Amnesty Report Aserbaidschan 29. März 2022

Aserbaidschan 2021

Fassade eines Holzhauses in dessen Fenster eine Frau steht.

Eine ältere Frau schaut aus dem Fenster einer Unterkunft für Binnenvertriebene in Baku, Aserbaidschan (12. März 2022).

Berichtszeitraum 1. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021

Die während des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan 2020 und danach begangenen Menschenrechtsverstöße wurden weiterhin nicht aufgearbeitet. Die militärischen Auseinandersetzungen wirkten sich negativ auf die Wahrnehmung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte aus. Die meisten aserbaidschanischen Staatsangehörigen, die während des Konflikts vertrieben wurden, kehrten zurück.

Dies galt jedoch nicht für ethnische Aserbaidschaner_innen, die in den 1990er Jahren aus der Region Bergkarabach und der näheren Umgebung vertrieben worden waren. Die Verfolgung und Drangsalierung regierungskritischer Stimmen setzte sich fort. Friedliche Proteste wurden gewaltsam aufgelöst. Die Arbeit von Menschenrechtsverteidiger_innen und NGOs wurde auch weiterhin durch willkürliche Einschränkungen behindert. Geschlechtsspezifische Gewalt, Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor weitverbreitet.

Hintergrund

Internationale Enthüllungen über Korruption und menschenrechtswidrige Überwachung belasteten die aserbaidschanischen Behörden. Im Juli 2021 deckte ein von Journalist_innen, Medienorganisationen und anderen Beteiligten betriebenes Rechercheprojekt auf, dass die aserbaidschanischen Behörden die Mobilgeräte Hunderter örtlicher Aktivist_innen und Journalist_innen mithilfe der Spionagesoftware Pegasus des israelischen Unternehmens NSO Group ausspähten. Im Oktober 2021 ergab eine Untersuchung des Internationalen Netzwerks investigativer Journalist_innen, die sogenannten Pandora Papers, dass die Familie des Präsidenten und deren enge Vertraute über Offshore-Firmen verdeckt an Immobiliengeschäften in Großbritannien im Wert von 700 Millionen US-Dollar beteiligt waren.

Im Januar 2021 begann Aserbaidschan mit einer Impfkampagne gegen das Coronavirus. Ab September war für den Zugang zu den meisten öffentlichen Gebäuden ein Impfnachweis erforderlich. Bis Dezember waren 50 Prozent der aserbaidschanischen Bevölkerung einmal gegen das Coronavirus geimpft, und 45 Prozent hatten die zweite Dosis erhalten.

Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Bei der Untersuchung von Kriegsverbrechen und anderen Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht während des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan im Jahr 2020 und unmittelbar danach wurden keine nennenswerten Fortschritte erzielt. Gleiches galt für die strafrechtliche Verfolgung mutmaßlicher Verantwortlicher.

Berichten zufolge wurden mehr als 100 Personen durch Minen getötet oder verletzt, die armenische Streitkräfte in Gebieten deponiert hatten, die Armenien an Aserbaidschan abtreten musste. Bis Ende 2021 soll Aserbaidschan mehr als 60 Gefangene an Armenien übergeben haben. Dies geschah zum Teil im Austausch für Karten von Minenfeldern in den Konfliktgebieten, darunter Agdam, Fizuli und Zangilan. Wie viele Personen genau sich Ende des Jahres noch in aserbaidschanischer Gefangenschaft befanden, war nicht bekannt. In seinem Bericht vom September äußerte der Europarat Besorgnis angesichts der Tatsache, dass Dutzende Gefangene weiter unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und unfairen Schnellverfahren ausgesetzt waren. Außerdem seien Schicksal und Verbleib von etwa 30 armenischen Gefangenen nach wie vor nicht bekannt. Es gab Vorwürfe, wonach sie dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen sind oder möglicherweise getötet wurden.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Im November 2021 nahm der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) Berichte zur Kenntnis, in denen armenischen Streitkräften im Zusammenhang mit bewaffneten Kampfhandlungen im Jahr 2020 in und um die Region Bergkarabach "Verletzungen wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte" vorgeworfen wurden. Dazu gehörte u. a. die Zerstörung von Wohnhäusern sowie Bildungs-, Kultur- und Religionseinrichtungen. Der Ausschuss forderte Aserbaidschan auf, alle im Zusammenhang mit den militärischen Auseinandersetzungen gemeldeten Verstöße zielführend zu untersuchen und den Betroffenen Zugang zu einem wirksamen Rechtsbehelf zu verschaffen.

Rechte von Binnenvertriebenen

Die meisten der 40.000 aserbaidschanischen Zivilpersonen, die während des Konflikts im Jahr 2020 in von der Regierung kontrollierte Gebiete vertrieben wurden, kehrten 2021 in ihre Heimatorte zurück. Für mehr als 650.000 Menschen, die seit den 1990er Jahren Binnenvertriebene waren, war eine sichere und menschenwürdige Rückkehr jedoch aufgrund von Minen, zerstörter Infrastruktur und Verlust ihrer Lebensgrundlagen nach wie vor weitgehend unmöglich.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Friedliche Proteste zu politischen und sozialen Themen wurden weiterhin unter Anwendung unnötiger und unverhältnismäßiger Gewalt von der Polizei aufgelöst, und friedlichen Demonstrierenden drohten willkürliche Verwaltungs- und Strafverfahren.

