Pressemitteilung Aktuell Tunesien 24. Juli 2023

Tunesien zwei Jahre nach der Machtergreifung von Präsident Saied: Menschenrechte in Gefahr

Das Bild zeigt viele Menschen mit roten Flaggen, die protestieren

Protest in der tunesischen Hauptstadt Tunis für die Unabhängigkeit der Justiz und gegen Präsident Kais Saied und seine Regierung (13. Februar 2022).

Im zweiten Jahr nach der Machtergreifung durch den tunesischen Präsidenten Kais Saied haben die tunesischen Behörden weitere Unterdrückungsmaßnahmen eingeleitet, indem sie Dutzende Oppositionelle und Regierungskritiker*innen ins Gefängnis gesteckt, gegen die Unabhängigkeit der Justiz verstoßen, institutionelle Menschenrechtsgarantien abgebaut und zur Diskriminierung von Migrant*innen aufgerufen haben. Vor diesem Hintergrund kritisiert Amnesty International die Absichtserklärung zur verstärkten Zusammenarbeit in Migrationsfragen zwischen Tunesien und der Europäische Union.

Die neue Vereinbarung mit der tunesischen Regierung hat das Ziel, Migration zu verhindern und Verantwortung auf Drittstaaten auszulagern. Es ist kein Zufall, dass das Abkommen zeitlich mit der Reform des europäischen Asylsystems zusammenfällt. Die Reformvorschläge sehen vor, die Voraussetzungen für 'sichere Drittstaaten', 'sichere Herkunftsstaaten' und 'erste Asylstaaten' erheblich abzusenken. 

Sophie Scheytt, Expertin für Asylpolitik bei Amnesty International in Deutschland: "Dekret für Dekret, Schlag für Schlag haben Präsident Saied und seine Regierung seit seiner Machtübernahme im Juli 2021 die Achtung der Menschenrechte in Tunesien drastisch ausgehöhlt. Das Schweigen der Europäischen Kommission zu diesen Menschenrechtsverletzungen ist ohrenbetäubend. Während Oppositionelle, Menschenrechtsverteidiger*innen und Anwält*innen inhaftiert und hunderte Migrant*innen in der Wüste ausgesetzt werden, signalisiert die Kommission durch das neue Abkommen: Die EU wird bei zukünftigen Menschenrechtsverletzungen wegsehen, solange Tunesien die EU dabei unterstützt, Menschen von der Flucht abzuhalten. Durch das Abkommen macht sich die EU mitverantwortlich für zukünftige Menschenrechtsverletzungen."

Das Bild zeigt eine Frau links am Podium mit Mikrofon und ein Mann rechts, daneben die EU-Flagge und die tunesische Flagge

Setzen beide auf eine Migrationspolitik, die Menschenrechte verletzt: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der tunesische Präsident Kais Saied bei einem gemeinsamen Treffen in Tunis (16. Juli 2023).

Repressionen gegen die Zivilgesellschaft 

Seit Februar 2023 sind die Behörden immer wieder mit konstruierten Vorwürfen und Festnahmen gegen Oppositionelle, Regierungskritiker*innen und vermeintliche Feind*innen von Präsident Saied vorgegangen.

Seit dem 25. Juli 2021 hat Amnesty International die Fälle von mindestens 39 Personen dokumentiert, die allein wegen der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung strafrechtlichen Ermittlungen ausgesetzt waren. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, die Behörden "beleidigt" oder "Falschnachrichten verbreitet" zu haben, beides keine anerkannten Straftatbestände nach internationalem Recht. Als weitere repressive Maßnahme erließ Präsident Saied im September 2022 per Gesetzesdekret 54 ein drakonisches Cybercrime-Gesetz, das die Behörden mit umfassenden Machtbefugnissen zur Einschränkung der freien Meinungsäußerung im Internet ausstattet. 

"Die tunesischen Behörden müssen der Unterdrückung der Menschenrechte, durch die die hart erkämpften Errungenschaften der Revolution 2011 immer mehr erodieren, sofort beenden. Dazu müssen sie zunächst alle willkürlich Inhaftierten freilassen und von strafrechtlichen Ermittlungen und Verfolgungen gegen Oppositionelle, Menschenrechtsaktivist*innen und andere Personen absehen, die lediglich ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung wahrnehmen. Die tunesischen Behörden müssen unverzüglich von dieser Politik ablassen und ihren internationalen Menschenrechtsverpflichtungen nachkommen", so Scheytt. 

Tweet von Katja Müller-Fahlbusch, Expertin für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International in Deutschland:

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Gewalt gegen Schwarze Menschen

Im Februar 2023 führte eine Reihe rassistischer Kommentare von Präsident Saied zu einer Welle von Gewalt gegen Schwarze Menschen, die sich in Form von Angriffen, Zwangsräumungen und der willkürlichen Festnahme von Migrant*innen afrikanischer Herkunft äußerte. Die Polizei nahm mindestens 840 Migrant*innen fest. In den beiden Wochen nach den rassistischen Äußerungen des Präsidenten nahmen Angriffe auf Schwarze Menschen erheblich zu. Menschenmengen gingen auf die Straße und griffen Schwarze Menschen an. 

"Amnesty International ist entsetzt darüber, dass die EU-Kommission erneut die Verhinderung von Migration über den Schutz von Menschenrechten stellt. Die Kommission hat scheinbar keine Lehren aus früheren Abkommen und dem daraus resultierenden Kreislauf von Gewalt und Missbrauch gezogen. Migrationsabkommen sollten Migration ermöglichen, anstatt sie zu verhindern. Die Kommission muss nun Klarheit über die geplante Rechtsnatur des Abkommens schaffen und die anderen EU-Institutionen in das weitere Verfahren einbeziehen. Wir brauchen mehr Transparenz über den tatsächlichen Inhalt der Absprachen und die geplante finanzielle und technische Unterstützung. Bei den weiteren Verhandlungen gilt es, klare menschenrechtliche Vorgaben und Überprüfungsmechanismen zu etablieren", so Scheytt.

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