Amnesty Journal Belarus 17. November 2023

Im Märchenland des Grauens

Ein Gemälde, das zwei Katzen in Menschengestalt darstellt, hinter ihnen drei Wölfe mit riesigen Augen, die ihre Zunge heraushängen lassen.

In ihrem Album des Widerstands ehrt die Illustratorin Olga Yakubouskaya Menschen, die in Belarus verfolgt werden, weil sie ihre Rechte ausüben.

Böse Wölfe und misshandelte Katzen: In ihren Zeichnungen legt Olga Yakubouskaya die Repression in Belarus offen.

Von Tigran Petrosyan

Olga Yakubouskayas Bilder zeigen die Realität als ein Märchen – die Katzen sind die Guten und die Wölfe die Bösen. Ihre bisher mehr als 200 Illustrationen sind in einem so freundlichen Stil gezeichnet, dass sie auch ein Kinderbuch zieren könnten. Inhaltlich aber erzählt sie von brutalen Schlägen, Gewalt, Erniedrigung und Tod im Gefängnis – und vor allem von mutigen, unzerbrechlichen Menschen, die für Freiheit und Gerechtigkeit in ihrer Heimat kämpfen. In Yakubouskayas Welt verkörpern die Katzen die friedlich protestierenden Belarus*innen und die Wölfe die bewaffneten Kräfte des belarusischen Diktators Alexander Lukaschenko.  

Die 54-jährige ehemalige Kinderbuchautorin begann im August 2020, die Ereignisse in Belarus in Zeichnungen festzuhalten. Damals fälschte Lukaschenko die Präsidentschaftswahl, Hunderttausende gingen auf die Straße. "Es begann der Terror gegen die Zivilbevölkerung. Die Sicherheitskräfte sind Amok gelaufen. Und das hört bis heute nicht auf", sagt Yakubouskaya. "Katzen für die Freiheit" nennt sie ihre Bildreihe. Sie ist den politischen Gefangenen in Belarus gewidmet – oppositionellen Politiker*innen, kritischen Journalist*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen. Yakubouskaya zeichnet sie als plüschige Fellnasen.

Über 1500 politische Gefangene

"Die Schrauben in meinem Land werden immer fester angezogen. Menschen, die in Belarus geblieben sind, sind in großer Gefahr: Jeden Tag wird jemand entführt und ins Gefängnis gesteckt. Es ist ein repressives Fließband", sagt Yakubouskaya. Ihre Zeichnungen sind politisch, auch wenn sie auf den ersten Blick wie aus einem Kinderbuch wirken. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 musste die Künstlerin Belarus verlassen und lebt nun im Exil in der lettischen Hauptstadt Riga.

Nach Angaben der belarusischen Menschenrechtsorganisation Viasna (Frühling) haben der Präsident und die Regierung in Minsk 1.502 politische Gefangene hinter Gitter gebracht (Stand: September 2023). Die meisten wurden im Zusammenhang mit den Protesten vor, während und nach der Präsidentschaftswahl 2020 in Belarus politisch verfolgt. Sie nahmen ihre Rechte wahr – das Recht, an friedlichen Versammlungen teilzunehmen, ihre Meinung zu äußern und sich am politischen Leben des Landes zu beteiligen – und bezahlten dafür mit ihrer Freiheit. Die belarusische Justiz verfolgte sie wegen "Beteiligung an Massenunruhen", "Gründung einer extremistischen Vereinigung" oder "Beleidigung des Präsidenten Lukaschenko". Insgesamt wurden von August 2020 bis September 2023 Viasna-Berichten zufolge mindestens 4.898 Personen aus politischen Motiven strafrechtlich verfolgt. Mindestens 3.763 wurden in politisch motivierten Strafverfahren verurteilt, unter anderem für ihre Antikriegshaltung und für kritische Äußerungen über die Invasion der Ukraine.

Yakubouskaya malt eine Katze mit Brille, die mit zwei Händen ein Herz zeigt. Das ist der Politiker Viktor Babariko – mit diesem Symbol trat er in seiner Kampagne für die Präsidentschaftswahl 2020 auf. ­Babariko wurde zu 14 Jahren verschärfter Haft verurteilt, nur weil er es gewagt hatte, für das Amt des Präsidenten der Republik Belarus zu kandidieren. Man warf ihm vor, er habe durch kriminelle Mittel erworbenes Geld legalisiert und Bestechungsgeld angenommen. Dasselbe Bild zeigt eine zweite Katze, Babarikos Sohn Eduard, der eine Hand auf die Schulter seines Vaters legt und die andere mit dem Victory-Zeichen hebt. Auch er sitzt im Gefängnis.

