Amnesty Journal Polen 29. Mai 2023

Für die einen Solidarität, für die anderen Stacheldraht

Ein Waldstück, mitten darin ein fünfeinhalb Meter hoher Grenzzaun, vor dem Grenzschützer patroullieren.

Fünfeinhalb Meter hoch: Abschirmung an der polnisch-belarussischen Grenze, März 2023

Geflüchtete aus der Ukraine werden in der Europäischen Union unterstützt. Schutzsuchende aus anderen Herkunftsländern erhalten dagegen noch nicht mal Zugang zum Asyl. Ein Besuch an der polnisch-belarussischen Grenze zeigt das Engagement der polnischen Zivilgesellschaft sowie das Ausmaß der Ungleichbehandlung.

Von Hannah El-Hitami (Text) und Natalia Bronny (Fotos)

Als der Krieg in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 begann, war Aleksandra Chrzanowska im Wald unterwegs. Vom Angriff Russlands auf die Ukraine erfuhr sie erst, als bereits Hunderttausende Menschen in Richtung Polen flüchteten. Zwar hatte die 43-Jährige aus Warschau den ganzen Tag an der Ostgrenze ihres Landes verbracht. Doch nicht an der Grenze zur Ukraine, sondern an der Grenze zu Belarus, weiter nördlich. Dort waren sie und andere Freiwillige des Netzwerks Grupa Granica durch Sumpfgebiete gewatet, bepackt mit Rucksäcken voller Essen, Getränken, Kleidung und Schmerztabletten, und hatten sich vor der Grenzpolizei versteckt. Nur, wenn Chrzanowska so still und unsichtbar wie möglich bleibt, kann sie die Menschen im Wald erreichen, die ihre Unterstützung brauchen: Menschen aus Asien, dem Nahen Osten und Afrika, die vor Krieg und Gewalt geflüchtet sind und in Europa Schutz suchen.

Ein gutes Jahr später, im März 2023, erinnert sich Chrzanowska an die Bilder von der polnisch-ukrainischen Grenze, die sie in den folgenden Tagen in den Medien sah: Wie die Menschen in Polen Geflüchtete aus der Ukraine an Bahnhöfen oder Grenzübergängen abholten, ihnen Hotels organisierten oder sie in ihren ­eigenen Häusern unterbrachten, wie zahlreiche freiwillige Helfer*innen und Grenzpolizist*innen die Koffer der Flüchtenden trugen oder ihre Kinder auf dem Arm hielten. "Ich war wirklich froh, dass die polnische Gesellschaft so auf die traumatische Situation in der Ukraine reagiert hat", sagt sie. "Aber ich fragte mich: Was ist der Unterschied? Diese Leute tun genau das Gleiche wie wir und werden von den Behörden unterstützt. Unsere humanitäre Hilfe wird hingegen kriminalisiert, wir müssen uns hinter Bäumen verstecken und über den Boden kriechen, damit die Grenzpolizei uns nicht sieht." Diese Ungerechtigkeit sei sehr schwer zu ertragen gewesen, "aber nach einigen Tagen fand ich mich damit ab und machte weiter meine Arbeit".

Welle der Solidarität

Rund acht Millionen Menschen haben die Ukraine seit Beginn des Krieges verlassen, davon sind eineinhalb Millionen in Polen untergekommen, etwas mehr als eine Million in Deutschland. Eine beispiellose Welle der Solidarität erfasste die EU-Staaten. Die Behörden ermöglichten mit der Massenzustrom-Richtlinie erstmals die schnelle, unbürokratische Aufnahme von Geflüchteten. Ukrainer*innen bekamen Zugang zu Arbeitsmarkt und Studium, zu Sozialhilfe und Schule. Beeindruckend war auch die Reaktion der Zivilgesellschaft: Innerhalb kürzester Zeit halfen Freiwillige bei der Einreise der Ukrainer*innen, vermittelten Wohnungen oder sammelten Hilfsgüter. Gelbblaue Flaggen schmückten die Fassaden vieler Häuser, Kinos zeigten Kinderfilme auf Ukrainisch.

