Amnesty Journal Mexiko 17. Mai 2023

Selbst die Staats­anwaltschaft hat Angst

Demonstrant*innen auf einer Straße stehen vor einem verzierten schmiedeeisernen Zaun, eine Frau spricht in ein Megafon. Ein Mann mit Hut und Bart hält ein Getränk in der Hand und hört ihr zu.

Mitte Januar verschwanden im Westen Mexikos der Anwalt Ricardo Lagunes und der Lehrer Antonio Díaz. Ihr Fall sagt viel über die gefährliche Lage im Land aus.

Aus Mexiko-Stadt von Kathrin Zeiske

Im Januar sind die Abende an der Küste Michoacáns tropisch warm. In Aquila, keine Viertelstunde vom Pazifik entfernt, fand die Gemeindeversammlung in einem offenen Saal statt. Nach Abschluss der Tagesordnung erhoben sich alle von ihren weißen Plastikstühlen. Ricardo Lagunes und Antonio Díaz verabschiedeten sich, als die Dämmerung einsetzte, und nahmen die kurvige Landstraße Richtung Colima. Kurze Zeit später fand man ihren Geländewagen am Straßenrand. Er war von Schüssen durchsiebt, und von den beiden Männern fehlt seither jede Spur. Den Anwalt Lagunes und den Grundschullehrer Díaz verband ihr Engagement gegen das größte Stahlunternehmen Lateinamerikas.

"Wenn du selbst auf einmal Opfer des Systems bist, wird dir klar, wie Mexiko funktioniert", sagt Keyvan Díaz, der Sohn des verschwundenen Lehrers. Seinen Job hat der Journalist aufgegeben. "Meine Arbeit besteht nun darin, meinen Vater zu suchen." Die vergangenen Wochen seien die schwersten seines Lebens gewesen, ­erzählt er, dabei habe er als Journalist gewusst, dass gewaltsame Verschleppungen in Mexiko alltäglich sind. In den vergangenen 50 Jahren verschwanden fast 110.000 Menschen. Viele Regionen auf der Drogen­route in die USA versinken im Krieg der Kartelle um Vorherrschaft.

Simulation eines Rechtsstaats

Eine bürokratische Maschinerie, durchzogen von Korruption, simuliert ­indes einen handelnden Rechtsstaat. "Wenn du da durch musst, tun sich Abgründe auf", erklärt Díaz. In einer von der Mafia umkämpften Region wie Michoacán bei Behörden vorzusprechen, sei, "wie gegen eine Wand zu reden".

Seinen Vater, einen rüstigen weißhaarigen Mann mit Cowboyhut, vermisst der 26-Jährige schmerzlich. "Er widmete sein ganzes Leben dem Widerstand der Nahua-Gemeinden und der Verteidigung ihrer Umwelt." Nach jahrzehntelangen sozialen Kämpfen wurde in Aquila erreicht, wovon andere Gemeinden in Mexiko nur träumen: Die indigene Gemeinschaft ist am Erlös des Bergbaus auf ihrem Territorium beteiligt. "Seit 2011 werden Lizenzgebühren gezahlt, die sich nach der Ausfuhrmenge richten."

Doch diese Errungenschaft mussten die Aktivist*innen schon oft verteidigen: mal gegen gekaufte Gemeindemitglieder, mal gegen die korrupte Staatsmacht. Und auch die Mafia erhob schon Schutzgeld auf die Einnahmen. All dem hält Keyvan Díaz entgegen: "Wir sind nicht nur eine indigene Gemeinschaft, sondern auch sehr gut organisiert." An jenem Abend Mitte Januar hatten Ricardo Lagunes und Antonio Díaz der Gemeindeversammlung von Aquila eine gute Nachricht überbracht. Ein Fonds des internationalen Stahlkonzerns Ternium, der die Mine Las Encinas betreibt, sollte nach einem langen Rechtsstreit paritätisch ausgezahlt werden.

Minenkonflikt zerstört Sozialgefüge

Die Gemeinde hatte zunächst lange gegen die Mine gekämpft, aber irgendwann wurde klar, dass sie nicht zu verhindern war. Die Aktivist*innen handelten eine Gewinnbeteiligung aus und beharrten auf deren Auszahlung. "Schließlich ist das unser Land. Eine ausländische Firma macht damit Millionengewinne", sagt Díaz. Das Unternehmen der italienisch-argentinischen Familie Rocca hat einen Vermögenswert von mehr als 5,3 Milliarden Euro und sitzt aus Steuergründen in Luxemburg.

