Amnesty Report Südafrika 28. März 2023

Südafrika 2022

Demonstrierende Menschen mit Transparenten

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Geschlechtsspezifische Gewalt und Schwangerschaften von Minderjährigen nahmen weiter zu. Der Klimawandel und Missmanagement der Behörden verschlimmerten die Auswirkungen zweier Überschwemmungen in der Provinz KwaZulu Natal. Die Wasserversorgung brach zusammen, und Menschen, die aus den Hochwassergebieten flohen, hatten keinen Zugang zu Medikamenten und medizinischer Versorgung. Die sanitären Einrichtungen an öffentlichen Schulen waren weiterhin unzureichend. Die Zahl der in informellen Siedlungen lebenden Haushalte stieg an. Die migrationsfeindliche Bewegung Operation Dudula weitete ihre Aktivitäten auf drei weitere Provinzen aus. Rassistisch motivierte Gewalt führte zu Toten und Verletzten. Die Polizei ging weiterhin mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Proteste vor und verletzte damit die Rechte auf Leben und Sicherheit der Person. Die Behörden sorgten nicht dafür, dass die Bergbauindustrie Standards einhielt, die dazu dienten, Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Es gab keine gesetzlichen Grundlagen, um die Regierung und Privatunternehmen bezüglich der Einhaltung von Klimaschutzverpflichtungen zur Rechenschaft zu ziehen.

Hintergrund

Zehn Jahre nach dem Massaker von Marikana, bei dem die Polizei auf streikende Bergarbeiter geschossen und 34 Menschen getötet hatte, war die Aufarbeitung der Ereignisse weiterhin unzureichend.

Die Untersuchungskommission, die Vorwürfen der Unterwanderung des Staates zugunsten privater Interessen nachgehen sollte, veröffentlichte ihren Bericht. Darin wies sie auf mutmaßliche Korruption und andere Formen des Machtmissbrauchs hin, die in Südafrika als "Unterwanderung des Staates" (State Capture) bekannt sind. Es wurde ein neues, unabhängiges Gremium eingesetzt, das prüfen sollte, ob Gründe für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Cyril Ramaphosa vorlagen, dem vorgeworfen wurde, einen Raubüberfall auf seine Phala-Phala-Farm vertuscht zu haben, bei dem mindestens 580.000 US-Dollar (etwa 538.000 Euro) Bargeld gestohlen wurden. Im Dezember 2022 wurde Cyril Ramaphosa erneut zum Vorsitzenden der Regierungspartei African National Congress gewählt.

Geschlechtsspezifische Gewalt

Die im November 2022 veröffentlichte offizielle Kriminalitätsstatistik für das dritte Quartal belegte einen Anstieg geschlechtsspezifischer Gewalt im Vergleich zum Vorjahreszeitraum: Von Juli bis September 2022 wurden 989 Frauen ermordet, dies bedeutete eine Zunahme um 10,3 Prozent. Sexualdelikte stiegen um 11 Prozent, Vergewaltigungen um 10,8 Prozent.

Südafrika hatte zwar 2019 eine Nationale Strategie gegen geschlechtsspezifische Gewalt und Femizid verabschiedet, doch war das nationale Gremium, das für die Umsetzung dieser Strategie sorgen soll, immer noch nicht gebildet worden. Eine Auswertung des ersten Jahres nach Einführung der Strategie ergab, dass 55 Prozent der Ziele verfehlt wurden. Der Rückstand bei den DNA-Analysen, die bei der Verfolgung von Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt eine entscheidende Rolle spielen, belief sich am 1. Dezember 2022 auf 64.911. Laut dem Jahresbericht 2021/22 der unabhängigen Polizeiaufsichtsbehörde (Independent Police Investigative Directorate – IPID) stieg die Zahl der gemeldeten Vergewaltigungen durch Polizisten um 24 Prozent (99 Fälle). Die Behörde empfahl nur in 64 Fällen eine strafrechtliche Verfolgung, was befürchten ließ, dass Angehörige der Polizei nur unzureichend zur Verantwortung gezogen wurden.