Am 8. März 2021 nahm die Polizei in der Hauptstadt Baku 20 Aktivistinnen fest, die anlässlich des Internationalen Frauentags einen friedlichen Protestmarsch abhalten wollten. Sie wurden auf die Polizeiwache gebracht und gezwungen, "Erklärungen" zu unterschreiben, bevor sie freigelassen wurden.

Am 1. und 15. Dezember 2021 löste die Polizei, ebenfalls in Baku, friedliche Kundgebungen für die Freilassung des zu Unrecht inhaftierten oppositionellen Aktivisten Saleh Rustamli gewaltsam auf. Die Polizei ging mit exzessiver Gewalt gegen Demonstrierende vor, die bei der Kundgebung am 1. Dezember festgenommen wurden. Zu ihnen gehörte auch der Oppositionelle Tofig Yagoublu, der mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Fünf der am 1. Dezember festgenommenen Demonstrierenden wurden zu bis zu 30 Tagen Verwaltungshaft verurteilt, die übrigen wurden freigelassen.

Im März 2021 wurden 625 Gefangene, darunter 38 Personen, die nach Ansicht lokaler Menschenrechtsgruppen aus politischen Gründen inhaftiert waren, vom Präsidenten begnadigt und freigelassen. Die politisch motivierte Verfolgung und Drangsalierung von Regierungskritiker_innen setzte sich jedoch unvermindert fort, und viele Betroffene blieben inhaftiert.

Der Regierungskritiker Huseyn Abdullayev blieb in Haft, obwohl die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen den Entzug seiner Freiheit als willkürlich betrachtete und UN-Menschenrechtsexpert_innen seine sofortige Freilassung forderten. Im Oktober 2021 wurde der Oppositionelle Niyameddin Ahmedov auf der Grundlage offenbar politisch motivierter Anklagen wegen Volksverhetzung und Terrorismusfinanzierung zu 13 Jahren Haft verurteilt.

Im Januar 2021 wurde der Blogger Sadar Askerov festgenommen, geschlagen und erst wieder freigelassen, als er sich für einen Beitrag entschuldigte, in dem er die Lokalbehörden kritisiert hatte. Im März wurden zwei weitere Blogger, Elchin Gasanzade und Ibragim Salamov, wegen Verleumdung zu acht Monaten Haft verurteilt.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Die Arbeit von Menschenrechtsverteidiger_innen und NGOs wurde weiterhin durch exzessive Beschränkungen in Gesetz und Praxis behindert. Im November 2021 empfahl der CESCR Aserbaidschan, "alle gesetzlichen Bestimmungen aufzuheben, die die Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen unangemessen einschränken".

Im Mai entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass Aserbaidschan 25 NGOs willkürlich die Registrierung verweigert und damit gegen das Recht auf Vereinigungsfreiheit verstoßen habe (Mehman Aliyev und andere gegen Aserbaidschan und Abdullayev und andere gegen Aserbaidschan). Im Oktober stellte der EGMR in einem weiteren Urteil gegen Aserbaidschan fest, dass die Behörden Bankkonten eingefroren und Reiseverbote verhängt hatten, um die Menschenrechtsarbeit einer NGO zu behindern (Democracy and Human Rights Resource Centre und Mustafayev gegen Aserbaidschan).

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Frauenrechtlerinnen, Journalistinnen und Frauen, die der politischen Opposition nahestanden, wurden erpresst und waren entwürdigenden geschlechtsspezifischen Verleumdungskampagnen ausgesetzt, nachdem ihre Konten in den Sozialen Medien gehackt und private Informationen, einschließlich Fotos und Videos, online veröffentlicht worden waren.

Im November 2021 äußerte der CESCR Besorgnis angesichts der hohen Rate geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und der äußerst niedrigen Meldequote, insbesondere bei häuslicher Gewalt. Bemängelt wurde auch die begrenzte Verfügbarkeit von Notunterkünften und Hilfsangeboten für Überlebende häuslicher Gewalt. Trotz anhaltender Forderungen lokaler Frauenrechtsgruppen machten die Behörden keine Fortschritte bei der Unterzeichnung oder Ratifizierung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention). Weiter untergraben wurde der Prozess noch dadurch, dass regierungsnahe Medien den Rückzug der benachbarten Türkei aus der Konvention begrüßten.

Folter und andere Misshandlungen

Berichte über Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor weitverbreitet. Vorwürfe, wonach gefangene armenische Staatsangehörige von aserbaidschanischen Streitkräften gefoltert oder anderweitig misshandelt wurden, sei es bei ihrer Gefangennahme, ihrer Überstellung oder während ihrer Haft, wurden nicht wirksam untersucht.

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