Aktuell Polen 31. Juli 2020

Häusliche Gewalt während der Corona-Krise: Eine Schattenpandemie verfolgt Europa

Mehrere Frauen mit Mundschutz halten Plakate hoch

Proteste der polnischen Frauenrechtsbewegung unter dem Slogan #WomensStrike gegen die Absicht der Regierung, aus der Istanbul-Konvention auszusteigen, am 24. Juli 2020 in Warschau

Überall auf der Welt gab es in letzter Zeit verstärkt Berichte über Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Durch Lockdowns und andere Restriktionen waren viele Frauen und Mädchen mit denjenigen Personen, die sie misshandeln, eingeschlossen, oder sie hatten keine Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen und Unterstützungsleistungen zu erhalten.

Von Nils Muižnieks, Direktor für Europa bei Amnesty International

Im vergangenen Monat haben die UN vor einer "Schattenpandemie" im Schlepptau von Covid-19 gewarnt: Vor dem globalen Anstieg häuslicher Gewalt.

In Polen könnte die Lage für Frauen und Mädchen noch gefährlicher werden, nachdem Justizminister Zbigniew Ziobro vergangenes Wochenende den Vorschlag gemacht hat, sich aus der Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von häuslicher und anderer Gewalt gegen Frauen zurückzuziehen. Der europäische Vertrag ist ein Meilenstein im Bemühen, Gewalt gegen Frauen zu verhüten, darunter häusliche Gewalt. Der Vertrag sei, so der Minister, "schädlich", da er "ideologische Passagen" enthalte, die den Schulen vorschrieben, Kinder zum Thema Gender zu unterrichten. Kritiker_innen sagen, diese Begründung verdecke den eigentlichen Wunsch der Regierung, das Patriachat zu stärken und gleichzeitig Frauenrechte und die Gleichstellung der Geschlechter zu verteufeln.

Sich von der Konvention zurückzuziehen, wäre ein gefährlicher Schritt mit desaströsen Konsequenzen für Millionen von Frauen und Mädchen und Organisationen, die den Überlebenden von sexualisierter und häuslicher Gewalt lebenswichtige Unterstützung geben.

Nils
Muižnieks
Direktor für Europa bei Amnesty International

Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sagte heute, das Verfassungsgericht solle überprüfen, ob die Konvention in Einklang mit der Verfassung stehe. Das könnte die Entscheidung hinauszögern, ist aber dennoch eine beunruhigende Entwicklung, insbesondere deshalb, weil die Unabhängigkeit des Gerichts in großem Masse beeinträchtigt ist.

Die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und ihre Koalitionspartnerinnen stehen der katholischen Kirche nahe und bringen aktiv eine neokonservative soziale Agenda nach vorn. Seit einigen Jahren befeuert ihre falsche Darstellung von Frauenrechten und Geschlechtergleichstellung als sogenannte "Genderideologie" Angriffe gegen die Rechte von LGBTI. Die Istanbul-Konvention ist populistischen Kräften seit langem ein Dorn im Auge. Sie unterstützen die abwegige Behauptung des Ministers, die Konvention stelle eine Bedrohung "traditioneller Familienwerte" dar.

Hinter seinen Worten verbirgt sich eine tiefe Verachtung der Rechte von Frauen, Mädchen und LGBTI. Sich von der Konvention zurückzuziehen, wäre ein gefährlicher Schritt mit desaströsen Konsequenzen für Millionen von Frauen und Mädchen und Organisationen, die den Überlebenden von sexualisierter und häuslicher Gewalt lebenswichtige Unterstützung geben. Es sendet das Signal, dass es ihre persönliche Sicherheit und ihr Wohlergehen nicht wert sind, geschützt zu werden. Es wäre zudem ein rückläufiger Schritt, was nach internationalen Menschenrechtsnormen verboten ist.

Wenige Ermittlungen wegen Vergewaltigungen

Offizielle Statistiken zeichnen, obwohl unvollständig, ein erschreckendes Bild. Hier die Zahlen für Polen aus dem Jahr 2019: Mehr als 65.000 Frauen und 12.000 Kinder zeigten Vorfälle häuslicher Gewalt an oder wurden nachweislich Opfer häuslicher Gewalt. Doch nur 2.527 Ermittlungen wegen Vergewaltigung wurden aufgenommen. Nichtregierungsorganisation schätzen, dass nur sehr wenige Vergewaltigungen tatsächlich angezeigt werden.