Im Juli 2022 wurden in Krugersdorp (Provinz Gauteng) acht Frauen Opfer eines Raubüberfalls und einer Gruppenvergewaltigung. Der Fall machte einmal mehr das Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen Frauen deutlich. Zunächst wurden 14 Männer mit der Tat in Verbindung gebracht und angeklagt, im Oktober 2022 ließ man die Anklagen jedoch aufgrund mangelnder Beweise fallen.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Die Zahl der Schwangerschaften von Minderjährigen war weiterhin alarmierend hoch. Von April 2021 bis März 2022 brachten 90.037 Mädchen im Alter von 10 bis 19 Jahren ein Kind zur Welt. Gründe dafür waren ein ungenügender Zugang zu Dienstleistungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, Engpässe bei Verhütungsmitteln, mangelnde Sexualaufklärung sowie Armut und geschlechtsspezifische Gewalt.

Recht auf Bildung

Die öffentlichen Schulen waren weiterhin in einem schlechten und teilweise gefährlichen baulichen Zustand. Aus dem Jahresbericht 2021/22 des Bildungsministeriums ging hervor, dass es in 2.982 Schulen weiterhin nur Latrinen gab, die gegen die Rechte auf Gesundheit, Würde, Sicherheit und Leben verstießen. Das Ministerium, das mehrere Fristen hatte verstreichen lassen, ohne die Latrinen zu ersetzen, versprach im Januar, dies bis 2023 nachzuholen. Ein im Juni 2022 eingebrachter Gesetzentwurf änderte jedoch die Mindestnormen und -standards für öffentliche Schulen und sah keine Fristen mehr vor, sodass sich das Ministerium seiner Verantwortung entziehen konnte und die Gesundheit und Sicherheit der Schüler*innen weiterhin gefährdet waren.

Recht auf Gesundheit

Im April 2022 schlug das Gesundheitsministerium vor, die Bestimmungen zur Überwachung und Kontrolle meldepflichtiger Krankheiten zu ändern, um die Verbreitung von Covid-19 und anderen meldepflichtigen Krankheiten einzudämmen. Die Änderungen fielen nicht unter die Bestimmungen des landesweiten Notstands, der nach Ausbruch der Coronapandemie verhängt worden war und im April 2022 aufgehoben wurde. Aufgrund ihres dauerhaften Charakters drohten die vorgeschlagenen Bestimmungen die Menschenrechte zu untergraben. Vorgesehen waren Strafen bei Verstößen sowie verpflichtende medizinische Untersuchungen und prophylaktische Maßnahmen wie Isolation und Quarantäne. Außerdem bargen die Bestimmungen die Gefahr der Anwendung unnötiger oder unverhältnismäßiger Gewalt durch die Polizei unter dem Deckmantel der Strafverfolgung, wie es sie während der Coronalockdowns gegeben hatte. Nach massivem öffentlichem Protest wurde die Frist für die Einreichung von Vorschlägen bis zum 31. Juli 2022 verlängert. Das Ministerium veröffentlichte aber nach April keine Aktualisierungen mehr.

Überschwemmungen in der Provinz KwaZulu Natal im April und Mai führten dazu, dass Menschen ihre Häuser verlassen mussten. Einige von ihnen hatten bis zu neun Tage lang keinen Zugang zu notwendigen Medikamenten und medizinischer Versorgung (siehe "Rechte auf Wasser und Sanitärversorgung").

Rechte auf Wasser und Sanitärversorgung

Im April 2022 kam es in den Provinzen KwaZulu Natal und Ostkap zu extremen Regenfällen und Überschwemmungen. Schäden an den Wasserleitungen beeinträchtigten die Wasserversorgung in beiden Provinzen massiv. In vielen Gemeinden funktionierte die Wasserversorgung monatelang gar nicht oder nur sporadisch. Die Regierung ergriff keine systematischen Maßnahmen, um die Versorgung der Bevölkerung mit Wasser während dieser Zeit zu gewährleisten. Weil auch zahlreiche Wohnhäuser und öffentliche Toiletten durch die Überschwemmungen Schäden erlitten hatten, sahen sich viele Menschen gezwungen, sich im Freien zu erleichtern, was zu einer kritischen Hygienesituation führte. Mehrere Gesundheitseinrichtungen in KwaZulu Natal waren durch die mangelnde Wasserversorgung beeinträchtigt. Die extremen Regenfälle waren nach Ansicht von Wissenschaftler*innen dem Klimawandel geschuldet, doch verschlimmerten Defizite der lokalen Behörden bezüglich Raumplanung und Instandhaltung der Infrastruktur die Auswirkungen.

