Amnesty Journal 04. Juli 2022

Endlich in Sicherheit

Ein Mann mit Glatze in einem Anzug; er trägt Hemd und Krawatte, darüber einen V-Ausschnitt-Pullover.

Weil Germain Rukuki in Burundi für eine Menschenrechtsorganisation arbeitete, wurde er wegen "Rebellion" und "Terrorismus" angeklagt und zu 32 Jahren Haft verurteilt. 2021 kam er frei, nun lebt er im Exil in ­Brüssel.

Von Frédéric Valin

Germain Rukuki ist müde, er hat in der Nacht nicht geschlafen. "Wir müssen bald eine neue Wohnung finden", sagt er. "Das ist alles gerade nicht einfach." Er macht eine vage Geste. Seit September 2021 lebt Rukuki in Belgien, geflohen aus Burundi, wo er vier Jahre lang unschuldig im Gefängnis saß. Seine Familie kam im Februar 2022 nach. Da hatten sie sich fast fünf Jahre lang nicht mehr gesehen, seit seiner Inhaftierung im Jahr 2017 waren sie getrennt gewesen.

Die Geschichte der Inhaftierung und unrechtmäßigen Verurteilung Germain Rukukis begann deutlich vorher, im Jahr 2004. Er studierte damals an der Université de Burundi in Bujumbura Wirtschaft, als er beschloss, sich in einer Menschenrechtsorganisation zu engagieren. "Es ist sinnlos, eine Wirtschaft aufbauen zu wollen, solange die Menschenrechte und die Freiheit der Menschen nicht Grundlage des Staates sind", sagt er. "Alles andere kommt danach." Rukuki begann als Freiwilliger für ACAT (Action des Chrétiens pour l’Abolition de la Torture) zu arbeiten, einer christlichen Menschenrechtsorganisation, die sich für die Abschaffung der Folter einsetzt.

Am Rande eines neuen Bürgerkrieges

Zwei Jahre später fing Rukuki an, Gefängnisse zu besuchen und Gefangene zu befragen, um möglichen Menschenrechtsverletzungen nachzugehen. "Bei ­einem meiner ersten Besuche wurden wir auf dem Weg dorthin von Polizisten eskortiert. Irgendwann überholte uns ein Polizeiauto. Die Polizei fing uns ein paar hundert Meter weiter ab, und beschuldigte uns, auf dem Markt einer Stadt, durch die wir gefahren waren, zehn Millionen burundische Francs (umgerechnet nach heutigem Wert knapp 4.500 Euro) gestohlen zu haben. Wir verwiesen auf die Eskorte, die uns durch den Ort geleitet hatte, und der zuständige Kommissar bestätigte, dass wir nichts getan hatten. Die Polizei nahm unser Auto auseinander und fand nichts. Als sie fertig waren, war es aber zu spät, um noch zum Gefängnis zu fahren. Das war eine meiner ersten Erfahrungen in dieser Arbeit."

Rukuki erlebte diese Zeit stets als unsicher und gefährlich, aber das Jahr 2015 verschärfte die politische Situation in Burundi. Oder um es in Rukukis Worten zu sagen: Das war das Jahr, in dem ein Nagel in den Sarg geschlagen wurde. Der damalige Präsident Pierre Nkurunziza ließ sich verfassungswidrig für eine dritte Amtszeit wählen. Expert_innen sahen Burundi, das schon einige Bürgerkriege hinter sich hat, am Rand eines neuen Bürgerkriegs. Nkurunziza verfolgte Menschenrechtsaktivist_innen, die er für Proteste gegen seine Wiederwahl verantwortlich machte. Germain Rukuki erzählt, dass er im Juli 2015 einem Anschlag entging und im September nur knapp einer Entführung entkam. Andere Oppositionelle flohen, 400.000 Menschen verließen das Land. Rukuki beschloss, zu bleiben. Seine Familie brachte er vorübergehend in ­Sicherheit, in Kigali, im benachbarten ­Ruanda. Und er hörte auf, bei ACAT zu ­arbeiten, wo er zum Finanzbeauftragten aufgestiegen war. 2017 ging er zu einer Vereinigung katholischer Juristen, seine Familie kehrte zurück.

Aber die Regierung hatte ihn und sein Engagement nicht vergessen; auch nicht, dass er einen von einer außergerichtlichen Hinrichtung bedrohten Oppositionellen mit dem Auto außer Landes geschafft hatte.

