Artikel China 12. Januar 2022

"Sportswashing" bei den Olympischen Winterspielen in China

Hintergrund und Forderungen
Ein Sportstadium bei Nacht, in dem viele Menschen sind. Mit Lichteffekten sind im Nachthimmel die fünf olympischen Ringe zu sehen.

Bereits 2008 fanden Olympische Spiele in China statt

Im Februar und März 2022 werden die Olympischen und Paralympischen Winterspiele in der chinesischen Hauptstadt Peking stattfinden. Damit ist China zum zweiten Mal in der Geschichte Gastgeber der Olympischen Spiele. Zum ersten Mal hat China sie im Jahr 2008 ausgerichtet. Damals versprachen die chinesischen Behörden, dass die Olympischen Spiele mit einer Verbesserung der Menschenrechtslage in China einhergehen würden. Dies geschah jedoch nicht. Stattdessen verschlechterte sich die Menschenrechtssituation in den vergangenen zehn Jahren immer weiter, insbesondere nachdem Xi Jinping 2013 Präsident wurde.

Mit der diesjährigen Ausrichtung der Olympischen und Paralympischen Winterspiele will die chinesische Regierung zeigen, wie sehr China seit den Sommerspielen 2008 an Bedeutung gewonnen hat. Sie will den Status Chinas als Supermacht hervorheben und die miserable Menschenrechtslage im Land vertuschen. Dieses Vorgehen kann mit dem Begriff "Sportswashing" umschrieben werden: China nutzt das große Interesse am Sport, dessen Prestige und Glamour, um mit den Olympischen Spielen Imagepflege zu betreiben und von der schlechten Menschenrechtsbilanz abzulenken.

Die internationale Gemeinschaft muss diese Gelegenheit nutzen, um die chinesische Regierung daran zu erinnern, dass die Achtung der Menschenrechte grundlegende Voraussetzung dafür ist, dass China eine verantwortungsvolle Führungsrolle in der Welt übernimmt und von anderen so wahrgenommen wird. China darf die Olympischen Spiele nicht dazu nutzen, seine Menschenrechtsbilanz auf sportlicher Ebene reinzuwaschen. Die Menschenrechte müssen in diesem Winter in Peking im Mittelpunkt des Interesses stehen.

Die Uigurin Hayrigul Niyaz und die Bürgerjournalistin Zhang Zhan sind zwei der unzähligen Menschen, die die Konsequenzen der Menschenrechtsverletzungen in China mit voller Härte zu spüren bekommen.

Wir fordern die chinesischen Behörden deshalb auf, die beiden willkürlich inhaftierten Frauen sowie alle anderen Menschen, die nur aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder wegen der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung verfolgt werden oder inhaftiert sind, freizulassen und die gegen sie erhobenen Anklagen fallen zu lassen. Die Internierungslager in Xinjiang, in denen Menschen ohne einen international anerkannten Haftgrund festgehalten werden, müssen umgehend geschlossen werden.

Bis zur Freilassung von Hayrigul Niyaz und Zhang Zhan sollen die chinesischen Behörden umgehend den genauen Aufenthaltsort der beiden Frauen bekanntgeben und sicherstellen, dass sie während ihrer Haft nicht gefoltert oder anderweitig misshandelt werden. Der regelmäßige und uneingeschränkte Zugang zu ihren Familien, zu Rechtsbeiständen ihrer Wahl sowie, soweit erforderlich, zu medizinischer Versorgung muss sichergestellt werden.

Darüber hinaus fordern wir die chinesischen Behörden auf, im Einklang mit ihren olympischen Versprechen:

  • Die uneingeschränkte Medienfreiheit zu gewährleisten, einschließlich des ungehinderten Zugangs zum Internet, für chinesische und internationale Journalist_innen in allen Teilen Chinas vor und während der Olympischen Spiele.
  • Sicherzustellen, dass es während der Olympischen Spiele die Möglichkeit gibt, friedlich zu demonstrieren und dass Einzelpersonen, die sich an diesen Demonstrationen beteiligen, nicht bestraft werden.

