Amnesty Journal Korea (Süd) 06. Januar 2023

Vom Objekt zur Konkurrentin

Eine Wand ist übersät mit Post-it Zetteln, vor der Wand stehen Tische, auf denen in Papier eingeschlagene Blumensträuße abgelegt sind, ein Mann in einem Karohemd beugt sich, während er an der Tischkante etwas aufschreibt, über einen dieser Tische.

Frauen werden in Südkorea benachteiligt und bedroht. Sie befinden sich trotz guter Bildung in prekären Arbeitsverhältnissen, sind durch Stalking und Femizide gefährdet. Nun will die Regierung auch noch das Gleichstellungsministerium abschaffen.

Aus Seoul Felix Lill

Der Eingang zur Toilette einer Bahnstation in Seoul wurde Ende September zu einer Klagemauer. "Ich will nach meinem Arbeitstag noch am Leben sein", war auf einem der kleinen, bunten Zettel zu lesen, die an die Wand ­geklebt worden waren. "Ist es zu viel verlangt, jemandem einen Korb geben zu können, den ich nicht mag?", stand auf ­einem anderen. Kurz zuvor war in jener Toilette eine 28-Jährige, die in der U-Bahnstation gearbeitet hatte, von einem Stalker erstochen worden. Am Tag nach dem Tod der jungen Frau sollte der Tatverdächtige für seine jahrelange Belästigung verurteilt werden. Nun geht es um Mord.

Dieser Fall hat Südkorea wochenlang umgetrieben, obwohl es in den vergangenen Jahren bereits ähnliche Verbrechen gab. Denn erst im Oktober 2021 hatte Südkoreas Parlament ein Anti-Stalking-Gesetz beschlossen. Das erweist sich jedoch als stumpfes Schwert, weil in nur fünf Prozent der dokumentierten ­Stalking-Fälle die Anzeige zur Festnahme der Verdächtigen führt. Kritiker*innen fordern eine Überarbeitung des Gesetzes.

Femizide und Ungleichbehandlung

Regelmäßig brechen in der südkoreanischen Gesellschaft Konflikte auf, die von den Medien als "Geschlechterkrieg" bezeichnet werden. Tatsächlich handelt es sich um vielfältige Diskriminierungen von Frauen – bis hin zur Verletzung ihres Rechts auf Leben. Die Tageszeitung Hankyoreh veröffentlichte Ende 2021 einen Bericht, für den sie 500 Morde an Frauen in den Jahren 2016 bis 2021 verglichen hatte. Demnach waren in 347 der Fälle der Freund oder Ehemann für den Mord verantwortlich. Ein gutes Drittel dieser Täter hatte dem Opfer zuvor Gewalt angetan. Knapp 300 der Morde ereigneten sich in den eigenen vier Wänden.

Femizide, Morde an Mädchen oder Frauen aufgrund ihres Geschlechts, sind ein großes Problem in Südkorea. Doch auch auf dem Arbeitsmarkt und in der Politik spüren Frauen die tägliche Ungleichbehandlung. Sie erhalten geringere Löhne und sind seltener in leitenden Positionen von Unternehmen oder in politischen Ämtern vertreten.

Nach Ansicht von Lee Na-young, Professorin für Genderstudien an der Chung-Ang Universität in Seoul und eine der profiliertesten Feministinnen des Landes, gibt es zwar Fortschritte, doch hinke Südkorea anderen Ländern hinterher: "Das hat historische Gründe", sagt Lee. "Als Frauen anderswo auf der Welt gleiche Rechte einforderten, war Korea von Japan kolonisiert." Das japanische Kaiserreich, das von 1910 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs über die koreanische Halbinsel herrschte, setzte Hunderttausende Frauen als Zwangsprostituierte für japanische Soldaten ein.

Zwangsprostitution durch japanisches Militär

"Das Thema der sogenannten 'Trostfrauen' wurde erst ab den 1990er Jahren öffentlich breit diskutiert, als die ersten Opfer es zum Thema machten", sagt Lee, die auch Vorsitzende des "Korea-Rats" ist, einer Organisation, die sich für die Rechte der Überlebenden von Sexsklaverei durch das japanische Militär einsetzt. Es gebe Parallelen zwischen der Aufarbeitung der damaligen Zwangsprostitution und heutigen Debatten: "Die Forderungen nach ­Geschlechtergleichheit finden heute nur Gehör, weil sich junge Frauen Gehör verschaffen." Ohne den Aktivismus Betroffener tue sich wenig. "Denn in den Machtpositionen sitzen vor allem Männer, die noch ein konservatives Bild gesellschaftlicher Ordnung haben." Doch lassen sich alternative Vorstellungen kaum noch ignorieren. Wiederholt hat es in Seoul in den vergangenen Jahren lautstarke feministische Demonstrationen gegeben.