Jahre im Kerker

In der Nacht vom 12. zum 13. Juli 2017 träumte Germain Rukukis jüngster Sohn schlecht. Er wachte mitten in der Nacht auf und weinte. Also nahm Rukuki ihn zu sich und legte ihn auf seinen Bauch; so fand er wieder zur Ruhe. Wenige Stunden später, am frühen Morgen, klopfte es an der Tür: Etwa 30 Polizisten standen davor, einer hatte einen Durchsuchungsbefehl bei sich. Der jüngste Sohn begann wieder zu weinen. Während die Polizisten das Haus durchsuchten, ging Rukuki in den Laden nebenan, um Bonbons zu kaufen; vielleicht würden sie seinen Sohn beruhigen. "Ich habe versucht, so dreinzuschauen, als ob nichts wäre, um meine Familie nicht zu beunruhigen. Aber eigentlich wusste ich, dass nun meine Tage gezählt sind."

Als ihn der Kommissar aufforderte, mitzukommen, macht er drei Kreuze: eines vor dem Gesicht seines jüngeren Sohnes, eines vor dem Gesicht seiner Frau, und eines vor ihrem Bauch; sie war im sechsten Monat schwanger. Der ältere Sohn schlief noch, von ihm verabschiedete er sich nicht. Seine Frau weckte ihn aber gleich, um das Land sofort zu verlassen, nachdem Germain Rukuki abgeführt worden war. Der Kommissar kam nach ein paar Stunden zurück, um auch sie zu festzunehmen. Da war schon niemand mehr im Haus.

Zwei Wochen verbrachte Rukuki in Untersuchungshaft, dann kam er vor Gericht. Er wurde im April 2018 zu 32 Jahren Haft verurteilt, unter anderem wegen "Untergrabung der staatlichen Sicherheit", "Rebellion" und "Terrorismus". Außerdem warf man ihm vor, einen Mordanschlag auf den Präsidenten geplant zu haben. Als er das erzählt, kratzt sich Rukuki am Kopf. "Das ist undenkbar", sagt er, das sei eine vollkommen haltlose Beschuldigung.

Sie haben gehofft, dass ich still in einer Ecke sterbe. Aber das habe ich nicht getan.

Germain
Rukuki

Aufgrund seiner Arbeit für ACAT glaubte er zu wissen, wie es in burundischen Gefängnissen zugeht. "Aber es ist das eine, in Gefängnissen Interviews zu führen und die Vorschriften zu kennen. Wenn das niemand überprüft, sind es nur leere Worte."

Germain Rukuki nennt das Gefängnis "cachot", was so viel wie Kerker bedeutet. Etymologisch stammt das Wort ab von "cacher" (verstecken), und das trifft es gut. "Die Kerker in Burundi sind nicht Teil eines Rechtssystems, sondern Aufbewahrungsorte für Oppositionelle", sagt Rukuki. Dort werden sie vor der Öffentlichkeit verborgen. Wer einen Schlafplatz in einer Zelle wolle, der müsse dafür 50.000 burundische Francs bezahlen (22 Euro); Geld, das dann unter privilegierten Gefangenen und Beamten verteilt werde. Wer nicht zahlt, bleibt unter "menschenunwürdigen Bedingungen" auf dem Flur.

Regierung hintergeht Verfassung

Das Recht auf Gesundheit wird in burundischen Gefängnissen systematisch missachtet. Einmal brach sich Rukuki den Knöchel und musste operiert werden. Nach einer Woche wurde er gegen den ärztlichen Rat zurück ins Gefängnis gebracht. Der Bruch war zwar versorgt, aber die Infektionsgefahr im Gefängnis blieb groß. "Sie haben riskiert, dass mir ein Bein amputiert werden muss." Im Gefängnis bekam er auch Corona, behandelt wurde er allerdings nicht. Stattdessen wurden Masken an Wärter und Mitgefangene verteilt. "Sie haben gehofft, dass ich still in einer Ecke sterbe. Aber das habe ich nicht getan."

Dass es nicht still um Rukuki wurde, daran hat auch Amnesty International großen Anteil. Unterstützer_innen von Amnesty hatten sich unter anderem beim Briefmarathon 2020 für ihn eingesetzt und Hunderttausende Briefe und E-Mails an Burundis Präsidenten geschrieben.

Germain Rukuki sagt, er habe nicht gewusst, in welchem Ausmaß die Regierung die Verfassung hintergehe und das Recht beuge. "Meine Festnahme hat wenigstens etwas Gutes: Es ist offensichtlich, dass die burundische Justiz nur Scherge der Exekutive ist. Die Menschen kennen jetzt die Wahrheit." Kann das ein Anfang sein für einen Umschwung? "Es ist zu früh, dazu etwas zu sagen", antwortet ­Rukuki. "Es wird auf jeden Fall noch ein langer Weg."

Frédéric Valin ist freier Autor und Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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