Amnesty Journal Brasilien 24. Mai 2023

Risiko Recherche

Ein Mann sitzt draußen auf einem Plastikstuhl und schreibt in ein Notizbuch, es ist dunkel, deshalb hält er dabei eine Taschenlampe auf sein Notizbuch gerichtet, um ihn sitzen verschiedene indigene Menschen, Männer und Frauen, Wäsche hängt auf Leinen.

Unter der Präsidentschaft von Jair Bolsonaro gerieten Journalistinnen und Journalisten in Brasilien zunehmend unter Druck. Recherchen zu Politik-, Umwelt- und Wirtschaftsthemen sind bis heute gefährlich. Viele Medienschaffende hoffen jedoch, dass sich die Situation unter der neuen Regierung entspannt.

Von Lisa Kuner

Der britische Journalist Dom Phillips und der brasilianische Indigenen-Experte Bruno Pereia waren im Juni 2022 im Vale do Javari un­terwegs, einem indigenen Territorium im Bundesstaat Amazonas. Sie recherchierten dort für ein Buch, in dem es um Gewalt gegen Indigene und den nachhaltigen Schutz des Regenwalds gehen sollte. Beide waren erfahren und arbeiteten schon lange in der Region. Als sie am 5. Juni nicht an einem verabredeten Ort eintrafen, wuchs die Sorge, es könnte ihnen etwas zugestoßen sein. Zehn Tage später fanden Indigene die Leichen der beiden Männer, die sich für die Rechte indigener Gemeinschaften eingesetzt hatten. Drei Männer wurden festgenommen, die die Morde verübt und die Leichen versteckt haben sollen. Die Ermittlungen zu den Hintergründen dauern noch an.

Die Nachricht erschütterte die Welt und bewies, wie gefährlich journalistische Recherche und Berichterstattung in Brasilien ist. Der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro hatte während seiner Regierungszeit immer wieder gegen die ­Medien gehetzt und unabhängige Recherchen erschwert. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen stieg das Land von Platz 103 im Jahr 2017 auf Platz 110 im Jahr 2022 ab.

Presse systematisch diskreditiert

"Seit Brasilien eine Demokratie ist, war die Lage für Journalist*innen noch nie so schlecht wie derzeit", sagt Katia Brembatti, die Vorsitzende von Abraji, ­einer Vereinigung für Investigativjournalismus. "Wir beobachten seit zehn Jahren, wie die Presse systematisch diskreditiert wird." Die Situation habe sich bereits vor Bolsonaro verschlechtert, während seiner Amtszeit habe diese Entwicklung jedoch eine neue Dimension erreicht, meint Brembatti. Journalist*innen müssten zunehmend um Anerkennung kämpfen. Noch immer gebe es Konflikte mit Anhänger*innen des Ex-Präsidenten, die Medienschaffende verbal, aber auch physisch angreifen würden.

Während seiner Amtszeit hatten es sich Bolsonaro und seine Anhänger*innen zur Gewohnheit gemacht, Journalis­t*innen anzugehen, die vor dem Präsidentenpalast warteten, um Fragen zu stellen. Einige Medien hatten daraufhin ihre Berichterstatter*innen aus Sicherheitsgründen von dort abgezogen.

"Bolsonaro hat seine Anhänger geradezu gegen uns aufgestachelt", bestätigt auch Maurício Angelo, der das Internetportal Observatório da Mineração betreibt, das Recherchen zum Bergbau veröffentlicht. Die Aussage des Journalisten ist nicht übertrieben. Orchestriert von Bolsonaros Sohn Carlos Bolsonaro gab es jahrelang ein sogenanntes "Gabinete do ódio", ein Hasskabinett. Enge Vertraute des Ex-Präsidenten schürten dabei online systematisch Hass auf Medienvertre­ter*in­nen. Vor allem Journalistinnen waren betroffen, viele fühlten sich derart ­bedroht, dass sie ihre öffentlichen Profile in Online-Netzwerken schlossen.

Hassnachrichten und Morddrohungen

Kaum jemand weiß das besser als die Reporterin Patrícia Campos Mello. Sie arbeitet für die Folha de São Paulo, eine der größten Tageszeitungen Brasiliens, und erhält seit Jahren Drohungen. Als sie 2018 über die illegale Wahlkampffinanzierung Bolsonaros berichtete, bekam sie massenhaft Hassnachrichten und Morddrohungen. Zeitweise konnte sie sich nur mit einem Bodyguard bewegen. "Auf diese Folgen meiner Arbeit war ich nicht vorbereitet", sagt sie. Dabei ist Campos Mello eine erfahrene Journalistin, die bereits aus Kriegsgebieten berichtet hat. 2020 behauptete Jair Bolsonaro, die Journalistin habe Informationen nur durch sexuelle Gefälligkeiten erhalten.

