgesellschaft fort, mit dem sie nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2020 begonnen hatten. Dabei gerieten NGOs, Medienunternehmen, Berufsverbände sowie ethnische und religiöse Gemeinschaften ins Visier.

Die Behörden erhoben willkürliche "Extremismus"- und "Terrorismus"-Vorwürfe gegen Organisationen, um deren Tätigkeiten zu unterbinden. Mehr als 250 zivilgesellschaftliche Organisationen sowie einige große unabhängige Medienunternehmen mussten schließen – in vielen Fällen waren sie vorher zu "extremistischen Organisationen" erklärt worden.

Im April 2022 führten die Behörden Razzien in den Privatwohnungen und Büros von Führungsmitgliedern unabhängiger Gewerkschaften durch und nahmen 16 Personen aus nicht genannten Gründen fest. Im Juli 2022 wurde der unabhängige Gewerkschaftsverband BKDP ("Belarussischer Kongress der demokratischen Gewerkschaften") nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofs aufgelöst, womit faktisch sämtliche unabhängigen Gewerkschaften verboten wurden.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Nach Russlands Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 kam es in ganz Belarus zu friedlichen Demonstrationen, die die Polizei gewaltsam auflöste. Allein am 27. Februar wurden mindestens 700 Protestierende festgenommen. Nach nichtöffentlichen Verfahren wurden viele der Festgenommenen bis zu 30 Tage lang inhaftiert, andere wurden mit Geldstrafen belegt. Grundlage waren konstruierte Vorwürfe, wonach sie "Aktivitäten, die die öffentliche Ordnung massiv störten, organisiert, vorbereitet oder daran teilgenommen" hatten.

Auch Personen, die im Jahr 2020 friedlich an Protestveranstaltungen teilgenommen hatten, wurden 2022 weiterhin strafrechtlich verfolgt. Allein im ersten Halbjahr kam es zur Festnahme von 280 Personen.

Im Mai wurden Gesetzesänderungen umgesetzt, die es Streitkräften des Innenministeriums erlauben, bei der Auflösung öffentlicher Protestveranstaltungen sowie anderer Aktivitäten, die vermeintlich die öffentliche Ordnung stören, Kriegswaffen und spezielles militärisches Gerät einzusetzen.

Todesstrafe

Es wurde mindestens ein Mann hingerichtet.

Im Mai 2022 wurde der Anwendungsbereich der Todesstrafe in terrorbezogenen Fällen durch eine Gesetzesänderung auf "versuchte Straftaten" erweitert. Dies läuft den belarussischen Verpflichtungen als Vertragsstaat des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte zuwider. Im Dezember billigte das Parlament in erster Lesung ein Gesetz, mit dem Staatsbedienstete oder Militärangehörige, denen Hochverrat vorgeworfen wird, zum Tode verurteilt werden können.

Folter und andere Misshandlungen

Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor an der Tagesordnung, und die Verantwortlichen gingen straffrei aus.

Personen, die aufgrund politisch motivierter Anklagen verurteilt worden waren, sahen sich häufig mit einer härteren Behandlung und schlechteren Haftbedingungen konfrontiert als andere Inhaftierte. Sie wurden regelmäßig unter unmenschlichen Bedingungen in Einzelhaft gehalten oder durften nicht telefonieren, keine Verwandtenbesuche empfangen, keine Essenspakete entgegennehmen oder nicht im Freien Sport treiben. Der politische Aktivist Sergej Tichanowski, der aufgrund konstruierter Anklagen eine Gefängnisstrafe von 18 Jahren verbüßte, sah sich wiederholt derartigen willkürlichen Repressalien ausgesetzt und verbrachte mehr als zwei Monate in Isolationshaft.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Die Behörden hinderten Menschenrechtsverteidiger*innen an der Ausübung ihrer Tätigkeit und gingen mit willkürlicher Inhaftierung, Gewalt und Einschüchterungsversuchen gegen sie vor. Zu den Betroffenen zählten Mitglieder der bekannten Menschenrechtsorganisation Viasna, von denen sich mehrere in Untersuchungshaft befanden oder Haftstrafen erhalten hatten. Im September 2022 sahen sich die inhaftierten Führungsmitglieder Ales Bialiatski, Valyantsin Stefanovich und Uladzimir Labkovich mit neuen konstruierten Anklagen wegen Störung der öffentlichen Ordnung konfrontiert. Am 7. Oktober 2022 wurde Ales Bialiatski neben anderen Preisträgern mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Marfa Rabkova und Andrei Chapiuk, die seit 2020 inhaftiert waren, wurden in einem nichtöffentlichen Gerichtsverfahren zu 15 bzw. sechs Jahren Haft verurteilt.

Nasta Loika verbüßte unter dem konstruierten Vorwurf des "minderschweren Rowdytums" mindestens sechs 15-tägige Verwaltungshaftstrafen, während derer ihr Medikamente und die Erfüllung von Grundbedürfnissen wie warme Kleidung und Trinkwasser verweigert wurde. Im Dezember 2022 wurde sie beschuldigt, "Aktivitäten organisiert zu haben, die die öffentliche Ordnung massiv stören", und in Untersuchungshaft genommen.

