Amnesty Journal El Salvador 11. Juli 2022

Festnahmen ohne Ende

Männer tragen nichts als einen Mundnasenschutz und Boxershorts; sie sind hinter Gittern auf mehreren Ebenen übereinander eingepfercht.

Seit März 2022 herrscht in El Salvador der Ausnahmezustand. Die Regierung begründet die Einschränkung der Grundrechte mit Bandenkriminalität. Aber auch Kritiker*innen des Präsidenten geraten unter Druck.

Von Melanie Huber und Christa Rahner-Göhring

Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, gibt es weltweit Kundgebungen und Demonstrationen, so auch in El Salvador. In ­diesem Jahr fanden sie dort allerdings unter besonderer Anspannung statt. Am 27. März hatte die Regierung den Ausnahmezustand verhängt, in der Folge wurden Tausende Menschen wegen mutmaßlicher Bandenmitgliedschaft festgenommen. Am 28. April erklärte Arbeitsminister Rolando Castro, Gruppen, die zu Maikundgebungen aufriefen, sympathisierten mit kriminellen Banden. Polizei- und Militärkontrollen stoppten Busse auf ihrem Weg zu den Demonstrationen und nahmen Personalien auf.

Der salvadorianische Präsident Nayib Bukele veröffentlicht seine Anordnungen bevorzugt über das Online-Netzwerk Twitter. Auch seinen Antrag, das Parlament solle auf einer Sondersitzung den Ausnahmezustand beschließen, publizierte er auf der Plattform. Als offizielle Begründung gilt die Ermordung von 62 Menschen an einem einzigen Tag. Die Regierung macht dafür Banden verantwortlich und will der Bandenkriminalität mit dem Ausnahmezustand ein für alle Mal das Handwerk legen. Es gibt jedoch klare Hinweise darauf, dass damit auch Regierungskritiker*innen zum Schweigen gebracht werden sollen.

Von langer Hand geplant

Dafür traf der Präsident bereits von langer Hand Vorbereitungen. Nachdem seine Partei Nuevas Ideas bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2021 eine ­deutliche Mehrheit erlangt hatte, setzte er kurz darauf fünf Verfassungsrichter und den Generalstaatsanwalt ab. An ihre Stelle rückten Personen, die der Regierungspartei nahestehen. Somit war die Gewaltenteilung abgeschafft, und auch das Parlament richtet sich in seinen Entscheidungen seither nach dem Willen des Präsidenten.

Journalist*innen, Menschenrechts­aktivist*innen, nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen und unabhängige Medien werden öffentlich angegriffen und stigmatisiert. Aufforderungen zur Einhaltung der Grundrechte von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission werden zurückgewiesen, stattdessen gelten diese plötzlich als Unterstützer*innen krimineller Banden.

Am 4. April 2022 schrieb Bukele auf Twitter: "Es ist klar geworden, wer die Partner der Banden sind. Jeder hat sich für sie eingesetzt: Geldgeber, Drogenhändler, korrupte Politiker und Richter, NGOs für 'Menschenrechte', die 'internationale Gemeinschaft', die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte, Journalisten und Medien der offenen Gesellschaft. Ihre Masken sind gefallen." Bukeles Tweets führen häufig dazu, dass seine Unterstützer*innen Menschenrechtsorganisationen in Online-Netz­werken beleidigen und schikanieren.

Razzien gegen Menschenrechtsorganisationen

Bereits im November 2021 stellte die Regierung einen Entwurf für ein "Gesetz über ausländische Agent*innen" vor, das die Arbeit vieler Organisationen vor Ort extrem erschweren würde. Es sieht eine Steuer in Höhe von 40 Prozent auf alle Zuwendungen vor, die NGOs aus dem Ausland erhalten. Aktivitäten, die "die ­Sicherheit des Landes gefährden", sollen verboten werden. Gleichzeitig gingen schwerbewaffnete Sicherheitskräfte mit Razzien gegen mehrere Menschenrechtsorganisationen vor. Im Mai 2022 war das "Gesetz über ausländische Agent*innen" noch nicht verabschiedet worden. Sollte es verabschiedet werden, wäre dies ein schwerer Schlag für Menschenrechtsverteidiger*innen und NGOs.