Auch auf rechtlichem Weg versuchten Politiker*innen immer wieder, die Arbeit von Campos Mello und anderen einzuschränken und kritische Berichterstattung zu unterbinden, berichtet Katia Brembatti. "Das ist eine völlig irrwitzige und inakzeptable Strategie." Zwar entscheiden die Gerichte meist zugunsten der Journalist*innen, doch die Prozesse sind lang, zermürbend und teuer – viele Medienschaffende haben nicht die Res­sourcen, dies durchzustehen.

Gefährdete Lokaljournalist*innen

"Noch heute laufen wegen meiner ­Berichterstattung einige Prozesse gegen mich", erzählt die Journalistin Campos Mello. Sie hat das Glück, dass sie von einem großen Medium unterstützt wird, während Freelancer*innen und Journalist*innen kleinerer Unternehmen bei solchen Verfahren oft auf sich allein gestellt sind. Campos Mello ist hingegen in der Lage, sich zu wehren: "Ich gehe wegen der sexistischen Attacken gegen einige Personen auch rechtlich vor." Mit Erfolg: 2021 musste Eduardo Bolsonaro, auch er ein Sohn des Ex-Präsidenten, 30.000 Brasilianische Real Schadenersatz an die Journalistin zahlen, weil er Unwahrheiten über sie verbreitet hatte.

Im ländlichen Raum sei die Lage für Journalist*innen noch deutlich schwieriger, berichtet Campos Mello. Die Kol­leg*in­nen hätten dort oft weniger Schutz durch die Öffentlichkeit, weil die Reichweite der Medien geringer sei. "Besonders schwer ist es für Lokaljournalisten kleiner Medien", sagt Maurício Angelo. "Sie arbeiten oft in konfliktreichen Regionen, und ihre Redaktionen können nicht so viel Schutz bieten wie die großer Medien."

Besonders schwer ist es für Lokaljournalisten kleiner Medien. Sie arbeiten oft in konfliktreichen Regionen, und ihre Redaktionen können nicht so viel Schutz bieten wie die großer Medien.

Maurício
Angelo

In abgelegenen Regionen hat sich die Sicherheitslage in den vergangenen Jahren extrem verschlechtert. Unter Bolsonaro wurden Umweltschutzbehörden gezielt geschwächt, was dazu führte, dass ­illegaler Bergbau und Fischfang, Drogenhandel, Schmuggel und Abholzung stark zunahmen. "In der Amazonasregion und in der Region Cerrado ist unsere Arbeit deutlich schwieriger geworden", sagt Angelo. Bei seinen Umweltrecherchen komme er immer häufiger in Kontakt mit illegalen Bergarbeitern und Vertreter*innen der mächtigen Agrarindustrie. Da müsse man sehr vorsichtig sein. Außerdem verweigerten viele Behörden und staatliche Einrichtungen inzwischen die Zusam­men­arbeit mit der Presse. "Sie ignorieren Presseanfragen einfach", erklärt der Journalist. Besonders häufig sei das bei Umweltschutzeinrichtungen der Fall.

Seit Beginn des Jahres regiert nun Luiz Inácio Lula da Silva das Land. Die Amtsübergabe machte Schlagzeilen. Während sich Bolsonaro in die USA abgesetzt hatte, stürmten Hunderte seiner Anhänger*innen am 8. Januar das Parlamentsgebäude, den Sitz des Obersten Gerichtshofs und den Präsidentenpalast in Brasília. Nach Angaben der Organisation Abraji wurden dabei auch 16 Journalist*innen angegriffen, die über die Ereignisse berichten wollten.

"Der Bolsonarismus ist auch nach Bolsonaro nicht weg", stellt Maurício Angelo fest. Inzwischen hätten sich Misstrauen und Hass auf die sogenannten Main­stream­medien in vielen Köpfen eingebrannt. Aber es gibt auch Fortschritte. Die neue Regierung in Brasilien hat eine offizielle Beobachtungsstelle für Gewalt gegen Journalist*innen eingerichtet, auch Abraji arbeitet dort mit. Die Institution hat im Februar ihre Arbeit aufgenommen.

Patrícia Campos Mello wünscht sich eine bessere Zusammenarbeit mit den Behörden: "Regierung und Journalismus sind keine Freunde", sagt sie. "Aber ich hoffe, dass wir eines Tages wieder kritisch berichten können, ohne bei unserer Arbeit Angst zu haben."

Lisa Kuner ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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