Empfehlungen an das Internationale Olympische Komitee (IOC)

Im Einklang mit der Resolution Promoting human rights through sport and the Olympic ideal, die am 22. Juni 2020 vom UN-Menschenrechtsrat verabschiedet wurde, fordert Amnesty International das IOC auf, die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (UN-Leitprinzipien) vollständig in seine Arbeit einzubeziehen. Amnesty International erkennt die Bemühungen des IOC an, einen strategischen Rahmen für Menschenrechte zu entwickeln, um seine Verantwortung und Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte umfassend zu erfüllen. Wir fordern das IOC auf, diesen Prozess zu beschleunigen und unverzüglich eine IOC-Menschenrechtsstrategie zu verabschieden, die die Einbeziehung der Interessengruppen sicherstellt und die wichtigste Formulierung seiner übergreifenden Menschenrechtspolitik in wichtigen olympischen Dokumenten wie der Olympischen Charta enthält.

Das IOC sollte nicht auf die Verabschiedung seines strategischen Rahmens für Menschenrechte warten, um seiner Verantwortung gemäß den UN-Leitprinzipien nachzukommen. Amnesty International fordert das IOC dringend auf, eine menschenrechtliche Sorgfaltsprüfung durchzuführen und seine Sorgfaltsprüfungsrichtlinien und -praktiken in Übereinstimmung mit internationalen Standards öffentlich zu machen, um nachteilige Auswirkungen auf die Menschenrechte in allen seinen Tätigkeiten, Geschäftsbeziehungen und Lieferketten rechtzeitig zu erkennen, zu verhindern, abzumildern und zu beheben. Dies sollte auch die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht im Zusammenhang mit den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking einschließen, und zwar sowohl während der Vorbereitung auf die Spiele als auch während der Spiele selbst.

Das IOC sollte außerdem darauf bestehen, dass die chinesischen Behörden ihre Versprechen bezüglich der Meinungsfreiheit im Zusammenhang mit den Spielen einhalten. Dazu gehören Versprechen bezüglich der Gewährleistung der Medienfreiheit vor und während der Olympischen Spiele und bezüglich der Bereitstellung von Protestzonen während der Olympischen Spiele.

Das IOC sollte das Recht der Athlet_innen und Sportfunktionär_innen auf freie Meinungsäußerung respektieren und nicht versuchen, sie davon abzuhalten oder gar zu bestrafen, wenn sie sich für die Menschenrechte einsetzen oder ihre Solidarität mit Menschen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen sind, zum Ausdruck bringen, auch nicht in Gebieten, die von den chinesischen Behörden als "sensibel" eingestuft wurden. Das IOC sollte dafür sorgen, dass die Athlet_innen bei den Olympischen Spielen ausreichend Gelegenheit haben, sich zu äußern. Zumindest sollte das IOC die Guidelines for Athlete Expression at the 2020 Tokyo Olympics, die bei den Olympischen Spielen in Tokio 2020 Anwendung fanden, auch bei den Olympischen Winterspielen 2022 zugrunde legen und dabei sicherstellen, dass alle Maßnahmen, die die Meinungsfreiheit einschränken, unbedingt notwendig und rechtmäßig sind.

Empfehlungen an die Nationalen Olympischen Komitees (NOKs):

  • Die NOKs sollten den Wunsch der Athlet_innen und Sportfunktionär_innen respektieren, sich für die Menschenrechte und gegen Menschenrechtsverletzungen in China auszusprechen, und in keiner Weise versuchen, sie davon abzuhalten, dies zu tun. Amnesty International fordert die NOKs außerdem auf, sicherzustellen, dass alle Athlet_innen und andere Mitglieder ihrer nationalen Delegation bei den Olympischen Winterspielen in Peking Zugang zu Informationen über Menschenrechtsfragen in China haben. Amnesty International ermutigt die NOKs auch, ihre nationalen Delegationen über Menschenrechte zu informieren, als Teil ihrer allgemeinen Bemühungen, die Athlet_innen (und andere) auf ihrer olympischen Reise zu begleiten und zu unterstützen.
  • Die NOKs sollten keine Strafmaßnahmen gegen ihre Athlet_innen oder Funktionär_innen ergreifen, wenn diese über Menschenrechtsverletzungen in China oder anderswo sprechen.