Die Regierung bedroht zudem Journalist*innen und greift sie sogar direkt an, insbesondere wenn sie die aktuelle Politik kritisieren. Dazu gehört die Online-Zeitung El Faro, die bereits im Herbst 2020 Beweise für eine Absprache zwischen der Regierung und Jugendbanden veröffentlichte. Demnach sollten die Banden die Zahl der Morde drastisch reduzieren, damit die Regierung dies als Erfolg ihrer Verbrechensbekämpfung darstellen und Zustimmung in der Bevölkerung gewinnen könne. Im Gegenzug erhielten offenbar inhaftierte Bandenführer Hafterleichterungen. Selbst Parlamentspräsident ­Ernesto Castro giftete gegen die Journalist*innen, die diese Absprache aufgedeckt hatten. Am 24. April 2022 brüllte er in einer Sitzung: "Ihr meint wohl, wir brauchen euch? Aber das tun wir nicht! Haut doch einfach ab!"

Im Januar 2022 belegte ein Bericht von Amnesty International, dass die Mobiltelefone von Journalist*innen, unter anderem von El Faro, monatelang mit der Spionagesoftware Pegasus abgehört worden waren. Auch Menschenrechtsverteidiger*innen wurden bespitzelt. Ende April wies der IT-Konzern Apple einige Nutzer*innen in El Salvador darauf hin, dass ihre Geräte infiziert sein könnten.

Repressive Gesetze im Eiltempo

Der Ende März verhängte Ausnahmezustand ist ein Freibrief für die Regierung, jegliche Kritik an ihrer Politik zu kriminalisieren und mit Haft zu bestrafen. Dazu verabschiedete das Parlament im Eiltempo ein Gesetz nach dem anderen. So wurden zum Beispiel die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit, das Briefgeheimnis (auch der digitalen Kommunikation) und Grundregeln für faire Verfahren und die Behandlung von Gefangenen außer Kraft gesetzt. Der Ausnahmezustand sollte zunächst 30 Tage dauern. Danach wurde er aber zweimal verlängert.

Das Land erlebt eine beispiellose Welle von Inhaftierungen. Zwischen Ende März und Ende Mai wurden mehr als 37.000 Personen festgenommen. Dabei kommen schwerbewaffnete Sicherheitskräfte zum Einsatz, die an die Situation während des Bürgerkriegs in den 1980er Jahren erinnern. Die Haftbedingungen in den ohnehin überfüllten Gefängnissen wurden noch verschärft, unter anderem durch reduzierte Essensrationen und ganztägigen Einschluss in qualvoller Enge. Bukele selbst, aber auch die Polizei- und Gefängnisbehörden veröffentlichen regelmäßig Videos, die eine grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung von Gefangenen zeigen.

Auch jenseits der Gefängnisse begehen Polizei und Armee schwere Menschenrechtsverletzungen. Bei Razzien in marginalisierten Stadtteilen, in denen sie Mitglieder von Jugendbanden vermuten, nehmen sie Menschen willkürlich fest, ohne ihnen einen Grund dafür zu nennen. Die Betroffenen erhalten erst nach 15 Tagen Zugang zu einem Rechtsbeistand. Häufig wissen ihre Familien nicht, wohin sie gebracht wurden. Selbst 12- bis 15-Jährige werden in Schnellverfahren zu langen Haftstrafen verurteilt. Dabei reicht es aus, dass sie nach Ansicht des Gerichts Mitglied einer Jugendbande sind, die Beteiligung an einem Verbrechen ist für die Verurteilung nicht notwendig.

Amnesty International untersuchte und dokumentierte im Mai 28 Fälle von Menschenrechtsverletzungen und führte vor Ort zahlreiche Gespräche mit Betroffenen und Organisationen. Ein Gesprächsangebot der Amerika-Expertin von Amnesty International, Erika Guevara Rosas, schlug Präsident Bukele aus. Bei einer Pressekonferenz am 2. Juni forderte Amnesty die Regierung auf, Maßnahmen rückgängig zu machen, die gegen die Menschenrechte verstoßen, und in einen Dialog mit Organisationen zu treten mit dem Ziel, eine Politik zu entwickeln, die Sicherheit garantiert und die Menschenrechte achtet.

Melanie Huber und Christa Rahner-Göhring sind in der Amnesty-Koordinationsgruppe El Salvador aktiv.

Weitere Artikel