Amnesty Journal Hongkong 08. September 2023

Angleichung der Verhältnisse

TV-Journalisten in einem Redaktionsraum, ein Mann steht an einem Mikrofon.

Einst war Hongkong eine Hochburg der Pressefreiheit. Heute ist es ein Gefängnis für Journalist*innen. Die Behörden gehen immer rabiater gegen kritische Medien vor. Und doch ist noch nicht alles verloren.

Von Felix Lee

Eine offizielle Lizenz hatte Hongkongs Citizens’ Radio auch früher nicht. Und doch konnte sich der Sender, der stets für Demokratie eintrat, 18 Jahre lang halten. Die Behörden in der südchinesischen Sonderverwaltungszone tolerierten ihn. Mehr noch: Selbst Politiker*innen, die nicht zum demokratischen Lager zählen, gaben dem Sender Interviews. Doch am 30. Juni 2023 war der Sender zum letzten Mal zu hören.

"Die politische Situation in Hongkong ist ins Wanken geraten", sagte Tsang Kin-shing vor der letzten Sendung, die im Beisein zahlreicher Unterstützer*innen in ­einem überfüllten Studio aufgezeichnet wurde. "Wenn wir Gäste einladen, können sie nicht frei sprechen, weil es so viele rote Linien gibt", begründete der 67-Jährige das Aus. Zudem hätten die Behörden auch das Firmenkonto gesperrt, auf dem Spenden eingingen, und den Sender damit finanziell ausgetrocknet.

Seit die Hongkonger Regierung im Juli 2020 auf Druck der chinesischen Führung in Peking quasi über Nacht das Nationale Sicherheitsgesetz erlassen hat, gehen die Behörden der Sonderverwaltungszone massiv gegen pro-demokratische Aktivist*innen und andere kritische Stimmen vor. Viele Aktivist*innen befinden sich inzwischen im Gefängnis, warten auf Gerichtsverfahren oder sind ins Ausland geflohen.

Razzien, Festnahmen, Anklagen

Auch Journalist*innen sind betroffen. Mehrere Medienangebote mussten nach Razzien, Festnahmen und Anklageerhebungen schließen, darunter das populäre Boulevardblatt Apple Daily. Die Tageszeitung gehörte zu den wenigen etablierten Medien in Hongkong, die es noch wagten, die kommunistische Regierung Chinas offen zu kritisieren. Apple Daily wurde 2021 zur Aufgabe gezwungen, der Verleger Jimmy Lai sitzt bereits seit Dezember 2020 im Gefängnis. Dem 75-Jährigen droht lebenslange Haft. Ebenfalls vor Gericht stehen die ehemaligen Chefredakteure der inzwischen geschlossenen Nachrichtenwebseite Stand News.

Das sind nur die offensichtlichsten Fälle. Die Zensur erfolgte bereits, bevor das Nationale Sicherheitsgesetz in Kraft trat. Schon in den Nullerjahren schüchterte die Regierung den öffentlichen Rundfunk ein und ersetzte kritische Journalist*innen durch KP-freundliche Redakteur*innen. Einst renommierte Zeitungen wie Ming Pao oder die englischsprachige South China Morning Post (SCMP) haben sich längst zu regierungsfreundlichen Blättern gewandelt. Eine ehemalige SCMP-Mitarbeiterin berichtet, Dutzenden Journalist*innen sei gekündigt worden oder sie seien freiwillig gegangen, weil sie mit der neuen Blattlinie nicht einverstanden waren.

Das wirkt sich auch auf die lokale Berichterstattung aus. Selbst Kontroversen über Hongkong, die sich gar nicht auf die Führung in Peking beziehen, würden in diesen Medien nicht mehr auftauchen, klagt ein Hongkonger Medienwissenschaftler, der aus Angst vor Repression nicht namentlich genannt werden möchte.

