Aktuell Vereinigte Staaten von Amerika 10. Januar 2023

Interview mit Rabiye Kurnaz: "Die deutsche Regierung hätte meinem Sohn Murat früher helfen müssen"

Das Bild zeigt das Porträtfoto einer Frau vor einer Lila Haustür

"Die Sorge, ihn nie wiederzusehen". Rabiye Kurnaz über ihren Sohn Murat Kurnaz, der von 2002 bis 2006 im US-Gefangenenlager Guantánamo inhaftiert war.

Vor 21 Jahren, am 11. Januar 2002, wurden die ersten Gefangenen im US-Gefangenenlager Guantánamo inhaftiert. Murat Kurnaz aus Bremen wurde kurze Zeit später ebenfalls dorthin verschleppt, misshandelt und gefoltert. Seine Mutter Rabiye Kurnaz hat zusammen mit dem Rechtsanwalt Bernhard Docke jahrelang für seine Freilassung gekämpft. 

Frau Kurnaz, Ihr Sohn Murat Kurnaz war von Februar 2002 bis August 2006 in Guantánamo in Haft. Denken Sie heute noch an diese Zeit?  

Natürlich, so etwas kann man nicht vergessen. Die Angst um Murat, die bittere Nachricht über Folter, der ganze Medienrummel – das alles war großer Stress. Dazu kam die Sorge, ihn vielleicht nie wiederzusehen. Und ich musste ja auch noch für meine zwei anderen Söhne sorgen.

Wie haben Sie erfahren, dass Ihr Sohn nach Guantánamo gebracht wurde? 

Das teilte mir die Polizei mit. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, was Guantánamo bedeutet, wo es liegt, welche Art von Gefängnis das ist. Außerdem wussten wir nicht, wo und warum Murat festgenommen wurde. Auch die Vorwürfe gegen ihn waren alle unbekannt.

Zusammen mit dem Rechtsanwalt Bernhard Docke haben Sie jahrelang für die Freilassung Ihres Sohns gekämpft. Haben Sie geglaubt, dass Ihr Einsatz jemals Erfolg haben würde? 

Ich dachte zuerst, wenn ich jetzt einen Profi einschalte, ist Murat bald wieder da. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie schwierig es werden würde und wie lange es dauert. Die rechtlichen Fragen waren kompliziert und ich habe sie erst nach und nach verstanden. Ich war empört, dass die US-Regierung alle Menschenrechte missachtet hat.

Das Bild zeigt Soldaten wie sie einen Mann in orangenem Overall abführen. Seitlich ist ein Zaun mit Stacheldraht zu sehen.

Militärpolizisten bringen im US-Gefangenenlager Guantanamo wenige Tage nach dessen Gründung einen Gefangenen zu einer Zelle (18. Januar 2002).

Erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie erfahren haben, dass Ihr Sohn Murat im August 2006 tatsächlich nach Deutschland kommen würde?

Ja, aber ich konnte es erst glauben, als ich Murat wieder in meine Arme schloss. Denn es gab zuvor schon eine sogenannte Scheinfreilassung. Wir wurden informiert, dass Murat angeblich in die Türkei ausgeliefert wurde und reisten in freudiger Erwartung dorthin. Es stellte sich allerdings als Falschmeldung heraus. Was für eine bittere Enttäuschung!

Ihren Einsatz hat Regisseur Andreas Dresen in dem preisgekrönten Film "Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush" dokumentiert. Hat Ihnen der Film gefallen? 

Ja, ich finde den Film sehr gelungen. Die Schauspielerin Meltem Kaptan hat mich toll gespielt, meine Söhne haben in ihr ihre Mutter wiedererkannt. Ich fühle mich durch den Film geehrt, aber werde auch immer wieder traurig, wenn ich mit dieser dunklen Zeit konfrontiert werde. Ich habe Nachrichten über Guantánamo immer ausgeschaltet und Murat auch nicht zu Einzelheiten seiner Gefangenschaft befragt. Sein Buch konnte ich nicht lesen – ich wollte mich dadurch schützen und nicht noch trauriger werden. 

Was halten Sie davon, dass in Guantánamo immer noch Gefangene untergebracht sind? 

Es ist empörend, dass die US-Regierung Guantánamo nicht aufgelöst hat. Und es ist empörend, dass die Folterer straffrei geblieben sind. Eine große Enttäuschung war auch die deutsche Regierung, die Murat früher hätte helfen müssen. Umso wichtiger sind Organisationen wie Amnesty International, die sich aktiv für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen. Nochmals Danke für die Unterstützung. 

 

Fragen: Ralf Rebmann

Das Bild zeigt mehrere Menschen vor dem Brandeburger Tor, in der Mitte ein Schild "Close Guantanamo"

Amnesty-Protest am 10. Januar 2012 in Berlin für die Schließung des US-Gefangenenlagers Guantánamo

Hintergrund

Oktober 2001

Der 19-jährige Murat Kurnaz reist am 3. Oktober 2001 nach Pakistan, um in einer Koranschule mehr über den Islam zu erfahren. Er wird aber abgewiesen und reist im Land umher. Am 7. Oktober beginnt der Afghanistan-Krieg.

November 2001

Kurnaz wird in Peshawar von der pakistanischen Polizei festgenommen und gegen ein Kopfgeld an die US-Armee verkauft. Er wird zuerst in Kandahar (Afghanistan) und ab Anfang Februar 2002 in Guantánamo gefangen gehalten und gefoltert.

September 2002

Kurnaz wird in Guantánamo von deutschen Beamten vernommen, die zur Überzeugung gelangen, dass er unschuldig sei. Die USA signalisieren, dass sie Kurnaz freilassen wollen, Deutschland will ihn aber nicht einreisen lassen.

Oktober 2004

Die Bremer Behörden entziehen Kurnaz im August 2004 die Aufenthaltsgenehmigung. Im Oktober hat er zum ersten Mal seit seiner Verhaftung Kontakt mit seinem Anwalt.

August 2006

Im Oktober 2005 lehnt Deutschland die Einreise von Kurnaz erneut ab. Im Januar 2006 setzt sich Bundeskanzlerin Merkel bei US-Präsident Bush für Kurnaz ein. Am 24. August 2006 wird er den deutschen Behörden übergeben.

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