Aktuell Kultur Chile 11. April 2023

Dokumentarfilm "Mi País Imaginario": Eine Verfassung der Bilder

Das Foto zeigt mehrere Menschen bei einer Demonstration, die Schilder hochhalten und Fahnen schwenken.

Szene aus dem Dokumentarfilm "Mi País Imaginario"

Patricio Guzmán hat mit "Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume" einen mitreißenden Dokumentarfilm über die chilenische Demokratiebewegung gedreht. Der deutsche Kinostart ist am 13. April.

Von Jürgen Kiontke

Kitty ist beim Rettungsdienst. Wenn sie zum Einsatz geht, um Menschen mit zerschossenem Auge zu versorgen, sind drei Helfer um sie herum. Sie halten aus Stahltonnen ausgeschnittene Schilde, um Gummigeschosse und Gasgranaten abzuhalten. Kitty sagt: "Ich bin eher der friedliche Typ. Anders als die Verhältnisse."

Maria wohnt in einer Hütte in der Armensiedlung. "Wer hier lebt, weiß, was abgeht. Arme Menschen werden kritisiert. Die Aufgabe des Staates ist es, das Eigentum der Reichen zu schützen."

Es ist das Jahr 2019, in Chile drängt eine breite Demokratiebewegung auf ein Verfassungsreferendum. Das südamerikanische Land hat eine krasse Eigentumsspreizung, die mit aller Gewalt verteidigt wird. Damit das nicht so bleibt, geht Maria auf die Straße und Kitty versorgt die Verletzten. Sie kämpfen für ein Referendum für eine freiheitliche und umfassende Verfassung. Die Rechte indigener Gemeinschaften sollen festgeschrieben werden und LGBT+-Rechte wie etwa das Recht auf eine gleichgeschlechtliche Ehe. Und auch die Rechte von Flüchtlingen und Migranten. Und dabei soll es nicht bleiben.

Die Staatsmacht reagiert mit exzessiver Gewalt und willkürlichen Verhaftungen. Blindheit ist zum Symbol der Demonstrationen geworden. Gezielt feuern Polizisten mit Gummigeschossen auf die Augen und nehmen schwerste Kopfverletzungen in Kauf.

Amnesty International hat erst kürzlich den Bericht "My Eye Exploded" veröffentlicht: Teilnehmer*innen von Demonstrationen weltweit werden durch den Einsatz angeblich nichttödlicher Waffen dauerhaft geschädigt. Der Bericht dokumentiert auch die Vorfälle in Chile.

Trailer zu "Mi País Imaginario" auf YouTube:

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Die Proteste in Chile, die erst nach einem Jahr abebbten – und auch nur, weil ab 2020 rigide Corona-Maßnahmen in Kraft traten –, führten trotz aller Widrigkeiten dazu, dass ein Verfassungskonvent gebildet wurde, der die ganze Bevölkerung abbilden sollte. Das Gremium erarbeitete eine weitreichende Verfassungsreform.

Proteste und Prozess hat der Regisseur Patrizio Guzmán mit der Kamera begleitet, nun kommt sein intensiver und bildstarker Film "Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume" in die deutschen Kinos. Der 81-jährige Guzmán, 81, gilt als filmisches Gedächtnis des Landes – in seinen Dokumentarfilmen wie etwa "Nostalgie des Lichts" bildet er seit Jahrzehnten die Entwicklungen in Chile ab. Seine neueste Arbeit widmet er vor allem den Frauen in der Demokratiebewegung. Schließlich sei es die in ihren tiefsten Grundzügen patriarchal zugerichtete Gesellschaft, die Transformationen verhindere.

Die derzeit gültige Verfassung stammt noch aus Zeiten der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. Gegen den Diktator wurde immerhin ein Prozess eröffnet, aber die Strukturen seiner Herrschaft blieben auch weiterhin unangetastet - er war es, der das Wirtschaftssystem als sozial völlig unausgeglichenes, brachial-neoliberales Projekt zurichtete.

Die Erhöhung der Preise für U-Bahn-Tickets in Santiago de Chile im Jahr 2019 war der zündende Funke, der den sozialen Protest auf die Straße brachte. Über eine Million Menschen fanden zusammen, um auf den Plätzen für Demokratie, ein gerechteres Bildungs- und Gesundheitssystem sowie eine neue Verfassung zu demonstrieren.

Guzmán lässt die Akteurinnen ausgiebig zu Wort kommen. Nicht nur Maria klagt über hohe Preise und wenig Aussicht, an der prekären Lage etwas ändern zu können.

Aber die Protagonistinnen berichten auch von erstaunlichen Entwicklungen. Da ist zum Beispiel das Konventsmitglied Miranda, eine Studentin, die von sich selbst sagt, sie gehöre zu denen, "die das Drehkreuz übersprungen haben" – sprich, wie so viele nicht mal Geld für eine U-Bahn-Karte besitzen. Und da ist auch die Indigene Elisa Loncón, die als Repräsentantin der Mapuche Präsidentin der verfassungsgebenden Versammlung wurde.

Die Politologin Claudia Heiss sieht in der sozialen Ungerechtigkeit auch die Ursache der Brutalität, mit der nicht nur die Polizei, sondern auch das Militär gegen die Bevölkerung vorgeht. Guzmáns Film präsentiert hier nicht zu knapp Bildmaterial: Polizeipanzer fahren gezielt in die Demozüge, nebeln ganze Stadtviertel mit Tränengas ein. Beamte schießen wahllos auf die Demonstranten, setzen nach und traktieren sie mit Tritten.

"Mein ausgeschossenes Auge" heißt eine Bilderserie von Nicole Kramm. "Du kannst bei jeder Demo schwer verletzt werden", berichtet die Fotografin. Und sterben: 32 Menschen wurden während der Proteste getötet.

Wasserwerfer fahren an Verletzten vorbei, an brennenden Barrikaden und Kirchtürmen, vorbei an zerschossenen Nationalflaggen – an eindringlichen Motiven mangelt es nicht. Guzmáns Land ist und bleibt auch eines der Alpträume. Nicht zuletzt, weil der ausgearbeitete Verfassungsentwurf in der Abstimmung bei der Bevölkerung auffallend deutlich durchfiel. Allzu tiefgreifende Veränderungen schienen erstmal nicht gewollt. Chile arbeitet nun an einem neuen Entwurf.

"Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume". CHL/F 2022. Regie: Patricio Guzmán. Kinostart: 13. April 2023

Weitere Informationen gibt es auf https://www.realfictionfilme.de

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