Einst freieste Presse Asiens

Dabei rühmte sich Hongkong einst, die freieste Presse in Asien zu haben. Das war vor 1997, dem Jahr, als Hongkong nach 150-jähriger britischer Kolonialherrschaft an die Volksrepublik China übergeben wurde. Unter dem Motto "Ein Land, zwei Systeme" hatte die Führung in Peking den Bürger*innen Hongkongs für 50 Jahre weitgehende rechtliche, wirtschaftliche und politische Autonomie zugesichert. Anders als im Rest der Volksrepublik, wo die Kontrolle über Medien allgegenwärtig ist, sind in der Sonderverwaltungszone die Rede- und Pressefreiheit sowie Veröffentlichungen gemäß Artikel 27 des Hongkonger Grundgesetzes und auf Grundlage des Artikels 16 der Hongkonger Freiheitsurkunde tatsächlich geschützt.

Die Aushöhlung dieser Rechte erfolgte schleichend: Beobachter*innen stellten schon ab den Nullerjahren eine zunehmende Bedrohung der Pressefreiheit fest. Es gab körperliche Angriffe gegen Journalist*innen und gezielte Angriffe auf liberale Medien. Werbung wurde entzogen, und KP-freundliche Chefredakteure übernahmen. Im Zuge dieser Entwicklung zensierten sich einige kritische Medien selbst.

Im Jahr 2002 stand Hongkong noch auf dem 18. Platz der Rangliste der Pressefreiheit, die die Organisation Reporter ohne Grenzen jährlich veröffentlicht, und konnte mit liberalen Demokratien im Westen mithalten. 2015 war die chinesische Sonderverwaltungszone bereits auf Platz 70 abgerutscht, und mit der Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes 2020 verschlimmerte sich die Lage weiter: Auf der im Mai 2023 veröffentlichten Liste steht Hongkong nur noch auf Rang 140 und gleicht sich damit immer mehr den Verhältnissen auf dem chinesischen Festland an: Die Volksrepublik rangiert auf dem vorletzten Platz aller 180 untersuchten Länder. Reporter ohne Grenzen spricht vom "größten Gefängnis für Medienschaffende weltweit". In China sind derzeit 101 Medienschaffende in Haft, in Hongkong 14. Nur in Nordkorea ist es um die Pressefreiheit noch übler bestellt.

Ein Dutzend Tabuthemen

Doch noch gibt es Unterschiede zwischen Hongkong und der Volksrepublik: Auf dem Festland unterliegen Medien ­einer absoluten Zensur. Sie werden mit täglichen Direktiven zentral gesteuert. Online-Netzwerke aus dem Ausland wie Facebook, Twitter, YouTube und die meisten Google-Dienste sind gesperrt, ebenso die Nachrichtenseiten der New York Times oder des Wall Street Journal. Auch das Internet wird umfassend überwacht. Während es vor dem Amtsantritt Xi Jinpings nur vier Tabuthemen gab, über die chinesische Medien nicht kritisch schreiben durften (die Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989, Tibet, Taiwan und Falun Gong), so sind es heute meh­rere Dutzend.

In Hongkong sind die meisten international genutzten Webseiten und Online-Netzwerke weiter zugänglich. Und es sind meist nur einzelne Artikel, die der Zensur zum Opfer fallen. So war etwa ein Artikel über einen diplomatischen Streit zwischen China und USA, der am 21. Juni auf der Webseite der chinesischsprachigen Zeitung Lianhe Zaobao aus Singapur erschien, in Hongkong nicht abrufbar. In dem Artikel wurde US-Präsident Joe Biden zitiert, der Xi als "Diktator" bezeichnet hatte.

Widerstand kommt von einigen unabhängigen Online-Medien. So gründeten ehemalige Journalist*innen der South China Morning Post das englischsprachige Internet-Angebot Hongkong Free Press, das von Journalist*innen beliefert wird, die in Großbritannien, Taiwan oder Singapur leben. Und im Juni hob das Oberste Gericht in Hongkong die Verurteilung der Investigativjournalistin Bao Choy im Zusammenhang mit regierungskritischen Protesten auf. Choy war einem Angriff auf Demokratie-Aktivist*innen durch eine Gruppe bewaffneter Männer nachgegangen. Ein Richter hatte sie im Jahr 2021 wegen "falscher Angaben" für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Oberste Gericht begründete seine Entscheidung nun mit den "verfassungsmäßig garantierten Rede- und Pressefreiheiten" – ein Zeichen, dass es mit der Freiheit in Hongkong noch nicht ganz vorbei ist.

Felix Lee ist freier Journalist und Autor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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