Eine aktuelle europaweite Studie belegt, dass Frauen in Polen weniger häufig häusliche Gewalt anzeigen als Frauen in anderen Ländern der EU. Die niedrige Zahl der Anzeigen bei der Polizei, so zeigen Recherchen von Amnesty International in Europa, steht im Zusammenhang mit einem Mangel an Vertrauen in das Strafjustizsystem und der Sorge der Opfer, dass ihnen nicht geglaubt wird.

Tweets von Amnesty-Expertin Janine Uhlmannsiek:

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Die Istanbul-Konvention schützt Frauen und Mädchen

Seit dem Ausbruch von Covid-19 verzeichnen die Notrufstellen und Frauenhäuser in ganz Europa eine alarmierende Zunahme der Anrufe von Frauen, denen aufgrund des Lockdowns und anderer restriktiver Maßnahmen Gewalt droht. Polen bildet da keine Ausnahme. Einschränkungen können nötig sein, um die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren, doch Staaten sollten in gleicher Weise die Sicherheit von Frauen und Mädchen garantieren. Der Austritt aus der Konvention bewirkt genau das Gegenteil.

Die Istanbul-Konvention sieht einige lebenswichtige Schutzmechanismen für Frauen und Mädchen vor. Es ist der erste europäische Vertrag, der die Eindämmung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zum Thema hat. Die Konvention deckt alle Formen geschlechtsspezifischer Gewalt ab. Länder, die die Konvention ratifiziert haben, darunter auch Polen, sind verpflichtet, die Überlebenden der Gewalt zu schützen und zu unterstützen. Sie müssen zudem Dienstleistungen wie Notrufe, Frauenhäuser, medizinische Leistungen, Beratung und rechtlichen Beistand einrichten.

Bis heute hat die große Mehrheit der europäischen Staaten und der EU als Ganzes die Konvention unterzeichnet, 34 Länder haben sie ratifiziert. Allein 2018 trat die Konvention in neun Ländern in Kraft: in Kroatien, Zypern, Deutschland, Estland, Island, Luxemburg, Nordmazedonien und der Schweiz. 2019 ratifizierte auch Irland nach dem geschichtsträchtigen Referendum, das das fast völlige Abtreibungsverbot im Land beendete, den Vertrag.

Doch in manchen Ländern steht der Wunsch, sich aus der Konvention zurückzuziehen, weit oben auf der Agenda. In der Türkei beispielsweise drücken Frauengruppen ihre Sorge darüber aus, dass angesichts der für den 5. August angesetzten Diskussion des Vorstands der Regierungspartei die Forderungen immer lauter werden, sich aus der Konvention zurückzuziehen, und dies obwohl in den Medien breit von mehreren brutalen Morden an Frauen durch Männer berichtet wird.

Einige Länder wollen aus der Istanbul-Konvention aussteigen

In anderen Ländern wie Bulgarien, der Slowakei und jüngst auch in Ungarn haben die Parlamente die Konvention wegen eines falschen Verständnisses des Begriffs "Gender" nicht ratifiziert, sie ignorieren bewusst die schädliche Wirkung von Geschlechterstereotypen, die Frauen und Mädchen der Gefahr von Gewalt aussetzen.

Ähnliche Fehlvorstellungen blockieren die Ratifizierung der Konvention in der Ukraine. Dort sind die bestehenden Gesetze zur Bekämpfung häuslicher Gewalt bislang nur sehr mangelhaft umgesetzt. Auch wenn die Ratifizierung der Konvention nicht auf der Agenda des ukrainischen Parlaments steht, so hat sich das Land dem Thema nun doch zugewandt, nachdem 25.000 Personen eine Petition unterzeichneten, die den Präsidenten auffordert die Ratifizierung einzuleiten.

2018 entschied das Verfassungsgericht von Bulgarien, dass die Konvention nicht mit der Verfassung in Einklang zu bringen sei, und beförderte damit schädliche Irrtümer über den Geltungsbereich und die Art des Vertrags.

Die Welle der häuslichen Gewalt während der Covid-19-Pandemie zeigt deutlich, dass Regierungen weltweit mehr für den Schutz der Rechte von Frauen und Mädchen tun müssen.

Wenn Polen das Gegenteil täte, würde das eine verstörende Botschaft aussenden. Dass nämlich ein Leben ohne Gewalt für Frauen und Mädchen nicht länger eine Priorität darstellt.

Dieser Artikel erschien am 31. Juli 2020 auf Euronews.

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