Amnesty Journal Lettland 25. Oktober 2023

Recherche? Ab ins Hub!

Eine Frau mit schulterlangem Haar trägt Lippenstift und Ohrringe und steht in einem Park, hinter ihr auf einer Bank sitzen Menschen.

Schützt Journalismus: Sabīne Sīle, Direktorin des Media Hub (Riga, Juni 2023)

Trotz Krieg in Sicherheit arbeiten und dabei sogar kooperieren: In einem Medienzentrum in Lettland treffen Journalist*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine aufeinander.

Aus Riga von Tigran Petrosyan (Text und Fotos)

Nur wenige Monate nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Jahr 2022 öffnete das Media Hub in der lettischen Hauptstadt Riga seine Türen für geflüchtete Journalist*innen. Mehr als 500 Medienschaffende und ihre Familienangehörigen aus Belarus, Russland und den von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine haben die Medienzentrale seither durchlaufen. Die Adresse in einem Gebäude im Stadtzentrum soll aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden, der Zugang ist streng geregelt, an den Türen filmen Kameras rund um die Uhr.

In einem großen Arbeitsraum im Inneren stehen zahlreiche Tische mit Computern. Zu hören ist meist nur ein Summen, denn lautes Sprechen ist verboten. Vor einem Konferenzraum stehen Journalist*innen Schlange. Jene, die bislang drinnen waren, müssen nun einer anderen Gruppe weichen. Ein Steuerberater erklärt das lettische Steuersystem. Entlang des Korridors reihen sich kleine Räume aneinander; in einem Raum nehmen Journalist*innen der unabhängigen russischen Zeitung Novaya Gazeta Europe einen Podcast auf, in einem anderen halten ukrainische Journalist*innen eine Videokonferenz ab.

"Nicht nur ein Büro, sondern eine Gemeinschaft"

Sabīne Sīle, die internationale Beziehungen, Psychologie und Finanzmanagement studiert hat, leitet das Media Hub. "Das ist keineswegs nur ein Büro, sondern vielmehr eine Gemeinschaft", sagt die 42-Jährige. "Hass und Angst haben hier keinen Platz." Betrieben wird das Medienzentrum von der Rigaer Niederlassung der Handelshochschule Stockholm, der lettischen Nachhaltigkeitsstiftung und dem Baltischen Zentrum für ­Exzellenzmedien. Finanzielle Unterstützung leistet die taz Panter Stiftung* in Berlin.

Sīle kümmert sich um alles. "Ich sehe, dass jemand etwas braucht, und ich weiß, wer helfen kann. Meist reicht ein bisschen Unterstützung schon aus. Besonders am Anfang ist das sehr wichtig", sagt sie. Ein Team von Psycholog*innen betreut traumatisierte Journalist*innen und deren Angehörige. Sīle holt geflüchtete Journalist*innen an der Grenze ab und bringt sie in Wohnungen unter; sie hilft beim Kauf von Möbeln und Telefonkarten, organisiert Termine bei den Behörden und akquiriert Fördergelder. Wenn jemand Geburtstag hat, dann backt sie Kuchen. "Dank Sabīne lerne ich zu verzeihen", sagt ein ukrainischer Journalist, der anonym bleiben will. Er meint damit die russischen Kolleg*innen, die im Media Hub die Mehrheit stellen.

Russische Meidenschaffende finden Schutz

Denn vor allem russische Medienschaffende haben in Riga Zuflucht gefunden und versuchen nun von hier aus, der russischen Staatspropaganda etwas entgegenzusetzen. Zugang zu den Ressourcen des Medienzentrums haben sowohl große russische Exilmedien wie die Onlineplatform Meduza, der TV-Sender Doschd und die Zeitung Novaya Gazeta Europe, aber auch kleine regionale Onlinemedien wie Pskovskaya Gubernia. Dessen fünfköpfige Redaktion berichtet mittlerweile ausschließlich aus den Räumlichkeiten des Media Hub über ihre Heimatregion Pskov im Nordwesten Russlands.

