Amnesty Journal Kenia 19. April 2023

Hoffnung verführt

Eine afrikanische Frau steht au einer Straße und lächelt, die Sonne scheint, hinter ihr fahren und parken Autos.

Riskantes Engagement: Mercy Otieno hilft Überlebenden von Menschenhandel.

Die kenianische Menschenrechtsorganisation HAART hilft Überlebenden von ­Menschenhandel und klärt über die Gefahren auf.

Von Bettina Rühl (Text und Fotos)

Hoffnung ist das, was sie alle verführt. Die Hoffnung ­darauf, ihre Kinder endlich vernünftig ernähren zu können. Die Hoffnung auf Arbeit. Auf ein besseres Leben. Auch bei Michael Johnson war das so. "Was sagst du denn, wenn deine Kinder vor dir stehen und dich fragen, was es am Abend zu essen gibt – und du eigentlich keine andere Antwort hast als 'nichts'", fragt Johnson, der rund acht Monate in der Gewalt von Menschenhändlern war und immer noch unter seinen traumatischen Erlebnissen im Ausland leidet. Johnson, der nun wieder in Kenia wohnt, heißt eigentlich anders, möchte seinen richtigen Namen aber nicht gedruckt wissen.

Nach Myanmar verschleppt

Bis zum Beginn der Corona-Krise konnte der heute 35-Jährige immer wieder in einem Hotel aushelfen. Mit dem Lockdown, der den Tourismus in Kenia über Monate zum Erliegen brachte, verlor er jegliches Einkommen. Einen Job im Ausland hielt er für seinen letzten Ausweg. Im Frühjahr 2022 flog der Kenianer mit einem Touristenvisum nach Thailand – in der Hoffnung auf eine fair dotierte Stelle im Online-Verkauf und Marketing eines chinesischen Unternehmens, die Anwerber*innen ihm versprochen hatten. Doch gleich nach der Landung hätten Menschenhändler ihn in Bangkok auf­gegriffen und nach einer mehrtägigen Autofahrt nach Myanmar verschleppt. "Die Männer im Auto waren bewaffnet, mir war klar, dass ich ihnen ausgeliefert bin, deshalb war ich lieber still", erinnert sich der Vater von zwei kleinen Kindern an den Beginn seiner mehrmonatigen Gefangenschaft. In Myanmar zwangen die Kriminellen ihn – und nach seiner Schätzung Hunderte weitere afrikanische Gefangene – mit Gewalt und unter Androhung von Organentnahmen zu ­Online-Betrug.

Dass er mit dem Leben davonkam, verdankt Johnson nicht zuletzt der kenianischen Botschaft in Thailand, die sich für ihn einsetzte. Seit seiner Rückkehr nach Kenia im Herbst 2022 wird er von der kenianischen Menschenrechtsorganisation Awareness Against Human Trafficking (HAART) betreut. Das umfasst psychologische Unterstützung, medizinische Versorgung sowie Hilfe zum Lebensunterhalt. Er ist einer von vielen, die nach derart traumatischen Erlebnissen auf Hilfe angewiesen sind.

Ein afrikanischer Mann mit Baseballmütze auf dem Kopf blickt aus einem Fenster auf Hausdächer.

Traumatisiert: Michael Johnson (Name geändert) war acht Monate in der Gewalt von Menschenhändlern.

Moderne Sklaverei

Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) lebten 2021 weltweit 50 Millionen Menschen in Sklaverei oder sklavereiähnlichen Verhältnissen: in Zwangsarbeit geknechtet oder in Kinderehen gefangen. Viele von ihnen ­geraten durch Menschenhandel in die Hände ihrer Peiniger*innen. Nach der jüngsten Studie des UN-Büros für Drogen und Verbrechensbekämpfung zum Thema Menschenhandel wurden allein im Jahr 2020 weltweit mehr als 50.000 Fälle entdeckt und von 148 Ländern gemeldet. Das Autorenteam erwartete für die kommenden Jahre eine Zunahme der Fälle, weil sich bereits abzeichnete, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der ­Pandemie die wirtschaftliche Not vieler Menschen weiter verschärfen würden.

Diese Sorge hat sich laut Winnie Mutevu, die für HAART arbeitet, bestätigt. "Vor dem Beginn der Corona-Pandemie haben wir jährlich etwa 80, höchstens 100 Überlebende unterstützt", sagt sie. "Aber allein im vergangenen Jahr waren es 160." Die derzeit gut 20 Mitarbeiter*innen der Organisation informieren in kenianischen Dörfern und Städten über Menschenhandel, versuchen bei Behörden und politischen Entscheidungsträger*innen das Bewusstsein für das Thema zu schärfen. Sie helfen bei der Rückführung von Überlebenden und unterstützen sie nach der Rückkehr in die Heimat. Ihr Arbeitsalltag ist wie ein Fieberthermometer für die wirtschaftliche Lage im Land: Nehmen Not und Arbeitslosigkeit zu, suchen die Menschen immer verzweifelter nach einem Job, gehen größere Risiken ein, werden häufiger Opfer von Menschenhandel – und HAART hat immer mehr Überlebende zu betreuen.