Allerdings protestieren nicht nur Frauen. Angesichts eines prekären Arbeitsmarkts sehen sich junge Männer häufig diskriminiert, weil sie zusätzlich zur beruflichen Ausbildung noch rund 20 Monate Militärdienst leisten müssen. Der Konkurrenzkampf um sichere Jobs ist hart. Nur rund 60 Prozent der abhängig Beschäftigten haben eine feste Anstellung. Männer fühlen sich besonders unter Druck, weil sie ohne einen sicheren Job schlechtere Heiratschancen erwarten. Frauen wiederum wollen sich zunehmend seltener auf einen männlichen Versorger verlassen.

Ökonomische Konkurrenz sorgt für Spannungen

Um für Balance zu sorgen, schuf die Regierung im Jahr 2001 das Ministerium für Geschlechtergleichstellung und Familie. Doch seit Mai 2022 ist Yoon Suk-yeol Präsident Südkoreas. Der konservative Politiker legte bereits ein halbes Jahr nach seiner Wahl dem Parlament einen Plan zur Abschaffung des Ministeriums vor, weil dies seiner Ansicht nach Männer als "potenzielle Sexverbrecher" behandle. "Yoon behauptete auch, dass es in Süd­korea keine systematische Geschlechterdiskriminierung gebe", erklärt Boram Jang, Ostasien-Experte von Amnesty International. "Die Statistiken sagen jedoch etwas anderes: Der südkoreanische Gleichstellungsindex liegt im Vergleich zu den anderen Industrieländern am unteren Ende." Yoon stößt sich vor allem an einem Gesetz der liberalen Vorgänger­regierung zur Vorbeugung sexuellen Missbrauchs von Frauen. Mit seinen Plänen zur Abschaffung des Ministeriums konnte er sich besonders bei jungen männlichen Wählern beliebt machen.

Der südkoreanische Gleichstellungsindex liegt im Vergleich zu den anderen Industrieländern am unteren Ende.

Boram
Jang
Ostasien-Experte von Amnesty International

Im Gleichstellungsministerium hielt man trotz des Regierungswechsels zunächst an einer frauenfreundlichen Politik fest. Lee Jung-hyun, Sprecherin des Ministeriums, ließ noch im Sommer wissen: "Das Ministerium für Geschlechtergleichstellung und Familie hat in verschiedenen politischen Bereichen wie Geschlechtergleichstellung, Familie sowie Rechte und Interessen von Frauen unabhängige Erfolge erzielt." Dazu gehöre die Reform des Zivilrechts im Jahr 2005, die das traditionelle Hojuje-System abgeschafft hatte, wonach in der Regel der Mann das Familienoberhaupt war. 2008 folgte ein Gesetz zur Förderung von Frauen, die für die Kindererziehung ihre Erwerbstätigkeit unterbrochen hatten. 2018 wurde eine Laufbahn für weibliche höhere Beamte eingeführt. Auch die Unterstützung Alleinerziehender wurde unter dem Einfluss des Ministeriums zumindest etwas verbessert. Hinzu kam 2018 das von Präsident Yoon angefeindete Gesetz zur Vorbeugung sexueller Gewalt an Frauen.

Yoon beteuert, dass er sich für das Wohl von Frauen und Familien einsetzen und viele Aufgaben vom Gleichstellungsministerium auf das Gesundheitsministerium übertragen werde. Auch bei der Verbesserung der angespannten Beziehungen zum Nachbarland Japan spielen Frauenrechte eine Rolle. Die sogenannten "Trostfrauen" warten immer noch auf eine angemessene Entschuldigung durch den japanischen Staat. "Es besteht die ­Befürchtung, dass der Präsident einen schnellen Deal sucht, ohne die Opfer einzubeziehen", sagt Genderforscherin Lee Na-young. Das würde zur neuen Gleichstellungspolitik passen: das Ministerium abzuschaffen und gleichzeitig zu behaupten, man setze sich intensiv für Gleich­berechtigung ein.

Felix Lill ist freier Südostasien-Korrespondent. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

HINTERGRUND

Frauendiskriminierung in Südkorea

International fällt Südkorea durch die starke Diskriminierung von Frauen auf. Der jährliche Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums vergleicht die Geschlechtergleichstellung in den Bereichen Arbeitsmarkt, Politik, Bildung und Gesundheit. Dabei landet Südkorea regelmäßig weit hinten. 2022 belegte das Land Rang 99 von 146 und damit eine der niedrigsten Platzierungen unter den Industriestaaten. Vor allem auf dem Arbeitsmarkt besteht deutliche Ungleichheit. Frauen sind zwar kaum schlechter ausgebildet als Männer, finden sich aber wesentlich häufiger in prekären Arbeitsverhältnissen wieder. Der Gender-Pay-Gap von mehr als 30 Prozent ist der höchste unter den Industriestaaten.

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