Amnesty Journal Schweiz 13. Dezember 2023

Ein Ort der anderen Kunst

Eine Frau trägt eine Baseballkappe, steht auf einer Terrasse vor einem Fenster, hält ein von ihr gemaltes Bild hoch, auf dem Blumen sind.

Atelier CREAHM in der Westschweiz für Künstler*innen mit Behinderungen: Géraldine Piller mit einem ihrer Werke

Das Atelier CREAHM in der Westschweiz ist eine Talentschmiede für Künstler*innen mit Behinderungen. Einige unter ihnen haben in der Kunstszene bereits Fuß gefasst.

Aus Villars-sur-Glâne von Olalla Piñeiro Trigo und Jean-Marie Banderet (Text und Fotos)

"Seit ich hierhin komme, haben sich meine Fähigkeiten verbessert. Ich bin selbstständiger geworden und komme langsam aus meiner Blase heraus. Hier kann ich menschliche Kontakte knüpfen. Ich mag es, mich mit anderen auszutauschen." Nach diesen Worten vertieft sich Mandeep Singh wieder in seine Arbeit: ein Bild, bestehend aus geometrischen ­Figuren und abstrakten Formen, die er mit einem blauen Filzstift zeichnet.

In der großen lichtdurchfluteten Werkstatt wird mit gedämpfter Stimme gesprochen. An einer Wand hängt eine riesige Leinwand. An kleinen Einzeltischen arbeiten zwei der Künstler*innen, die jeden Mittwoch ins CREAHM – Atelier d’art différencié (Atelier der anderen Kunst) kommen. Heute sind Bernard Grandgirard, Géraldine Piller, Iason Scyboz, Jean-Yves Masset, Léonard Périès, Pascal Vonlanten und eben auch Mandeep Singh anwesend. Insgesamt 18 Künstler*innen mit geistigen Beeinträchtigungen arbeiten hier abwechselnd.

Farbenfrohe Fresken

Das Gebäude unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von anderen Häusern in der Wohnsiedlung von Villars-sur-Glâne in der Umgebung von Freiburg im Uechtland, außer dass der Eingang mit farbenfrohen Fresken geschmückt ist. Doch wer genau hinschaut, entdeckt weitere Elemente, die auf Kunstschaffende hinweisen: Da ist ein großes Drehkreuz aus Metall, das mit ineinander verschlungenen Gesichtern verziert ist – wie sie für den Stil Léonard Périès charakteristisch sind. Auch Skulpturen von Géraldine Piller sind zu entdecken. "Ein paar wurden zerbrochen, andere gestohlen. Es ist eine Schande", sagt sie. Im Atelier beugt sie sich über einen Papierbogen, auf dem drei Pinguinfiguren zu sehen sind, die unterschiedlich gekleidet sind.

Iason Scyboz arbeitet gerade an einer mehr als zwei Meter langen Leinwand. Die Werke des 34-Jährigen fallen durch ihre leuchtenden, fluoreszierenden Farben auf. "Mich inspirieren die Farben des Lichts am späten Nachmittag", meint er. Der Dent de Broc, ein Berggipfel in der Region Gruyère, in der er aufwuchs, findet sich in den meisten seiner gemalten Landschaften. Scyboz arbeitet bereits seit 2008 regelmäßig in der Werkstatt. Er hatte bereits einige Ausstellungen in Freiburg i. U. und war an Gruppenausstellungen beteiligt. Eine Anerkennung, die ihn mit Freude und Stolz erfüllt.

Kunst allein entscheidet

1998 wurde der Verein CREAHM in der Schweiz gegründet. Vorbild war eine gleichnamige belgische Einrichtung, die in den 1970er Jahren in Lüttich eröffnet wurde. CREAHM hat sich zum Ziel gesetzt, die künstlerischen Talente von Menschen mit geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen zu entwickeln und ihre ­Arbeit zu fördern. Laurence Cotting und Gion Capeder teilen sich die Leitung. Die beiden Kunstschaffenden unterstützen seit rund zehn Jahren die Menschen, die hier tätig sind. Die Institution hat das Label "Kultur inklusiv" von Pro Infirmis erhalten, der nationalen Dachorganisation für Menschen mit körperlichen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen in der Schweiz.

Es geht nicht darum, ­diesen Menschen eine Beschäftigung anzubieten. Vielmehr soll ihnen als Künst­ler*in­nen ein Ort geboten werden, an dem sie ihr Talent entfalten können.

Gion
Capeder
Leitung CREAHM
Ein Mann auf einer Terrasse hält ein Gemälde hoch und lächelt.