Empfehlung an Regierungen anderer Länder

Amnesty International ruft die Vertreter_innen von Regierungen und Staaten, einschließlich derer, die an den Olympischen Spielen teilnehmen wollen, dazu auf, ihren Einfluss auf die chinesischen Behörden geltend zu machen, um Maßnahmen im Sinne der oben genannten Empfehlungen zu ergreifen. Wir fordern die Regierungen nachdrücklich auf, ihre Menschenrechtsbedenken öffentlich zu äußern und sich für Zhang Zhan sowie Hayrigul Niyaz einzusetzen, wann immer dies angebracht ist.

 

Hintergrund

Hintergrund

Meinungsfreiheit in China

Unter den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, die von den chinesischen Behörden begangen werden, erfordern die systematischen Verstöße gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung bei den Olympischen Spielen 2022 besondere Aufmerksamkeit.

Es ist höchst problematisch, dass die chinesische Regierung zwar ein sportliches Großereignis ausrichtet, das den internationalen Austausch und die gegenseitige Verständigung fördern soll, gleichzeitig aber ein System massiver Zensur und erdrückender Kontrolle einsetzt.

Zensur

Die chinesische Regierung kontrolliert immer schärfer, was die chinesische Bevölkerung von der Welt sehen und was sie darüber sagen kann. Die Regierung übt eine extreme Internetzensur aus und sperrt Social-Media-Kanäle und Tausende von Websites. Chinesische Journalist_innen unterliegen einer strengen Zensur: Nachrichten, die als zu regierungskritisch gelten, werden von einer Armee von Zensurbeauftragten schnell entfernt und abweichende Meinungen hart bestraft. Auch die rasche Verschlechterung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und anderer Menschenrechte in Hongkong zeigt deutlich, wie die Mechanismen der Zensur in der Volksrepublik China funktionieren. Zu den Gruppen, die von Chinas anhaltenden Angriffen auf die Meinungsfreiheit besonders hart betroffen sind, gehören unter anderem Bürgerjournalist_innen, Akademiker_innen, Menschenrechtsanwält_innen und andere Menschenrechtsverteidiger_innen sowie ethnische und religiöse Minderheiten, zum Beispiel in der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang. Um Angehörige vorwiegend muslimischer Minderheiten wie Uigur_innen und Kasach_innen systematisch zu unterdrücken, nutzen die chinesischen Behörden in Xinjiang unter anderem ein ausgeklügeltes System zur Massenüberwachung. Darüber hinaus werden diese zu Unrecht in Internierungslagern festgehalten, gefoltert und misshandelt.

Chinesische Zensur im Ausland

Die chinesische Regierung versucht nach und nach, ihre Zensur auch weltweit durchzusetzen. Ausländische Journalist_innen in China, die sich kritisch über die chinesischen Behörden äußern, sehen sich zunehmend mit systematischen Verzögerungen und Verweigerungen von Visaverlängerungen bis hin zur Ausweisung konfrontiert. China weigert sich hartnäckig, Forderungen der internationalen Gemeinschaft nach ungehindertem Zugang für Recherchen und Berichte über die Autonome Uigurische Region Xinjiang und andere Regionen zu erfüllen, obwohl die Regierung behauptet, dass dort keine Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Chinesische Technologieunternehmen, die außerhalb Chinas tätig sind und sich an die inländischen Zensurvorschriften halten, blockieren und zensieren Inhalte, die als "politisch brisant" eingestuft werden, einschließlich Kritik an der chinesischen Regierung.