Doch inmitten dieser Willkommenskultur meldeten sich bald kritische Stimmen zu Wort, erst vorsichtig, dann lauter. Sie fragten, was auch Aleksandra Chrzanowska fragt: Was ist der Unterschied? Warum werden die einen Schutzsuchenden mit offenen Armen empfangen, während die anderen mit Mauern und Stacheldraht zurückgehalten werden? Warum ist die Hilfe für die einen eine Tugend, während sie bei anderen kriminalisiert wird? Und warum sterben seit Jahren Menschen an den EU-Außengrenzen, wenn sich diese doch so leicht öffnen lassen?

Der Krieg in der Ukraine hat die Widersprüche der europäischen Asylpolitik offengelegt. Dabei bietet die Situation auch eine Chance: zu lernen wie eine gerechte und humanitäre Asylpolitik für alle Schutzsuchenden aussehen könnte.

Bloß nicht einreisen lassen

Seit Jahren schottet sich die EU immer weiter ab. Zwar sind die Mitgliedstaaten gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention und vor allem aufgrund des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verpflichtet, den Zugang zum Schutz zu gewähren und niemanden in die Gefahr für Leib und Leben zurückzuschicken. Doch in der Realität kann Asyl nur beantragen, wer ihr Territorium erreicht – und das ist kaum noch möglich. Im Mittelmeer arbeitet die EU mit der libyschen Küstenwache zusammen, die Mitglieder verschiedener krimineller Milizen rekrutiert. Oder sie kooperiert mit autoritären Regimen in Ägypten oder der Türkei. Das Ziel lautet stets: Menschen von der Einreise abzuhalten. Gleichzeitig wird die zivile Seenotrettung kriminalisiert, sodass die Überfahrt immer gefährlicher wird.

An den Landgrenzen der EU entstehen Zäune und Mauern: 16 sind es bereits, von Estland über Kroatien bis nach Österreich. Wer sie überwindet, wird in vielen Fällen sofort zurückgeschoben. Diese Praxis der sogenannten Pushbacks ist illegal und dennoch an der Tagesordnung.

Auch Polen hat seine östliche Grenze im vergangenen Jahr auf einer Länge von 186 Kilometern mit Stahl versiegelt. Die Grenzwachen sprechen von einem "Zaun", die Bewohner*innen des Dorfes Białowieża sagen "Mauer". Białowieża liegt an der belarussischen Grenze. Vom Dorfzentrum ­erreicht man in weniger als einer halben Stunde den Waldrand. Dort, in einem der letzten Urwälder Europas, den die UNESCO als Welterbe ausgewiesen hat, wachsen teils jahrhundertealte Bäume dicht an dicht. Man kann dort wilden Bisons, Wölfen und Elchen begegnen. Einen Kilometer vom Waldrand entfernt ragen die grauen Pfeiler des Grenzzauns fünfeinhalb Meter in die Höhe, oben eine Krone aus Stacheldraht, unten patrouillieren Soldat*innen.

Im August 2021 wurde die Gegend rund um die Grenze zum Sperrgebiet, in dem Tausende Menschen aus Asien, dem Nahen Osten und Afrika monatelang feststeckten. Sie waren mit dem falschen Versprechen nach Belarus gelockt worden, sie könnten von dort aus problemlos in die EU gelangen. Belarussische Sicherheitskräfte zwangen die Menschen, die Grenze zu überqueren, während polnische Sicherheitskräfte sie mit Gewalt ­zurückdrängten.

Ein gefährlicher Wald

Mittlerweile hat sich die Lage beruhigt, doch Białowieża und andere Dörfer in der Grenzzone werden noch immer von Militär belagert. Auf dem Dorfplatz, der mit Eisdielen und Gasthäusern Tourist*innen anlocken soll, stehen Dutzende Container, in denen Soldat*innen wohnen. Noch immer versuchen Menschen durch den Wald zu kommen, um die Grenze zu überqueren. Vor allem im Winter riskieren sie im sumpfigen, kalten Urwald ihr Leben – mindestens 41 Menschen sind seit 2021 gestorben, acht allein in diesem Jahr.