"Solche Unternehmen fallen ein und agieren verheerend", sagt Keyvan Díaz. Er weiß, wovon er spricht. Der Fluss, in den er als Kind noch sprang, ist heute ausgetrocknet. Pro Tag werden in Aquila rund 15.000 Tonnen Roheisen für die Stahlproduktion gewonnen. "Doch nicht nur die Umwelt leidet, noch fataler sind die sozialen Kosten", berichtet Díaz. Auf dem ge-samten amerikanischen Kontinent seien indigene Gemeinschaften vom Ressourcenabbau für den Weltmarkt betroffen.

"Sozial verantwortlicher Bergbau"

Der Minenkonflikt hat das Sozialgefüge der Nahua-Gemeinde gestört. 50 Familien erhalten mittlerweile Geld von Ternium und setzen sich im Gegenzug dafür ein, Firmeninteressen in der indigenen Gemeinschaft durchzusetzen. Eine Mehrheit von 450 Familien hingegen versucht, ihr Gemeindeland zu verteidigen.

Die Familie des verschleppten Ricardo Lagunes setzt auf den Stahlkonzern, um den Ehemann und Vater vielleicht doch noch lebend wiederzusehen. Ternium sei der mächtigste regionale Player, erklärt María Ramírez, die Ehefrau des Anwalts. "Wir wissen, dass das Unternehmen genug Kontakte in der Region hat, um die Freilassung von Antonio und Ricardo zu erreichen." Auch zur Mafia. Es sei fast unmöglich, hier Geschäfte zu machen, ohne die Aufmerksamkeit der Kartelle auf sich zu ziehen. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ein Unternehmen in Ruhe lassen, das Millionen erwirtschaftet", sagt Ramírez, die als Historikerin an der Universität Colima arbeitet. Die Gewalt der Kartelle vertrieb im Jahr 2022 mehr als 13.000 Menschen aus dem Bundesstaat Michoacán.

Mein Vater wurde umgebracht, als ich vier war. Meine Mutter floh mit uns Kindern.

Maria
Ramírez
Historikerin an der Universität Colima

Auf der Homepage des Stahlkonzerns ist von "sozial verantwortlichem Bergbau" die Rede. Doch Ramírez bezweifelt, dass dies in einer solchen Region möglich sei. "Entlang des gesamten Küstenstreifens gibt es 100 Minenkonzessionen", ­erzählt sie. "Das Monster Bergbau ist ­ungebändigt." Die indigene Bevölkerung werde nicht gefragt, was mit ihrem Land geschehe. Auch Ramírez ist in Aquila ­geboren, und alles, was dort geschieht, schmerzt sie zutiefst. "Mein Vater wurde umgebracht, als ich vier war. Meine Mutter floh mit uns Kindern." Auch hinter diesem Verbrechen stand bereits der Konflikt um die Mine. Die Gemeinde habe sich von den Gewinninteressen des Bergbauunternehmens nie einschüchtern ­lassen.

"Ohrfeige für den mexikanischen Staat"

Die Staatsanwaltschaften in Michoacán und Colima würden den Fall aufgrund seiner politischen Brisanz am liebs­ten ignorieren. Denn Ricardo Lagunes ist ein renommierter Menschenrechtsanwalt mit internationalen Kontakten. "Sein Verschwinden ist eine Ohrfeige für den mexikanischen Staat", sagt seine Frau. Lagunes vertrat indigene Gemeinden vor nationalen und internationalen Gerichten und verteidigte ihre Rechte und Territorien. Im Jahr 2015 brachte er, damals gerade Anfang 30, die Klage der Überlebenden des Massakers von Acetal Mitte der 1990er vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof.

Seine Schwester Ana Lucía Lagunes ruft in Mexiko-Stadt zu Demonstrationen für den verschwundenen Bruder auf. "Wir wollen Ricardo lebend zurück. Doch niemand legt Ermittlungsergebnisse vor", erzählt die Psychologin mit bebender Stimme. Seit Wochen spricht sie bei ranghohen Politikern vor. "Im Grunde genommen fehlt uns nur noch der mexikanische Präsident. Sonst wurden wir schon überall empfangen." Mitte März führte sie die Demonstration zum Mahnmal der 43 verschleppten und ermordeten Studenten an – ein Fall, der weltweit Schlagzeilen machte. Die großen roten Zahlen 4 und 3 aus Metall stehen auf einer Kreuzung der Prachtstraße Reforma, die Mexiko-Stadt durchzieht. Die Demonstrierenden breiteten ein gigantisches Transparent mit den Fotos von Lagunes und Díaz über der Fahrbahn aus. Ein Mann forderte die Anwesenden auf, gemeinsam laut bis 43 zu zählen. Ein Ritual auf Mexikos Straßen, um der prominentesten Verschleppten im Land zu gedenken – stellvertretend für die übrigen hunderttausend Verschwundenen.

Kathrin Zeiske ist freie Journalistin, sie berichtet aus Mexiko und Mittelamerika. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

Weitere Artikel