Es ist möglich, einen Menschen hinter Gitter zu bringen, aber es ist unmöglich das, was er denkt, fühlt, träumt und liebt, in Ketten zu legen.

Olga
Yakubouskaya
Ein Gemälde stellt dar: Einen Mensch mit Mut und Brille, auf seiner linken Schulter ein Engel, der eine Trompete bläst, der Mensch hält sich sein blutendes Herz mit der einen Hand, mit der anderen ein Gewehr, das einen Pinsel an der Spitze hat, Wölfe streunen um diese Person herum.

Künstlerin Olga Yakubouskaya: "Die Schrauben in meinem Land werden immer fester angezogen."

"Es ist möglich, einen Menschen hinter Gitter zu bringen, aber es ist unmöglich das, was er denkt, fühlt, träumt und liebt, in Ketten zu legen", sagt Yakubouskaya. Sie erinnert an die Worte Babarikos: "Wir wählen nicht die Zeiten, in denen wir leben. Aber wir wählen den Weg, den wir gehen müssen."

Auch kritische Journalist*innen werden zum Schweigen gebracht. Die Behörden setzen sie oft mit Extremist*innen gleich und bestrafen sie mit jahrelangen Haftstrafen. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen steht Belarus auf Platz 157 von 180. Nach Angaben der Organisation sind derzeit 37 Medienschaffende in Haft. Dazu zählt auch der Investigativjournalist Denis Ivashin. Er war bekannt für seine Recherchen über den Einfluss der russischen Regierung auf Belarus sowie die Korruption im Land. 2021 wurde Ivashin von Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes festgenommen und im September 2022 zu mehr als 13 Jahren Gefängnis verurteilt.

Der Pinsel als Waffe

Yakubouskaya greift zu den Pinseln: Zwei Wölfe fangen eine Katze, deren Hände auf dem Rücken gefesselt sind. Die Wölfe zeigen ihre Reißzähne und ihre roten Zungen, aus ihren Fängen tropft Blut. Ihre Pfoten sind blutig, ein Wolf hält einen Schlagstock, an dem noch Blut klebt. Den Schlagstock zu spüren bekommen auch Künstler*innen. Ales Puschkin kostete er das Leben. Im Alter von 57 Jahren starb der Maler und Karikaturist im Juli 2023 auf der Intensivstation eines Krankenhauses in Grodna. Er engagierte sich in der Opposition und wurde wegen seines Protests mehrfach verhaftet. Für viele Belarus*innen ist Puschkin zur Symbolfigur der Freiheitsbewegung geworden, auch für Yakubouskaya. Sie zeichnet ihn nach seinem Tod mit Katzenohren und einem Pinsel als Waffe: "Er verkörperte den unbeugsamen Geist des belarusischen Volkes, blieb unbesiegt und war ein Kämpfer bis zur letzten Minute."

Yakubouskaya wiederholt immer wieder einen Satz: "Wir verlieren die besten Söhne von Belarus." Vor einigen Jahren, erzählt sie, schickten Belarus*innen ihre Zeichnungen auf Postkarten an politische Gefangene. Damals erreichten sie ihre Empfänger noch, heute läuft der Repressionsapparat auf Hochtouren.

Eine katze in Menschengestalt, die von zwei lechzenden Wölfen abgeführt wird, die Wölfe haben Blut an den Tazen und an einem Schlagstock.

Der Journalist Dennis Ivashin in den Augen von Olga Yakubouskaya.

Auch Vladislav Bogomolnikov, Priester in der orthodoxen Kirche, gehört zu den Geschichten in Yakubouskayas Album. Aus Solidarität mit den politischen Gefangenen trat der Geistliche in den Hungerstreik, er kritisierte die russische Aggression gegen die Ukraine. Im Dezember 2022 wurde er wieder freigelassen, seitdem ist es still um ihn geworden.

Die Repression des Staatsapparats ­erfahren auch Tausende Kinder und Jugendliche, deren Eltern inhaftiert und strafrechtlich verfolgt werden. Selbst  Minderjährige landen hinter Gittern. Um Aufmerksamkeit auf ihr Schicksal zu lenken, malte Yakubouskaya Nikita Zolotarev. Der Junge, der an Epilepsie leidet, wurde im Alter von 16 Jahren inhaftiert.

Yakubouskay arbeitet weiter an ihrem Album des Widerstands: Sie teilt ihre Zeichnungen online, stellt sie aus, wirbt um Spenden. Das Geld, das so zusammenkommt, schickt sie nach Belarus – an die Kinder im Gefängnis und deren Familien. Sie glaubt an ihre Märchen: Dass die mutigen Menschen von Belarus die Gefängnisse verlassen werden, Tausende Geflüchtete zurückkehren – und die bösen Wölfe am Ende bestraft werden.

Tigran Petrosyan ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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