"Dieser Wald kann gefährlich sein mit seinen Sümpfen und umgestürzten Bäumen. Aber er bietet auch gute Verstecke für die Durchreisenden", sagt Aleksandra Chrzanowska. Es ist ein grauer Samstagmorgen Anfang März, die Temperaturen in Białowieża liegen knapp über dem Gefrierpunkt. Chrzanowska trägt eine Funktionshose und Wanderschuhe, ihr Blick spiegelt Kummer und Entschlossenheit zugleich. Die vergangenen drei Tage waren sie und andere Freiwillige im Wald unterwegs, um Menschen auf der Flucht mit dem Nötigsten zu versorgen.

Zu ihrem letzten Einsatz brachen sie bei Sonnenaufgang auf. Vier Stunden marschierten sie durch den Wald, lagen eine Stunde im Dickicht, um zu warten, bis sich ein Wagen der Grenzpolizei entfernte. Entdeckt zu werden, wäre für die Aktivistinnen eher lästig als gefährlich. Was sie tun, ist nicht illegal. Doch dann hätten sie ihre Mission abbrechen müssen, um die Grenzpolizei nicht zum Versteck der Menschen im Wald zu führen. "Das endet sehr oft mit einem Pushback", sagt Chrzanowska – auch wenn die Flüchtenden aus Ländern wie Syrien und Afghanistan gute Chancen auf Asyl in der EU hätten.So wie die Gruppe am Donnerstag: Neun Syrer*innen, darunter eine schwangere Frau. "Sie waren sehr dünn, völlig erschöpft, aber als sie auf uns zukamen, um die Sachen entgegenzunehmen, lächelten sie", erzählt Chrzanowska. Nur eine Minute habe die Begegnung gedauert, zu groß sei das Risiko, Aufmerksamkeit zu erregen. Immerhin war die Mission erfolgreich: "Jedes Mal, wenn wir es schaffen, Menschen im Wald zu finden und zu versorgen, ist das ein Erfolg. Sie bekommen Hilfe, sie sind nicht allein. Sie fühlen, dass jemand für sie da ist."

Eine mittelalte Frau mit halblangem Haar steht in der Natur vor einem Waldgebiet, sie trägt Schal, Daunenjacke und Strickhandschuhe.

Aleksandra Chrzanowska im polnisch-belarussischen Grenzgebiet, März 2023

Sie bekommen Hilfe, sie sind nicht allein. Sie fühlen, dass jemand für sie da ist.

Aleksandra
Chrzanowska
Aktivistin

Rund 15.000 Notrufe haben die Mitarbeiter*innen und Freiwilligen der Grupa Granica in den vergangenen eineinhalb Jahren erhalten, ungefähr in der Hälfte der Fälle konnten sie aktiv werden. Was danach aus den Geflüchteten wird, wissen sie nicht. Sie müssen die Menschen im Wald zurücklassen. "Das Natürlichste in dieser Situation wäre, ihnen ein Dach über dem Kopf zu geben, ein warmes Bett und eine Dusche", so Chrzanowska. Doch weil die Behörden das als "Beihilfe zur illegalen Einreise" oder gar als Menschenschmuggel behandelten, dürften sie das nicht. Die wenigsten Geflüchteten entscheiden sich dafür, bei den polnischen Behörden einen Asylantrag zu stellen. Denn dies hat fast immer einen Pushback nach Belarus zur Folge. Nur Menschen, die ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, bleiben davon verschont. Und selbst jene, die einen Asylantrag stellen können, werden monatelang in Abschiebezentren festgehalten.