Auch die Metropolgemeinde Nelson Mandela Bay in der Provinz Ostkap, die bereits seit 2016 mit einer Dürre kämpfte, litt unter massiver Wasserknappheit. Die Krise wurde dadurch verschärft, dass die lokalen Behörden Lecks in Wasserleitungen nicht reparieren ließen und so schätzungsweise 29 Prozent des Wassers zur Versorgung der Metropolgemeinde verloren gingen.

Recht auf Wohnen

Durch die Überschwemmungen in der Provinz KwaZulu Natal wurden mindestens 8.584 Häuser zerstört und 13.536 beschädigt. Wie die Generaldirektion Europäischer Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe der Europäischen Kommission mitteilte, wurden 40.000 Menschen vertrieben und obdachlos. Die Unterkünfte im Übergangslager Isipingo in KwaZulu Natal wurden ein weiteres Mal überflutet, was bei Regen regelmäßig der Fall ist, weil sich das Lager in einem hochwassergefährdeten Gebiet befindet. In dem Übergangslager lebten ehemalige Bewohner*innen informeller Siedlungen rund um Durban, die man 2009 – im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2010 – dorthin umgesiedelt hatte. Damals hatten die Behörden versprochen, sie würden innerhalb eines halben Jahres dauerhafte Unterkünfte erhalten.

Nach Angaben der Statistikbehörde stieg der Anteil der Haushalte, die in informellen Siedlungen lebten, von 11,4 Prozent im Jahr 2021 auf 11,7 Prozent im Jahr 2022.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Im Laufe des Jahres gab es immer wieder rassistisch motivierte Angriffe. Im April 2022 wurde der simbabwische Staatsangehörige Elvis Nyathi in Diepsloot, einem Township nördlich von Johannesburg, mit Schlägen traktiert und bei lebendigem Leib verbrannt, weil er sich geweigert hatte, einer Bürgerwehr seinen Pass zu zeigen. Sieben Männer wurden im Zusammenhang mit seinem Tod festgenommen und gegen Kaution wieder freigelassen. Der Prozess gegen sie wurde mehrfach vertagt. Migrant*innen, die in der Umgebung lebten, gaben an, unter ständiger Angst zu leiden. Die migrationsfeindliche Bewegung Operation Dudula, die 2021 in der Provinz Gauteng entstanden war, dehnte ihre Aktivitäten u. a. auf die Provinzen Westkap, KwaZulu Natal und Nordwest aus.

Exzessive Gewaltanwendung

Die südafrikanische Polizei wandte weiterhin unverhältnismäßige Gewalt an, die zu Toten und Verletzten führte. Der Jahresbericht 2021/22 der IPID verzeichnete 5.295 neue Fälle, darunter 3.407 Fälle von Körperverletzung, 744 Fälle, in denen Schusswaffen zum Einsatz kamen, und 223 Todesfälle in Polizeigewahrsam. Die Zahl der Toten infolge von Polizeieinsätzen wurde mit 410 angegeben, während sie 2020/21 bei 353 gelegen hatte.

Rechtswidrige Tötungen

Im August 2022 wurden in Tembisa, einem Township in der Provinz Gauteng, bei einer Demonstration gegen hohe Strompreise vier Personen getötet. Am Jahresende ermittelte die IPID noch zu den beiden Todesfällen, für die die Polizei verantwortlich gewesen sein soll.

Vier Polizisten, die im Zusammenhang mit der Tötung von Mthokozisi Ntumba vor Gericht standen, wurden im Juli 2022 freigesprochen. Der junge Mann war 2021 getötet worden, als er an einer Demonstration von Studierenden im Stadtteil Braamfontein in Johannesburg vorbeikam.