Unfaire Gerichtsverfahren

Das Justizsystem wurde von den Behörden auch 2022 systematisch dazu missbraucht, jegliche Form von Regierungskritik zu unterdrücken, Oppositionelle zu inhaftieren und deren Rechtsbeistände einzuschüchtern und mundtot zu machen. Mindestens sieben Rechtsbeistände wurden mit willkürlichen Anklagen überzogen und wenigstens fünf von ihnen festgenommen. Mindestens 17 weiteren Rechtsbeiständen wurde willkürlich ihre Zulassung entzogen, nachdem sie an politisch motivierten Fällen gearbeitet hatten.

Die Verhandlungen in politisch motivierten Fällen waren meist nicht öffentlich und von Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet. Im Juli wurde ein Gesetz erlassen, das die Möglichkeiten erweitert, Ermittlungen und Gerichtsverfahren in Abwesenheit von Angeklagten durchzuführen. Diese Regelungen wurden im weiteren Verlauf des Jahres angewandt.

Diskriminierung

Einige Minderheiten wurden von den Behörden 2022 verstärkt ins Visier genommen, darunter polnische und litauische Staatsangehörige. Diese wurden offenbar deshalb schikaniert, weil Polen und Litauen oppositionelle Exilant*innen aufgenommen und die belarussische Regierung kritisiert hatten.

Militärfriedhöfe mit polnischen Gefallenen wurden wiederholt verwüstet, ohne dass jemand zur Verantwortung gezogen wurde. Die Regierung verbot willkürlich zwei Schulen im Westen des Landes (wo eine beträchtliche polnische Minderheit lebt), auf Polnisch zu unterrichten, und schloss eine litauischsprachige Schule in der Region Hrodsenskaja Woblasz. Obwohl Belarussisch den Status einer offiziellen Landessprache besitzt, nahmen die Behörden Schulen und Verlage ins Visier, die auf Belarussisch unterrichteten bzw. veröffentlichten, da sie Belarussisch als Sprache der Opposition betrachteten. Belarussische Buchhandlungen wurden geschlossen und Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen, Persönlichkeiten aus Literatur und Kultur sowie Reiseleiter*innen, die Belarussisch sprachen, mussten mit willkürlicher Festnahme rechnen.

Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit

Die Behörden nahmen auf kommunaler Ebene führende Vertreter*innen der christlichen Kirche sowie christliche Aktivist*innen ins Visier, die öffentlich die Polizeigewalt bei den Protesten im Jahr 2020 und die Rolle von Belarus in Russlands Krieg gegen die Ukraine anprangerten. Im März 2022 durchsuchten Polizeiangehörige die Wohnungen mehrerer katholischer Priester. In der Folge erhielten Aliaksandr Baran eine zehntägige Haftstrafe und Vasil Yahorau eine Geldstrafe, weil sie öffentlich Solidarität mit der Ukraine gezeigt hatten.

Nach einem Brand am 26. September 2022, bei dem es einige Ungereimtheiten gab, kündigten die Behörden den Vertrag mit einer lokalen katholischen Kirchengemeinde über die Nutzung der Kirche des Heiligen Simon und der Heiligen Helena in der Hauptstadt Minsk. Während der Demonstrationen im Jahr 2020 hatte die Kirche Demonstrierenden, die mit Polizeigewalt konfrontiert waren, Zuflucht geboten.

Recht auf Gesundheit

Die Qualität und der Zugang zur Gesundheitsfürsorge waren auch 2022 massiv eingeschränkt. Das lag zum einen daran, dass medizinisches Personal fehlte, weil nach wie vor Beschäftigte des Gesundheitswesens aus politischen Gründen entlassen wurden. Zum anderen lag es an der Knappheit bestimmter Medikamente und medizinischer Geräte infolge der internationalen Sanktionen. Medizinischen Fachkräften, denen aufgrund ihrer Unterstützung der friedlichen Proteste im Jahr 2020 gekündigt worden war, wurde willkürlich die Wiedereinstellung verweigert. Die Behörden entzogen mindestens sieben großen privaten Kliniken die Betriebserlaubnis, was offenbar eine koordinierte Kampagne gegen die Bereitstellung unabhängiger Gesundheitsdienste war

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Die Behörden zwangen weiterhin Flüchtlinge und Migrant*innen, darunter Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, die Grenze nach Polen, Litauen oder Lettland zu überqueren. Viele wurden daraufhin wieder nach Belarus zurückgeschoben, wo ihnen Folter und Misshandlungen durch Grenzposten und andere Sicherheitskräfte sowie die Zurückweisung (Refoulement) drohten. Zudem waren sie in Belarus mit Hindernissen bei Asylanträgen konfrontiert.

Im März 2022 vertrieben die Behörden dem Vernehmen nach Flüchtlinge und Migrant*innen aus einem provisorischen Lager in der Ortschaft Brusgi, wodurch fast 700 Menschen obdachlos wurden und jegliche Unterstützung verloren. Unter ihnen befanden sich zahlreiche kleine Kinder sowie Personen mit schweren Erkrankungen oder Behinderungen.

Weitere Artikel