Iason Scyboz mit einem Gemälde

Cottings und Capeders Unterstützung beschränkt sich auf den künstlerischen Bereich – sie sind keine Therapeut*innen. "Wir vermeiden das weit verbreitete ­bemitleidende Bild von Menschen mit Behinderungen. Es geht nicht darum, ­diesen Menschen eine Beschäftigung anzubieten. Vielmehr soll ihnen als Künst­ler*in­nen ein Ort geboten werden, an dem sie ihr Talent entfalten können", sagt Capeder. "Wir beurteilen ihre Arbeiten genauso wie die von anderen Künstler*innen ohne Behinderungen." Jede*r durchläuft im CREAHM eine Auswahlphase, in der die künstlerischen Fähigkeiten und das Potenzial identifiziert werden. "Eine Behinderung allein reicht nicht als Kriterium für die Zulassung", erklärt Cotting. Sie habe sich auf den ersten Blick in diese "Außenseiter-Kunst" verliebt, wie sie sie nennt.

Cotting und Capeder bieten nicht nur technische Hilfe, die beiden Galerist*innen nutzen auch ihre Kontakte und ihr Wissen über die Kunstwelt, um Ausstellungen von CREAHM-Künster*innen zu organisieren. So konnten die Werke von Pascal Vonlanten im Zentrum für zeitgenössische Kunst in Genf, im Tinguely-Museum in Basel, aber auch in Galerien in Mailand, Paris und São Paulo gezeigt werden. Vonlanten ist ein Analphabet, der sich von Zeitungsausschnitten inspirieren lässt. Seine Karriere nahm Fahrt auf, als Jason Wu, einer der Lieblingsstylisten von Michelle Obama, 2017 eine Frühjahrskollektion von Kleidungsstücken herausbrachte, in die Kopien von Vonlantens ­Bilder eingewebt waren. "Die Art und Weise, wie er sich Geschriebenes aneignet, kommt gut an", sagt Laurence Cotting. Auch auf Rosalina Aleixo sind die beiden Leitenden des CREAHM stolz: Sie hat 2017 den Schweizer Kunstpreis "Art Brut" gewonnen.

Stilistische Vielfalt

Für Menschen mit Behinderungen ist es schwierig, einen Platz in der Kunstwelt zu finden. Cotting und Capeder glauben aber, dass die Kunst Menschen zusammenführen kann. "Kunst ist universell. Wir alle haben kreative Talente. Diese Fähigkeiten sind etwas Subjektives, beziehen sich auf das Sinnliche, auf das Intime", sagt Capeder. Cotting meint, die Werke der CREAHM-Künstler*innen gehörten durchaus in zeitgenössische Museen. "Eine solche Anerkennung macht es außerdem möglich, stereotype Vor­stellungen über Behinderungen abzu­bauen."

Plötzlich verwandelt sich die Werkstatt in einen Essraum. Es gibt eine warme Mahlzeit für die einen, andere kramen Zutaten für ein Picknick hervor. Das gemeinsame Essen bietet Gelegenheit für Gespräche. "Ich genieße es, mich mit den anderen auszutauschen, zu schauen, woran sie gerade arbeiten", sagt Léonard Périès. Dass die Künstler*innen nicht einfach voneinander abgucken, wird sofort klar: Ein Blick über ihre Werke zeigt, dass alle ihren eigenen Stil haben. Da ist der "amerikanische Traum" in den Werken von Bernard Grandgirard, der alte Cadillacs und Ford Mustangs, große Lastwagen und Eisenbahnlandschaften mit äußerst präzisen schwarzen Federstrichen aufs Papier bringt. Périès verwendet Kohle oder dicke Stifte, um Menschenmassen in geschwungenen, weichen Linien darzustellen. Jede gezeichnete Figur geht dabei in eine andere über und ist ein Teil von ihr.

Mandeep Singh, der Neuzugang der Gruppe, konzentriert sich auf abstrakte geometrische Formen, für die er nur zwei oder drei Farben verwendet. Géraldine Piller lässt sich von der Natur inspirieren: Ihre farbenfrohen Leinwände sind voller Blumen, Insekten, Frösche. "Seit ich hier bin, habe ich große Fortschritte gemacht. Ich habe Zeichentechniken gelernt, die ich vorher nicht kannte, etwa Kohlezeichnen und Gravur", sagt sie. Aus ihren drei Pinguinen auf dem Papierbogen wurden inzwischen sieben. Sie sind alle bekleidet, einige tragen Brille, einer hat einen Rollkragenpullover an. "Erkennen Sie sie?", fragt sie lächelnd. "Das sind wir, die Leute aus der Werkstatt!"

Olalla Piñeiro Trigo ist Redakteurin beim Magazin von Amnesty Schweiz, Jean-Marie Banderet ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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