Rechte auf Leben und Sicherheit der Person

Laut der im November 2022 veröffentlichten offiziellen Kriminalitätsstatistik für das dritte Quartal lag die Zahl der Morde 13,6 Prozent höher als im Vorjahreszeitraum. Die Zahl der Kindermorde stieg um 9,8 Prozent. Die Zahl der Entführungen verdoppelte sich und lag bei 4.028 gemeldeten Fällen, die zumeist in Verbindung standen mit Erpressung, Raub und Vergewaltigung.

Es gab eine Welle von Massenschießereien. Bei einem Krisengipfel in Khayelitsha im Juni 2022 wurde bekannt, dass bei Massenschießereien in Khayelitsha, einem Township in Kapstadt, seit März 26 Menschen getötet worden waren. Im Juli 2022 wurden bei zwei Kneipenschießereien in Soweto (Johannesburg) und in Pietermaritzburg (KwaZulu Natal) mehr als 20 Personen getötet.

In KwaZulu Natal wurden vier Aktivist*innen der Bewegung Abahlali baseMjondolo rechtswidrig getötet, vermutlich im Zusammenhang mit ihrer Arbeit. Die größte südafrikanische Bewegung seit dem Ende der Apartheid setzt sich für Bewohner*innen informeller Siedlungen ein. Es gab drei Festnahmen, die sich jedoch nur auf eine der Tötungen bezogen.

Unternehmensverantwortung

In der Region Sekhukhune beeinträchtigten Bergbauvorhaben die Existenzgrundlagen und Menschenrechte der Bevölkerung, insbesondere die Rechte auf Gesundheit, Bildung und Wasser. Das Ministerium für Bodenschätze und Energie sorgte weiterhin nicht dafür, dass Bergbauunternehmen die Sozial- und Arbeitspläne einhielten. Eine strikte Einhaltung dieser rechtlich verbindlichen Pläne würde dazu beitragen, negative sozioökonomische Folgen des Bergbaus und Verletzungen der Menschenrechte der lokalen Bevölkerung zu verhindern.

Klimakrise

Es gab weiterhin keine gesetzliche Grundlage, um die Regierung und Privatunternehmen bezüglich der Einhaltung von Klimaschutzverpflichtungen zur Rechenschaft zu ziehen. Im Februar 2022 wurde ein Entwurf für ein Klimaschutzgesetz (Climate Change Bill) ins Parlament eingebracht, das wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel und für einen langfristigen, gerechten Übergang zu einer kohlenstoffarmen und klimaresilienten Wirtschaft und Gesellschaft im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung ermöglichen soll. Es gab jedoch Befürchtungen, der Gesetzentwurf könnte angesichts der Schwere der Klimakrise, der Dringlichkeit und des umfassenden Handlungsbedarfs nicht weitreichend genug sein. Am Jahresende waren die Beratungen über den Gesetzentwurf noch nicht abgeschlossen.

Südafrika hatte 2021 einen neuen nationalen Klimabeitrag (Nationally Determined Contribution – NDC) festgelegt und sich das Ziel gesteckt, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 12 bis 32 Prozent zu senken. Diese Maßgabe war jedoch nicht ausreichend, um den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen.

Unterdessen stellten Wissenschaftler*innen fest, dass der Klimawandel die Wahrscheinlichkeit katastrophaler Überschwemmungen wie jenen in KwaZulu im April und Mai 2022, bei denen 461 Menschen ums Leben kamen, verdoppelt hat.

Auf der Weltklimakonferenz (COP27) in Ägypten stellte Präsident Syril Ramaphosa einen Investitionsplan für eine gerechte Energiewende (Just Energy Transition Investment Plan) vor. Der Fünfjahresplan basiert auf einer Partnerschaft mit Frankreich, Deutschland, Großbritannien, den USA und der EU, die bei der Weltklimakonferenz in Glasgow (COP26) vereinbart wurde und finanzielle Zusagen im Umfang von 8,5 Mrd. US-Dollar (etwa 7,9 Mrd. Euro) umfasst. Ende 2022 begannen die Konsultationen zu dem Plan, wobei vom Bergbau betroffene Gemeinden in der Provinz Mpumalanga ihn bereits ablehnten, weil sie nicht ausreichend einbezogen worden waren.

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