Aktuell Israel und besetzte palästinensische Gebiete 15. Dezember 2023

"Wir kämpfen dafür, dass Palästinenser*innen und Israelis wieder als Menschen wahrgenommen werden"

Das Bild zeigt viele Menschen mit einem Protestplakat

"Waffenstillstand jetzt!": Aktion der schwedischen Amnesty-Sektion im November 2023

Der brutale Angriff der Hamas am 7. Oktober und die darauffolgenden israelischen Angriffe haben Tausende von zivilen Opfern in Israel und im Gazastreifen gefordert. Die jüdischen und palästinensischen Mitarbeiter*innen von Amnesty International in Israel arbeiten seither unter schwierigsten Bedingungen. Wie verarbeiten sie Trauer, Traumata und interne Spannungen? Wie kann sich eine Menschenrechtsorganisation in diesem Umfeld für die Menschenrechte aller einsetzen – sowohl in Israel als auch in den besetzten palästinensischen Gebieten? Im Interview beschreibt Moran Avital, Campaignerin bei Amnesty International in Israel, wie sie und ihre Kolleg*innen mit der Situation umgehen.

Wie geht es den Mitarbeiter*innen von Amnesty Israel zwei Monate nach dem schrecklichen Angriff am 7. Oktober 2023? Wie schafft ihr es, eure Arbeit unter diesen Bedingungen fortzusetzen?

Die Kolleg*innen halten durch. Wir machen eine schwere Zeit durch. Sowohl die palästinensischen als auch die jüdischen Mitarbeiter*innen leiden unter posttraumatischen Symptomen wie Schlafstörungen oder plötzlichem Weinen. Leider ist unser Alltag immer noch von großer Trauer geprägt. Am Anfang fiel es uns sehr schwer, zu arbeiten und uns auf unsere Aufgaben zu konzentrieren. Mittlerweile können wir uns wieder mehr auf unsere Arbeit konzentrieren und trotzdem füreinander da sein. Im Großen und Ganzen gelingt es uns, unsere Zusammenarbeit so zu gestalten, dass Konflikte aufgrund nationaler Identitäten vermieden werden.

Wo befinden sich eure Büros? Mit welchen Menschenrechtsthemen beschäftigt ihr euch?

Unsere Büros sind in Tel Aviv. Vor dem Krieg konzentrierten wir uns auf das Recht auf Protest und die Ausweitung der Proteste gegen die Justizreform in Israel, das Recht auf Zugang zu Wasserressourcen in der Westbank und die Apartheid-Kampagne in den besetzten palästinensischen Gebieten im Allgemeinen.

Nach den Angriffen der Hamas und den ersten Bombardierungen des Gazastreifens habt ihr die Social-Media-Kampagne #TheProHumanCamp gestartet. Welche Ziele verfolgt ihr damit? 

Als der Krieg begann, fiel uns sofort der polarisierte Diskurs auf, sowohl in Israel als auch in den USA, Großbritannien und anderen "westlichen Ländern". Jede Seite leugnete oder verharmloste das Leid der anderen. Wir erkennen das Leid der Betroffenen an und lehnen es ab, das Unrecht und den Schmerz, den die eine oder andere Gruppe erfahren hat, zu verharmlosen. Unser Ziel ist es, dass sowohl Israelis als auch Palästinenser*innen, insbesondere die Bewohner*innen des Gazastreifens, in "westlichen" progressiven Kreisen wieder als Menschen gesehen werden. Wir arbeiten auch für eine breite Anerkennung der Ursachen der Gewalt in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten auf beiden Seiten: Apartheid, Besatzung und Unterdrückung auf der einen Seite und eine Ideologie der Vernichtung auf der anderen.

Amnesty-Posting auf X (ehemals Twitter):

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Wie reagiert die israelische Öffentlichkeit?

Die Reaktionen sind zwiespältig. Einerseits fällt es vielen Menschen schwer, sich mit dem Leid der Menschen in Gaza auseinanderzusetzen, während sie noch mit dem Trauma des Massakers vom 7. Oktober zu kämpfen haben. Andererseits suchen sie nach einer Möglichkeit, ihre humanistische Haltung zum Ausdruck zu bringen, die gleichzeitig ihr eigenes Recht auf Leben und Sicherheit berücksichtigt. Vor allem das liberale Lager in Israel ist verunsichert. Es beobachtet eine wachsende Diskrepanz zwischen seinen Werten und den globalen Netzwerken progressiver Kräfte. In der Tat tun sich bei vielen dieser Kreise moralische Abgründe auf, indem sie das Töten von Israelis rechtfertigen und sich damit von einer universellen Menschenrechtsagenda abwenden.

