Amnesty Journal El Salvador 22. Januar 2024

"Mehr als 72.000 Festnahmen"

Eine Frau mit gelocktem Haar trägt eine Bluse, eine Kette mit einer einzelnen Perle daran und eine Brille.

Die Anwältin Zaira Navas von der Menschenrechtsorganisation Cristosal

Im Februar 2024 wählt El Salvador einen neuen Präsidenten. Amtsinhaber Nayib Bukele stellt sich erneut zur Wahl, obwohl die Verfassung eine zweite Amtszeit verbietet. Viele Grundrechte sind ausgesetzt, seitdem im März 2022 der Ausnahmezustand erklärt wurde. Ein Interview mit der Anwältin Zaira Navas von der Menschenrechtsorganisation Cristosal.

Interview: Christa Rahner-Göhring

Welche Konsequenzen hat der Ausnahmezustand für die Bevölkerung?

Seit März 2022, dem Beginn des Ausnahmezustands, bis September 2023 hat die Regierung mehr als 72.000 Menschen festnehmen lassen, die angeblich Mitglieder krimineller Banden sind, Tausende von ihnen willkürlich und ohne vorhergehende Untersuchung. Die Mitgliedschaft in einer kriminellen Bande wurde zu einer terroristischen Straftat erklärt, was wesentlich höhere Strafen nach sich zieht, unter anderem zehnjährige Haftstrafen für Minderjährige. Menschen können ohne richterliche Überprüfung bis zu 15 Tage in Polizeigewahrsam gehalten werden. Richter*innen können in Anhörungen mit bis zu 700 Beschuldigten entscheiden, diese in Untersuchungshaft zu überstellen, die bis zu zwei Jahre dauern kann, ohne dass Beweise vorliegen. Die Betroffenen kennen die Gründe für ihre Inhaftierung nicht und können sich nicht verteidigen.

Wie sind die Haftbedingungen?

Die Haftbedingungen sind unmenschlich. Die Zellen sind stark überbelegt, teilweise ohne Matratzen und mit einem Eimer als Toilette für bis zu 250 Personen; es gibt nur wenig und oft verdorbene Nahrung und keinerlei medizinische Versorgung. Cristosal hat nachgewiesen, dass Gefangene systematisch misshandelt werden. Wir haben rund 180 gewaltsame Todesfälle in staatlichem Gewahrsam bis August 2023 dokumentiert, und es gibt Zeugenaussagen über weitere Verstorbene, die in Massengräbern beigesetzt wurden.

Können die Inhaftierten ihre Angehörigen sehen?

Die Angehörigen wissen in der Regel nichts über das Schicksal der Inhaftierten. Diejenigen Familien, die den Aufenthaltsort kennen, müssen Medikamente, Hygieneartikel und Nahrung ins Gefängnis bringen, die den Gefangenen jedoch meistens vorenthalten werden. Neuerdings sollen die Angehörigen monatlich 150 US-Dollar "Unterhalt" für die Gefangenen bezahlen. Die meisten der betroffenen Familien leben in Armut, und durch den Wegfall des Hauptverdieners wird dies noch verschlimmert. Neben den ­Inhaftierten sind die Leidtragenden vor allem Frauen und Kinder, die in größte wirtschaftliche Not geraten.

Bukele setzt seinen ganzen Apparat ein, um oppositionelle Meinungen zum Schweigen zu bringen.
Mithilfe der Software Pegasus hat die Regierung lange Zeit unbemerkt die Mobilgeräte von Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen ausgespäht.

Warum ist der Zuspruch für die Politik von Präsident Bukele trotz allem immer noch so hoch?

Die Situation ist sehr komplex. Viele Menschen haben Angst, selbst inhaftiert zu werden, wenn sie öffentlich ihre Meinung sagen. Die Betroffenen sind zumeist Menschen mit geringer Bildung und wenig Ressourcen, die ihre Rechte nicht kennen oder nicht wahrnehmen können. Sie sind besonders beeinflussbar, auch von evangelikalen Kirchen, die ihnen einreden, ihr Leiden sei eine gottgewollte Prüfung. Fakt ist aber auch, dass die Regierung sich überall mit der Zahl der Festnahmen, der angeblichen Zerstörung der Banden und der dadurch drastisch gesunkenen Mordrate brüstet. Seit Bukele im August 2022 den öffentlichen Zugang zu statistischen Daten abgeschafft hat, gibt es keine verlässlichen Auskünfte mehr über die tatsächliche Mordrate oder die Zahl der Festnahmen. Damit hat seine Propagandamaschinerie die Definitionsmacht über die öffentliche Meinung. 

