Amnesty Journal Iran 04. September 2023

Viel Glut unter der Asche

Zwei junge iranische Frauen sind auf der Straße in Teheran mit offenen Haaren unterwegs, eine von ihnen zeigt ein Victory-Zeichen, die andere hält ein Handy in der Hand.

Die Straßenproteste im Iran haben nachgelassen. Doch die Repression geht weiter. Sie richtet sich vor allem gegen unverschleierte Frauen und die Familien der Opfer. War der Aufstand vergeblich? Eine Bestandsaufnahme von Najereh Mahgoli.

Was im Iran passiert – nicht erst seit September 2022, sondern schon seit Jahren – ist ein revolutionärer Prozess. Es handelt sich um eine Revolution, die in nicht allzu ferner Zukunft erfolgreich sein und Veränderungen in der staatlichen und politischen Struktur bewirken könnte. Die Stimmung der Menschen, die die Straßenproteste momentan ruhen lassen, ist wie Glut unter der Asche. Sie kann jeden Augenblick wieder auflodern und ein Feuer entfachen, das die geistliche und politische Führung der Islamischen Republik vollständig verschlingt.

Bislang hat die Mahsa-Bewegung, benannt nach der ermordeten Kurdin Jina Mahsa Amini, das herrschende System gezwungen, die Maske der "Republik" abzulegen und seinen diktatorischen Charakter zu offenbaren. Die Regierung ist in der Bevölkerung nicht mehr legitimiert und hat keinen Rückhalt, sodass sie zu Gewalt und Massakern greift, um ihr Überleben zu sichern. Die Dauerpräsenz der Streitkräfte und die ständigen Militärmanöver sind allesamt Hinweise auf die schwierigen Bedingungen für den Staat.

Zerstörung der Wirtschaft

Ein weiterer Faktor, der den Fortbestand der Islamischen Republik ernsthaft gefährdet, ist die Zerstörung der Wirtschaft des Landes. Noch nie war der Iran wirtschaftlich so zerrüttet und zersplittert wie heute. Die Menschen werden von Tag zu Tag ärmer, der Wert des Geldes sinkt ständig. Die Bevölkerung kämpft nur noch ums Überleben. Eine hungrige Gesellschaft, die nichts mehr zu verlieren hat, wird sich schließlich erheben müssen. In diesen Tagen machen Gerüchte über steigende Kraftstoffpreise die Runde, und viele Menschen erwarten Teuerungen, die weitere Proteste hervorrufen könnten.

Obwohl die Straßen in Teheran und anderen Städte wieder ruhig geworden sind, kommt es in der Provinz Sistan und Belutschistan noch immer jede Woche nach dem Freitagsgebet zu Protesten und Kämpfen. Belutschische Frauen, die seit Jahren unter männlicher Herrschaft stehen und denen selbst die grundlegenden Menschenrechte vorenthalten werden, nehmen an allen Protesten an der Seite der Männer teil und fordern ihre Rechte ein. Das Schweigen der unterdrückten Frauen Belutschistans gebrochen zu haben, ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Bewegung, das sich auch im Motto "Frau, Leben, Freiheit" wiederfindet.

Revolution in neuer Phase

Straßenproteste spielen beim Fortgang der Revolution zweifellos eine große Rolle. Der vorübergehende Mangel an Protest bedeutet jedoch nicht, dass es keine Opposition mehr gibt, dass sich die Haltung vieler Menschen gegenüber der Islamischen Republik geändert oder dass sich die Politik gegenüber der Bevölkerung verbessert hätte. Geändert hat sich zuletzt nur die Form der sozialen und politischen Kämpfe, und die Revolution ist in eine neue Phase eingetreten.

Nun gehören ziviler Ungehorsam und die Missachtung der Gesetze zum Alltag. Das Ende der Verschleierung von Frauen in der Öffentlichkeit ist eine weitere unumkehrbare Errungenschaft, die die Bewegung bewirkt hat. 44 Jahre lang hat die Islamische Republik den Hidschab als Druckmittel benutzt, um ihre Diktatur aufrechtzuerhalten; aber heute legen die Frauen ihre Kopftücher ab, machen das Wesen dieser Diktatur lächerlich und erschüttern das Fundament der Unterdrückung. Das ist der verborgene Widerstand der Bevölkerung.