In Deutschland und Europa ist die Debatte über den Konflikt extrem polarisiert. Entweder ist man "pro Israel" oder "pro Palästina". Ausgewogene Stimmen, die versuchen, das Leid und die Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten zu sehen, sind kaum zu hören. Wie läuft die Debatte in Israel?

Leider ist die Situation in Israel nicht viel anders. In der vorherrschenden öffentlichen Wahrnehmung werden alle Bewohner*innen des Gazastreifens als Hamas-Angehörige betrachtet, was eine weitreichende und wahllose Tötung dieser Menschen rechtfertigt. Eine im November 2023 durchgeführte Umfrage des Israel Democracy Institute ergab, dass nach dem kurzzeitigen Waffenstillstand nur eine kleine Minderheit, genauer gesagt sieben Prozent, der Juden*Jüdinnen einen Wechsel zu einer anderen Form des Kampfes befürwortet – um die Zahl der Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung zu reduzieren und den internationalen Druck zu verringern. Wir arbeiten daran, das "Pro-Human Camp" größer und lauter zu machen.

Was sind eure Forderungen? Was muss jetzt passieren?

Unsere Forderungen zielen auf die aktuellen Probleme ab: Mitte Oktober, kurz nach dem Massaker, veröffentlichten das Harvard Center for American Political Studies und "The Harris Poll" eine Umfrage aus der hervorging, dass fast die Hälfte der jungen Amerikaner*innen (18 bis 34 Jahre) glaubt, dass der tödliche Angriff der Hamas auf die Zivilbevölkerung durch "die schwierige Lage der Palästinenser*innen" gerechtfertigt werden kann. Das sind schockierende Ergebnisse. 

Unterdessen rufen in Israel hochrangige Politiker*innen und Regierungsmitglieder dazu auf, den Gazastreifen "auszulöschen". Sie stellen alle Bewohner*innen des Gazastreifens als Hamas-Angehörige dar, um ihre Massentötungen zu rechtfertigen. Die erschreckende Tendenz innerhalb Israels, die Menschen im Gazastreifen – und manchmal auch die Palästinenser*innen insgesamt – zu entmenschlichen, ist inakzeptabel und erfordert scharfe Kritik. Genau dasselbe gilt allerdings auch für die Welle der Entmenschlichung von Israelis und manchmal auch von Juden*Jüdinnen generell. 

Deshalb kämpfen wir dafür, dass Palästinenser*innen und Israelis wieder als Menschen wahrgenommen werden. Wir arbeiten daran, den öffentlichen Diskurs in Israel und im Ausland zu beeinflussen, und hoffen, mit gleichgesinnten lokalen Akteur*innen zusammenarbeiten zu können. Wir hoffen, dass eine Entwicklung hin zu einer menschenfreundlichen Haltung zu einer Veränderung der israelischen Politik gegenüber Gaza und den Palästinenser*innen im Allgemeinen führt und auch zu einer Veränderung der öffentlichen Meinung in den westlichen Staaten, damit diese sich in Zukunft auch für die Menschenrechte der Israelis einsetzen.

Was gibt euch in diesen Tagen Hoffnung und Kraft?

Zivile Initiativen, in denen palästinensische und jüdische Israelis zusammenarbeiten, geben uns Hoffnung. Dazu gehören auch Demonstrationen von Juden*Jüdinnen, die Menschenrechte und den Schutz der Zivilbevölkerung in Gaza fordern, palästinensische und jüdische Politiker*innen ansprechen und Lösungen ansprechen, die kein Blutvergießen beinhalten. 

Was erwarten du und deine Kolleg*innen von der deutschen Öffentlichkeit und Gesellschaft?

Helft uns, die Stimme für die Menschlichkeit zu stärken. Unterstützt unsere Kampagne gegen die Entmenschlichung von Palästinenser*innen, Israelis, Juden*Jüdinnen, gründet unabhängige lokale Initiativen, die sich dafür einsetzen, dass die Bevölkerung die Menschlichkeit auf beiden Seiten sieht. 

Die Kampagne #TheProHumanCamp läuft auf X (ehemals Twitter), Facebook, Instagram und WhatsApp.

Das Bild zeigt das Porträtbild einer Frau

Moran Avital arbeitet seit dreieinhalb Jahren als Campaignerin bei Amnesty in Israel. Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt sie sich beruflich mit der Menschenrechtssituation in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Sie steht kurz vor dem Abschluss ihrer Dissertation, in der sie die Strategien israelischer Menschenrechtsorganisationen in den besetzten palästinensischen Gebieten von 2000 bis 2009 untersucht.

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