Ist die Bandenkriminalität tatsächlich verschwunden?

Es gibt nach wie vor Bandenkriminalität, Menschen werden vertrieben oder verschwinden. Das wird aber nur bekannt, wenn die Betroffenen sich an Menschenrechtsorganisationen wenden. Hinzugekommen ist die Gewalt durch Polizei und Militär, die Erinnerungen an die Zeit des Bürgerkriegs in den 80er Jahren und an die willkürlichen Festnahmen damals weckt. Die Regierung dominiert die Medien und bezahlt Influencer*innen und Trolle, die verkünden, das Land sei jetzt sicher. Wer ständig solche Nachrichten hört, glaubt sie am Ende und beginnt, sich sicher zu fühlen. Und manche führen diese "Sicherheit" auf die Politik der Regierung zurück.

Wie reagiert die Regierung auf Kritik von Menschenrechtsorganisationen?

Bukele setzt seinen ganzen Apparat ein, um oppositionelle Meinungen zum Schweigen zu bringen. Mithilfe der Software Pegasus hat die Regierung lange Zeit unbemerkt die Mobilgeräte von Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen ausgespäht. Viele haben das Land aus Angst verlassen. Eine perfide Strategie der Repression ist es, Aktivist*innen mit Korruptionsvorwürfen zu überziehen. Einige waren in Haft und wurden nur wieder freigelassen, wenn sie sich verpflichteten, zu schweigen. Der Willkür sind keine Grenzen gesetzt, jede Person kann jederzeit ohne Angabe von Gründen inhaftiert werden. Die Regierung weist Kritik oft zurück, indem sie Kritiker*innen der Unterstützung der Banden bezichtigt oder sie sogar beschuldigt, selbst einer kriminellen Bande anzugehören. Wer als Einzelperson oder Menschenrechtsorganisation die Rechte eines Gefangenen auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren einfordert, bringt sich und seine Familie in Gefahr. 

Was können Sie tun, um die Situation zu verbessern?

Das Wichtigste ist, dass sich die Menschen hier über die Situation informieren und nicht der Regierungspropaganda glauben. Cristosal hat Hunderte von Zeugenaussagen dokumentiert und kann belegen, dass Menschenrechtsverletzungen ein gravierendes Ausmaß angenommen ­haben. Auch Amnesty International hat systematische Menschenrechtsverletzungen bestätigt. Das muss international ­bekannt werden.

Was wünschen Sie sich von der internationalen Gemeinschaft?

Wir wünschen uns eine Rückkehr zur Demokratie und zur Einhaltung der Verfassung. El Salvador ist verpflichtet, internationale Standards wie das Recht auf ein faires Verfahren oder zur Behandlung von Gefangenen einzuhalten. Dies sind Forderungen, auf die sich Politiker*innen in Gesprächen beziehen können. Von der deutschen Regierung wünschen wir uns Unterstützung für die Menschenrechts­organisationen vor Ort – durch Kontakte, Besuche und praktische Hilfe.

Die Rechtsanwältin Zaira Navas setzt sich seit mehr als 25 Jahren für Menschenrechte ein. Sie arbeitet für die Menschenrechtsorganisation Cristosal und hat unter anderem Todesfälle in Haft während des Ausnahmezustands untersucht. Zuvor arbeitete sie im Büro des Menschenrechtsbeauftragten von El Salvador, war Direktorin des Nationalrats für Kinder und Jugendliche und Generalinspektorin der Nationalen Zivilpolizei.

Christa Rahner-Göhring ist aktiv in der Amnesty-Ko-Gruppe "El Salvador".

Weitere Informationen zum Ausnahmezustand in El Salvador.

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