Amnesty Journal 26. Juli 2021

Rekonstruktion eines Verbrechens

Spielfilm „Quo vadis, Aida?“ ab 5. August in den Kinos
Eine Frau steht vor einer mit Papier abgehängten Glaswand, durch die Licht scheint und hat einen entsetzten Gesichtsausdruck, bei dem sie sich die rechte Hand vor den Mund hält.

Der Film "Quo vadis, Aida?" rekonstruiert die Vorgänge im Sommer 1995, die der Internationale Strafgerichtshof für Ex-Jugoslawien später als Genozid bezeichnet hat.

Mit "Quo vadis, Aida?" erinnert Regisseurin Jasmila Žbanić an den Völkermord in Srebrenica während des Bosnienkrieges Mitte der 1990er Jahre.

Von Jürgen Kiontke

Die Lehrerin Aida (Jasna Đuričić) arbeitet als Übersetzerin für die Vereinten Nationen in Srebrenica. Die innerjugoslawischen Kriege sind in vollem Gange, und vor den Toren der bosnischen Kleinstadt tauchen Kontingente der bosnisch-serbischen Armee auf, die unter dem Kommando von General Ratko Mladić (Boris Isaković) die Stadt einnehmen.

Wie viele andere sucht auch Aidas Familie Zuflucht bei den Blauhelmtruppen des UN-Corps "Dutchbat", deren Befehlshaber Thomas Karremans (Johan Heldenbergh) völlig überfordert ist. Seine holländischen Soldaten, nur wenige Hundert, wollen das Land am liebsten so schnell wie möglich verlassen. Bilder zeigen, wie Karremans mit Mladić anstößt – und kurz darauf die Stadt preisgibt. Aida muss mittrinken. Die Einnahme Srebrenicas wird in einem Massaker enden, bei dem die männlichen Bosnier erst separiert, dann ermordet werden.

"Ereignisse im europäischen Bewusstsein verankern"

"Quo vadis, Aida?" rekonstruiert die Vorgänge im Sommer 1995, die der Internationale Strafgerichtshof für Ex-Jugoslawien später als Genozid bezeichnet hat. Die Ereignisse in Srebrenica gelten als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, die Zahl der Ermordeten wird auf 8.000 geschätzt.

"Europa, 1995" steht am Beginn des Films, und das ist wichtig. Denn die Ereignisse seien nicht im europäischen Bewusstsein verankert, sagt Regisseurin Jasmila Žbanić, in den Köpfen der meisten Europäer_innen herrsche auf dem Kontinent seit 1945 Frieden. Die jugoslawischen Sezessionskriege mit ihren furchtbaren Gräueltaten würden ausgeblendet. Vielen Menschen in den ex-jugoslawischen Staaten käme das zupass. Die Leugnung der Verbrechen sei aber eine Art Fortsetzung des Genozids.

Žbanićs Film erzählt in einer Spanne von nur wenigen Tagen die damaligen Ereignisse und manche ihrer Hintergründe nach: Welche Verhandlungen wurden geführt, welche Abmachungen getroffen? Das Geschehen wird aus der Perspektive Aidas geschildert, die als Übersetzerin immer inmitten des Geschehens ist. Die zentrale Frage geht an die Entscheider: Wäre das Verbrechen vermeidbar gewesen, wenn sie anders gehandelt hätten? Die entschiedene Antwort des Films: Ja, das wäre es.

Akribische Rekonstruktion

Die von Jasna Đuričić eindrücklich gespielte Figur ist zwar erfunden, ihre Geschichte basiert aber auf den autobiografischen Aufzeichnungen des realen Übersetzers Hasan Nuhanović, der damals seine Angehörigen verlor. Auch Aida kämpft um das Leben von Mann und Söhnen – und kann nicht gewinnen. Abgesehen von seiner fiktionalen Protagonistin, gibt der Film ansonsten sehr akribisch die realen Ereignisse wieder. So wurden zum Beispiel die Auftritte von Befehlshaber Mladić historischen Aufnahmen nachempfunden.

Sie habe entschieden, eine Frau zur Hauptperson zu machen, sagt Žbanić, denn das Publikum könne sich eher mit einer Frau identifizieren, die versucht, ihren Mann und ihre Söhne zu retten, als mit einem Mann. Ihr war es wichtig, den Krieg aus einer weiblichen Perspektive darzustellen – aus Sicht einer Frau, die in einem von Männern dominierten Krieg zwischen die Fronten gerät. Das Publikum mag entscheiden, ob dies eine gute Entscheidung war. Nuhanović, der das Filmprojekt zunächst unterstützte, stieg später aus.

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Was die Darstellung der Grausamkeiten betrifft, hält sich der Film stark zurück. Auf die Inszenierung von Folter und Mord wird weitestgehend verzichtet. Die Gewalt spiegelt sich stattdessen im Gesicht der Schauspielerin Jasna Đuričić wider, die Aida mit großer Präsenz verkörpert.

"Quo vadis, Aida?" ähnelt mit diesem Vorgehen dem sowjetischen Film "Komm und sieh" (SU 1985), der die Wirkung der Gewalttaten der Deutschen im Zweiten Weltkrieg im Gesicht eines Jungen zeigt. In seiner Konzentration auf das Geschehen im UN-Camp erinnert er an "Hotel Ruanda" (US u. a. 2004): Beide Filme handeln von Völkermord, beziehen die Ebene der nationalen und internationalen Politik, die das Kriegsgeschehen stark beeinflusst hat, aber kaum ein.

Vermeintliche Alternativlosigkeit

Krieg ist für Žbanić etwas nicht direkt Darstellbares und soll keinen Schauwert bekommen: Er habe nichts Spektakuläres oder Ästhetisches, sagt die Regisseurin. Ihn auszumalen, würde nur seine vermeintliche Alternativlosigkeit unterstreichen. In "Quo vadis, Aida?" unterliegen die Kriegshandlungen keiner zwingenden Logik. Im Gegenteil: Mögen die Ereignisse auch noch so verworren sein, sie lassen immer den freien Willen zu. Folgt man dieser Idee, dann hätte es in Srebrenica genug Möglichkeiten gegeben, das Geschehen in andere Bahnen zu lenken: UN-Befehlshaber Karremans hätte anders, mutiger handeln können. Mladić hätte auch wieder abziehen können. Soldaten hätten, Befehl hin oder her, nicht schießen müssen. Insofern will der Film nicht mit einem Spektakel, sondern mit dem Nachdenken über andere Möglichkeiten Aufmerksamkeit erzeugen. Eine Vielzahl an Festivalpreisen scheint diesem Vorgehen Recht zu geben.

"Die internationale Gemeinschaft muss dafür Sorge tragen, dass alle Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien geahndet werden und die Opfer Gerechtigkeit, Aufklärung und Wiedergutmachung erfahren", forderte Amnesty International angesichts der Vorgänge in Bosnien. In diesem Sinne ist "Quo vadis, Aida?" ein entschiedenes Plädoyer für ein konsequentes Handeln im Interesse der Menschenrechte.

Ein wichtiger Film. Aktuell ist er ohnehin: Erst kürzlich wurde die Verurteilung Mladićs wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Berufungsverfahren bestätigt.

Jürgen Kiontke ist freier Autor, Journalist und Filmkritiker. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

"Quo vadis, Aida?" AUT u. a. 2020. Regie: Jasmila Žbanić, Darsteller_innen: Jasna Đuričić, Izudin Bajrović. Kinostart: 5. August 2021

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