"Hier wird gegen Gesetze und gegen die Menschenrechte verstoßen", sagt Chrzanowska. Daran hat auch der Krieg in der Ukraine nichts geändert. Statt sensibler gegenüber Geflüchteten zu sein, entwickelt sich eine Art Zweiklassengesellschaft. Schlimmer noch: Die Geflüchteten werden gegeneinander ausgespielt. Es kämen wieder mehr Menschen über das Mittelmeer und die Bal­kan­route nach ­Europa, schrieb die deutsche Innenministerin Nancy Faeser im Oktober 2022 auf Twitter. "Wir sind gemeinsam in der Verantwortung, illegale Einreisen zu stoppen, damit wir weiter den Menschen helfen können, die dringend Unterstützung brauchen." Es klingt, als sei die Ablehnung der einen Voraussetzung für die Aufnahme der anderen. Was Faeser nicht sagt: Legale Einreisewege in die EU existieren für Geflüchtete kaum. Es sei denn sie kommen aus der Ukraine.

People of Color benachteiligt

Und selbst das ist keine Garantie für eine faire Behandlung. Denn diskriminiert werden auch einige der Menschen, die aus der Ukraine fliehen mussten. Als in den Morgenstunden des 24. Februar 2022 die Sirenen ertönten, machten sich zahlreiche Bewohner*innen Kiews auf den Weg zum Bahnhof. Bald aber wurde klar, dass nicht alle Zugang zu den Evakuierungszügen bekommen würden. "Polizisten schubsten People of Color weg und beleidigten sie rassistisch", erzählt Khristy K. in einem Videogespräch. Die 31-jährige Nigerianerin lebte damals seit mehr als zehn Jahren in Kiew und arbeitete dort als Umweltingenieurin. Als eine hochschwangere Frau neben ihr zu Boden stürzte, begann K. auf die Polizisten einzureden. "Ich sagte, es ist Krieg. Niemand von uns möchte hier sein, wir alle wollen in Sicherheit gebracht werden."

Als der zweite Zug Richtung Lwiw eintraf, hatte sich die Situation beruhigt, die schwangere Frau und Khristy K. durften einsteigen. "Hätten wir uns nicht gewehrt, hätten sie uns nicht reingelassen", ist sie sich sicher. Als sie in Polen ankam, warteten am Bahnhof Freiwillige, die Menschen aus der Ukraine mit dem Auto weitertransportieren wollten. Khristy K. wollte nach Poznan und sprach einen Helfer an. Der sagte, er würde schnell sein Auto holen und sie dann fahren. Eine halbe Stunde später wartete sie noch immer. Der Mann tauchte nie wieder auf.

Inzwischen lebt Khristy K. in Berlin, lernt Deutsch und unterstützt mit der Gruppe "BIPoC Ukraine & Friends" an­dere Schwarze Menschen und People of Color beim Ankommen in Deutschland. Denn was sie auf ihrem Weg erlebt hat, widerfuhr auch anderen nicht weißen Menschen, die aus der Ukraine flüchten mussten, insbesondere Studierenden aus Afrika und Asien sowie Angehörigen der Roma-Minderheit im Land. Viele von ihnen wurden entlang der gesamten Fluchtstrecke benachteiligt. Es gibt Berichte von People of Color, die an der polnischen Grenze abgewiesen wurden oder tagelang in der Kälte warten mussten; und von Roma, die in Deutschland an Bahnhöfen schlafen mussten, weil ihnen der Zugang zu Hilfsangeboten verwehrt wurde.

Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, wie eine pragmatische und humane Asylpolitik aussehen kann. Er hat aber auch deutlich gemacht, dass ihre Umsetzung mehr von politischem Willen und gesellschaftlicher Stimmung als von Gesetzen abhängig ist. "Wir haben in Polen und der EU alle notwendigen Gesetze, um Schutzsuchende aufzunehmen", sagt Aleksandra Chrzanowska. Schon Hunderte Male hat sie erlebt, dass diese gebrochen wurden. Solange sich daran nichts ändert, bleibt ihr keine andere Wahl, als selbst in den Wald zu gehen und die Menschen vor dem Tod zu bewahren – zumindest für ein paar Stunden oder Tage.

Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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