Weder europäische noch US-Politiker*innen ergriffen entschiedene Maßnahmen.

Unter den protestierenden Menschen sind jene, die auf eine schnelle und unmittelbare Revolution gehofft haben, inzwischen enttäuscht und desillusioniert. Andere, die die aktuelle Situation und diese Bewegung mit Blick auf die Zukunft sehen, gehen den Weg mit großer Hoffnung weiter.

In den ersten Monaten dieser revolutionären Bewegung kam es zu einer tiefen Spaltung innerhalb des Unterdrückungsapparats und der Regierung der Islamischen Republik. Grund dafür war die Angst vor einem plötzlichen Sturz der politischen und geistlichen Führung. Diese Angst zeigte sich auch in der beispiellosen Anwendung von Gewalt gegen die Bevölkerung. Nach der Beruhigung der Lage und dem Rückgang der offenen Gewalt setzen die Unterstützer*innen des Regimes wieder auf die Stabilität des Staats und den Erhalt ihrer Machtpositionen.  

Willkürliche Morde an der Tagesordnung

Zu Beginn des Aufstands verbreiteten sich die Nachrichten über Morde und Massaker rasch über die Grenzen des Iran hinaus und berührten Menschen weltweit. Heute gibt es kaum jemanden auf der Welt, der nicht weiß, welche Tragödie sich im Iran abgespielt hat und noch immer abspielt. Doch weder europäische noch US-Politiker*innen ergriffen entschiedene Maßnahmen gegen diese Tyrannei.

Dabei hat die Missachtung der Menschenrechte längst ein kritisches Stadium erreicht. Frauen, die keinen Hidschab tragen, werden bedroht und angegriffen, ihre Bankkonten gesperrt. Autos, in denen unverschleierte Frauen sitzen, werden beschlagnahmt. Frauen, die sich kleiden, wie sie möchten, ist der Zutritt zu öffentlichen Plätzen untersagt. Restaurants, Einkaufszentren, Boutiquen, die unverschleierte Frauen bedienen, werden von den Behörden geschlossen und mit schweren Strafen belegt. Willkürliche Morde, Festnahmen und Hinrichtungen sind an der Tagesordnung.

Die Familien der Opfer sind starkem Druck, Drohungen, Schikanen und Verfolgung ausgesetzt. Sie können nicht einmal die Gräber ihrer Angehörigen ohne Repressalien besuchen. Einige Verwandte von Verstorbenen sitzen sogar selbst im Gefängnis, weil sie gegen die Ermordung ihrer Angehörigen protestierten. Die Eltern von Pouya Bakhtiari, die 1998 an Protesten teilnahmen, sind seit mehreren Jahren im Gefängnis. Der Bruder und die Schwester von Navid Afkari – ein Ringer, der 2020 hingerichtet wurde – sind ebenfalls in Haft. Die Mutter des zehnjährigen Kian Pirfalak, der im Herbst 2022 erschossen wurde, steht unter Hausarrest; der Vater von Hamidreza Rouhi, ebenfalls im Zuge der Proteste ermordet, wurde ins Evin-Gefängnis verschleppt, weil er am Geburtstag seines Sohnes Gerechtigkeit gefordert hatte. Die Familienmitglieder leben im Schatten, ohne dass auch nur eine einzige Person für die Ermordung ihrer Angehörigen vor Gericht zur Verantwortung gezogen wurde. Hunderte anderer Familien erleiden das gleiche Schicksal.

Die Führer der Islamischen Republik haben die iranische Bevölkerung als Geisel genommen, und jeden Tag werden die Menschen zugleich trauriger und wütender. Diese Wut kann die diktatorische, aber instabile Führung noch zum Einsturz bringen.

Najereh Mahgoli, Name geändert, ist Künstlerin und Autorin. Sie lebt in Teheran.

HINTERGRUND

Repression im Iran

Im Jahr 2022 verzeichnete Amnesty International mindestens 576 Hinrichtungen im Iran. Von Januar bis Mai 2023 wurden mindestens 282 Personen nach systematisch unfairen Gerichtsverfahren hingerichtet – fast doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Der größte Teil dieser Verfahren, 173, erfolgte wegen Drogendelikten. Mindestens 96 politischen Gefangenen droht derzeit nach Angaben der "Campaign to free political prisoners in Iran" die Todesstrafe.

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