Pavel Dmitriev und seine Kolleg*innen recherchieren, wie viele Soldaten aus ihrer Region getötet wurden und wer vermisst wird. "Wenn es in jeder Region in Russland ein solches Medium gäbe, wären die Menschen dort besser informiert. So aber breiten die Behörden den Mantel des Schweigens über die Opfer des Krieges", sagt Dmitriev. Lokale Medien genießen in der russischen Bevölkerung häufig mehr Vertrauen als überregionale Zeitungen. Über einen intensiven Kontakt zur Leser*innenschaft erhält die Redaktion der Pskovskaya Gubernia selbst in Riga noch eine Vielzahl an verlässlichen Informationen.

Im Media Hub entstehen auch neue Medien. So haben sich freie Journalist*innen aus unterschiedlichen Regionen Russlands zusammengeschlossen und Wkladka (Karteikarte oder Unterfenster) gegründet. Auch Wolna (Welle) hat Erfolg, ein neuer Kanal, der sich auf Nachrichten im Online-Netzwerk Telegram spezialisiert hat, das in Russland weit verbreitet ist. "Es gibt auch Konkurrenz unter den Medienschaffenden. Aber die Repressionen haben sie vereint, und es gibt sehr viel Solidarität", sagt Sabīne Sīle.

Probleme mit dem Aufenthaltsrecht

Eines der größten Probleme für russische Medienschaffende ist das Aufenthaltsrecht in Lettland. Daher gehört Rechtsberatung durch Anwält*innen zu den Kernaufgaben des Zentrums. Lettland erteilt Visa häufig nur für ein Jahr. Lediglich 27 russische Journalist*innen haben bislang eine Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre erhalten. Inzwischen liegen den lettischen Behörden 140 Anträge für eine längere Aufenthaltserlaubnis vor, allesamt gestellt vom Media Hub. "Es geht nur sehr langsam voran, man braucht viel Geduld", sagt Sīle.

Einer, der in dieser Hinsicht "ruhig ­atmen" kann, ist Ihar Dzemiankou. Vor Kurzem hat er eine Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre bekommen. Der Videojournalist ist mit Frau und Tochter aus Belarus nach Riga geflohen. Als 2020 Hunderttausende in Minsk gegen Präsident Alexander Lukaschenko auf die Straße gingen, filmte Dzemiankou, wie Uniformierte gegen friedliche Demonstrant*innen vorgingen, sie festnahmen, schlugen und demütigten. Nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine fühlte sich der 33-Jährige seines Lebens in Belarus nicht mehr sicher. Er schickte seine Aufnahmen an die Redaktion der Novaya Gazeta Europe in Riga und machte sich auf den Weg ins Baltikum.

Dzemiankou sieht die Arbeit der Medien im Ausland kritisch. "Journalist*innen im Exil können nicht über Dinge schreiben, die die Menschen vor Ort aktuell betreffen: Wie viel kosten Lebensmittel auf dem Markt? Wie werden die Menschen in den Krankenhäusern behandelt? Wir können nicht überprüfen, ob die Behörden den Asphalt auf der Straße wirklich repariert haben. Und wo lauert die Korruption? Dazu haben Journalist*innen im Exil keinen Zugang mehr", sagt Dzemiankou. "Und die Bürger*innen in Belarus können uns hier und jetzt keine Informationen liefern, weil das für sie zehn Jahre Gefängnis bedeuten würde." Er kämpfe aber weiter gegen die Staats­propaganda, "solange es geht".

Das Media Hub steht nicht nur Journalist*innen zur Verfügung. Auch Mit­arbeiter*innen von Sphere, einer Menschenrechtsorganisation, die sich für die Rechte von LGBTI+ in Russland einsetzt, arbeiten hier. Und die aus Lugansk im Donbas stammende ukrainische Bloggerin, Aktivistin und Künstlerin Daria Kalashnikova hat vor Ort einen Roman geschrieben. Darin treffen sich Menschen aus der Ukraine, Belarus und Russland sowie russischsprachige Lett*innen in Riga. Es geht um den Krieg in der Ukraine, auf den jede*r einen anderen Blick hat. Das Buch wird derzeit ins Lettische übersetzt und soll im Herbst erscheinen. Der Titel lautet: "Reality Show".

Mehr über das Media Hub.

Tigran Petrosyan ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder. * Transparenzhinweis: Der Autor leitet die ­Osteuropa-Projekte der taz Panter Stiftung.

Weitere Artikel