Amnesty Journal Indien 24. Januar 2024

Nix auf X

Die Startseite des Twitter-Accounts des indischen Präsidenten Narendra Modi wird auf einem Computerbildschirm dargestellt.

Wie die indische Regierung Kritiker*innen mithilfe der Online-Plattform X zum Schweigen bringt.

Von Oliver Schulz

Das Video ist verstörend. Ein kleiner muslimischer Junge steht im Vordergrund, Klassenkameraden treten vor ihn, um ihn zu schlagen. Die Lehrerin sitzt am Pult und leitet die Schüler dazu an, ihm Ohrfeigen zu geben – weil er angeblich eine Matheaufgabe nicht richtig gelöst hat. Sie äußert sich ­abfällig über "die Muslime" im Land und sagt zu einem Mitschüler: "Warum schlägst du ihn so sanft? Schlag ihn härter!" Kurz darauf fordert sie die Schüler auf, den Jungen auch noch auf den Bauch zu schlagen. "Sein Gesicht ist ja schon rot."

Der Film, der in der zweiten Klasse ­einer Privatschule in Muzaffarnagar im Bundessaat Uttar Pradesh aufgenommen wurde, verbreitete sich schnell in den Online-Netzwerken und wurde als "Muzaffarnagar Incident" bekannt. Die Behörden nahmen zwar Ermittlungen gegen die Lehrerin auf, die auch Leiterin der Schule ist, aber auch gegen Personen, die Informationen zu dem Vorfall verbreiteten. Noch am selben Abend habe die Regierung angekündigt, sie werde gegen entsprechende Veröffentlichungen vor­gehen, berichtet der Aktivist Asif Khan. Ein paar Stunden später hatte X, ehemals Twitter, fünf Posts von Khan zu dem Thema gelöscht.

Lynchattacken gegen Muslime

Eine Erklärung dafür bekam er nicht. "Es gibt ja auch keinen formalen juristischen Prozess dazu", sagt Khan, der sich auf X zu politischen und gesellschaftlichen Themen äußert und antimuslimischen Rassismus bis hin zu Lynchattacken gegen Muslime dokumentiert. "Es muss kein Beweis geführt werden, dass der Betroffene gegen Recht verstoßen hat. Offensichtlich reicht eine simple Notiz an X – und die schalten ab." 

Khans Posts waren nicht die einzigen, die entfernt wurden. Nach dem "Muzaffarnagar Incident" wurden Dutzende X-Posts gesperrt, auch die der Schauspielerin ­Urmila Matondkar und der Journalisten Rohini Singh und Gargi Rawat. Das Vorgehen der Plattform unter Leitung von Elon Musk ist nicht neu. Im Frühjahr hatte X, im Zuge der Fahndung nach dem Sikh-Aktivisten Amritpal Singh, zahlreiche prominente indische Journalist*innen, Politiker*innen und Aktivist*innen blockiert. Auch der Account des Punjabi-Büros der BBC war betroffen. Bereits Anfang des Jahres hatte die indische Regierung X aufgefordert, alle Posts zu entfernen, die Links zur BBC-Dokumentation "India: The Modi Question" enthielten. Der Film befasst sich auch mit der Rolle des heutigen Premierministers Narendra Modi bei den antimuslimischen Pogromen im Bundesstaat Gujarat im Jahr 2002. 

Ein Gesetz aus dem Jahr 2000 (Information Technology Act) erlaubt der indischen Regierung, Inhalte "im Interesse der Souveränität und Integrität Indiens, der Sicherheit des Landes" zu sperren. Der 2021 verabschiedete "Ethikkodex für digitale Medien" verpflichtet Online-Plattformen, nach einer entsprechenden Regierungsanordnung Inhalte innerhalb von 36 Stunden zu entfernen und die Strafverfolgungsbehörden bei Ermittlungen zu unterstützen. Indien gehörte nach Angaben von X in den vergangenen drei Jahren zu den fünf Ländern, die die Plattform am häufigsten aufforderten, Inhalte zu entfernen oder Konten zu sperren. Elon Musk, der neue Chef von X, sei 2022 mit der Ankündigung angetreten, sich für freie Meinungsäußerung einzusetzen, sagt Asif Khan. "Er sollte sich an seinen eigenen Worten messen lassen."

Nachdem ich ein paar Monate lang über antimuslimische Übergriffe militanter hinduistischer Gruppen berichtete, bekam ich am 8. August eine Benachrichtigung von X. Darin stand, dass mein ­Account gesperrt sei, weil ich angeblich ­gegen den Information Technology Act verstoßen habe.

Ahmed
Khabeer
indischer Journalist

Komplett gesperrt wurde kürzlich der X-Account des Journalisten Ahmed Khabeer. "Ich sammle Beweise für die in Indien grassierenden Hassverbrechen. Nachdem ich ein paar Monate lang über antimuslimische Übergriffe militanter hinduistischer Gruppen berichtete, bekam ich am 8. August eine Benachrichtigung von X. Darin stand, dass mein ­Account gesperrt sei, weil ich angeblich ­gegen den Information Technology Act verstoßen habe." Weitere Details seien ihm nicht genannt worden. Ihm sei bis heute nicht bekannt, welche seiner Posts gegen das Gesetz verstoßen hätten.

Khabeer will den Fall nicht auf sich beruhen lassen. Weil X keine schriftliche Begründung für die Entscheidung der ­Regierung vorlegte, will er jetzt beim ­Ministerium für Elektronik und Infor­mationstechnologe eine Kopie der Sperranordnung anfordern. Denn solange er die Gründe für die Sperrung nicht kennt, ist es schwierig, die Entscheidung anzufechten: "Ich habe keinerlei juristische Handhabe gegen die Verletzung meiner Grundrechte."

Online-Kanäle statt klassischer Medien

Das Abschalten und Löschen von Accounts und Posts, das insbesondere von X praktiziert wird, ist deshalb relevant, weil in ­Indien Online-Netzwerke weitgehend die Rolle der klassischen Medien übernommen haben. Hier wird um die Meinungshoheit gekämpft. "Aktionen wie diese können als politisch motiviert gelten, vor allem wenn sie sich gegen regierungs­kritische Einzelpersonen oder Organisationen richten", sagt Khabeer. Die Meinungsvielfalt in Online-Diskussionen werde durch solche Maßnahmen radikal eingeschränkt, kritisiert Khabeer. Asif Khan vertritt dieselbe Auffassung: "In ­Indien gibt es nur die Freiheit des Hasses, nicht die Freiheit der Meinungsäußerung. Dokumentationen von Hassverbrechen werden in Indien heute selbst als Verbrechen behandelt."

Der Druck auf die Online-Netzwerke habe in den vergangenen Jahren zugenommen, stellt Ahmed Khabeer fest. Zuerst seien nur ausländische Accounts gesperrt oder blockiert worden, die etwa zum Thema Kaschmir Position bezogen hätten, dann seien die Konten westlicher Journalist*innen in Indien gesperrt worden, bevor schließlich die ersten gene­rellen Internet-Lockdowns in Kaschmir selbst erfolgten. "Jetzt werden die ersten indischen Accounts dichtgemacht." Khabeer glaubt, dass sich die Maßnahmen noch verschärfen werden: "Das war erst der Anfang. Es wird künftig noch häufiger Parlamentsmitglieder und die politische Opposition treffen." 

Oliver Schulz ist freier Autor und Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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