Wie wenig über das reale Ausmaß des Menschenhandels bekannt ist, lässt eine Erfahrung aus dem Jahr 2021 ahnen: Die kenianische Polizei repostete damals auf ihrem Twitter-Kanal einen Hinweis von HAART, die Organisation könne Überlebenden von Menschenhandel bei der Repatriierung nach Kenia helfen. "Innerhalb eines Monats wandten sich 4.000 Menschen an uns, die irgendwo im Ausland feststeckten und uns um Unterstützung baten", erzählt Mutevu. Die Hotline und Accounts der Organisation waren schnell völlig überlastet, HAART musste neue Mitarbeiter*innen einstellen, um die Hilfegesuche auch nur annehmen zu können, geschweige denn, für alle etwas tun zu können.

Risikofaktor Wirtschaftskrise

Das Team befürchtet, dass Leidens­geschichten wie die von Johnson noch häufiger werden. Denn in Kenia und anderen ostafrikanischen Ländern sind die Lebenshaltungskosten drastisch gestiegen. "Für viele Menschen hier wird es immer schwerer, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten", erklärt Mercy Otieno. Die Psychologin ist bei HAART für die Unterstützung der Überlebenden zuständig. Auch sie vermutet, dass sich wegen der Wirtschaftskrise immer mehr Menschen von kriminellen Anwerber*innen täuschen lassen. Die Rekrutierer*innen arbeiten für internationale Kartelle, die oft von wohlhabenden Geschäftsleuten geleitet werden, "von denen manche sogar mit Behörden in Verbindung stehen, die in diesem Zusammenhang wichtig sind", sagt Mutevu.

Eine afrikanische Frau mit Brille trägt Ohrringe, sie sitzt vor einer Blätter bewachsenen Wand und lächelt.

Das Bewusstsein für Menschenhandel schärfen: Winnie Mutevu arbeitet bei der NGO HAART.

Die Anwerber*innen versprechen Jobs in den Golfstaaten und immer häufiger auch in asiatischen Ländern oder den USA – Ländern, die arbeitssuchende Kenianer*innen noch vor wenigen Jahren nicht in Erwägung gezogen hätten. Aber Menschenhandel liegt nicht nur vor, wenn internationale Kartelle profitieren. Auch wenn Eltern ihr Kind verheiraten oder zu Verwandten in die Stadt schicken, damit es im Haushalt hilft, gilt dies in ­Kenia als Form von Menschenhandel. Häufig erhalten die Eltern der Mädchen bis heute einen Brautpreis – zum Beispiel Rinder, Ziegen oder einen Geldbetrag. Für verarmte Familien auf dem Land kann das ein starker Anreiz sein, die Tochter möglichst bald zu verheiraten, statt sie als "zusätzliche Esserin" noch länger im Haus zu behalten oder womöglich Schulgeld für sie bezahlen zu müssen.

Seit der Gründung von HAART im Jahr 2010 hat die Organisation viel dafür getan, das Bewusstsein für die verschiedenen Formen von Menschenhandel zu schärfen. Mit einigem Erfolg, meint Otieno. Sie glaubt, dass sich auch deshalb mehr Menschen mit der Bitte um Hilfe an sie und ihre Kolleg*innen wenden. Mittlerweile erkennen die Kenianer*innen schneller, was Menschenhandel ist – und wissen, dass es Organisationen und Regierungsstellen gibt, die ihnen womöglich helfen können. So, wie es die kenianische Botschaft in Thailand geradezu vorbildlich für Johnson getan habe, wie Mutevu sagt. Ein Beispiel, das die Mitarbeiter*innen von HAART ermutigt, mit ihrer nicht ­ungefährlichen Arbeit fortzufahren. So seien Mitarbeiter*innen bereits bedroht worden. Der Gedanke an die eigene Sicherheit gehöre zum Alltag, sagt Mutevu. Dazu zählten Fragen wie: Wo wäre ein zweiter Fluchtweg, wenn ich dieses Haus betrete? Welche Information über mich braucht mein Gegenüber wirklich, was könnte für mich oder die Überlebenden, die wir betreuen, gefährlich werden? Mit derlei Vorsichtsmaßnahmen sei ihr Risiko bislang beherrschbar.

Bettina Rühl ist freiberufliche Journalistin und arbeitet schwerpunktmäßig zu Afrika. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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