China muss sich an die Menschenrechtsstandards halten

China bekennt sich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und hat das Recht auf freie Meinungsäußerung in seiner Verfassung verankert (Artikel 35). Darüber hinaus haben die chinesischen Behörden bei der Bewerbung um die Olympischen Winterspiele 2022 mehrere Versprechen in Bezug auf die Meinungsfreiheit abgegeben. Sie gaben an, dass Medien, die über die Spiele berichten wollen, freie Berichterstattung und ungehinderten Internetzugang haben würden und auch über die Vorbereitungen für die Spiele berichten dürften. Sie sicherten auch zu, dass es während der Spiele ausgewiesene Protestzonen geben werde.

Nach den internationalen Menschenrechtstandards darf niemand allein deshalb inhaftiert werden, weil er sein Recht auf freie Meinungsäußerung oder ein anderes Menschenrecht wahrnimmt. Bei den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking sollte die internationale Gemeinschaft darauf bestehen, dass sich die chinesische Regierung an die Menschenrechtsregeln hält.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Xinjiang

Xinjiang ist eine ethnisch äußerst vielfältige Region im Nordwesten Chinas. Mehr als die Hälfte der dort lebenden 22 Millionen Menschen gehören zu überwiegend türkischen und meist muslimischen ethnischen Gruppierungen, darunter Uigur_innen (etwa 11,3 Millionen), Kasach_innen (etwa 1,6 Millionen) und andere Bevölkerungsgruppen, deren Sprachen, Kultur und Lebensweise stark von denen der Han-Chines_innen abweichen, die in China in der Mehrheit sind.

Unter dem Deckmantel der "Terrorismusbekämpfung" und des Vorgehens gegen "religiösen Extremismus" sind in Xinjiang lebende Muslim_innen massiven und systematischen Repressionen ausgesetzt. Seit 2017 befinden sich in dieser Region vermutlich mehr als eine Million Menschen in Haft.

Der 2021 erschienene Bericht "Like We Were Enemies in a War": China’s Mass Internment, Torture, and Persecution of Muslims in Xinjiang ist der bisher umfassendste Bericht von Amnesty International, der die Repression von Uigur_innen, Kasach_innen und anderen Angehörigen mehrheitlich muslimischer Bevölkerungsgruppen in Xinjiang dokumentiert. Der Bericht bietet eine faktische Grundlage für die Annahme, dass die chinesische Regierung in Xinjiang mindestens folgende Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat: Inhaftierung oder andere schwerwiegende Freiheitsberaubungen, die gegen die internationalen Menschenrechtsnormen verstoßen, sowie Folter und systematische Verfolgung.

Die chinesischen Behörden bestritten bis Oktober 2018 die Existenz von "Umerziehungseinrichtungen". Danach erklärten sie, die Menschen seien freiwillig in diesen Lagern und würden eine Berufsausbildung erhalten. Im Widerspruch zu diesen Erläuterungen stehen allerdings die Berichte von ehemaligen Insass_innen dieser Lager, die Schläge, Nahrungsentzug und Isolationshaft beschreiben.

Vertuschung durch die chinesischen Behörden muss enden

Die chinesische Regierung unternimmt außerordentliche Anstrengungen, um ihre Verstöße gegen internationale Menschenrechtsnormen in Xinjiang zu vertuschen. Die Regierung ist bisher den Aufforderungen der internationalen Gemeinschaft und auch Amnesty Internationals nicht nachgekommen, unabhängige Expert_innen uneingeschränkt nach Xinjiang einreisen zu lassen. Wer sich öffentlich zu Xinjiang äußert, wird von den Behörden bedroht, inhaftiert und misshandelt. Das Schicksal hunderttausender Inhaftierter ist unbekannt. 

Jetzt, anlässlich der Olympischen Winterspiele 2022, sollte die gesamte internationale Gemeinschaft die chinesische Regierung auffordern, ihr echtes und nachhaltiges Engagement für einen besseren Schutz der Menschenrechte unter Beweis zu stellen.

Fordere die Freilassung der Bürgerjournalistin Zhang Zhan und der Uigurin Hayrigul Niyaz.

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