Amnesty Journal Eritrea 28. Oktober 2022

Elektroschocker auf der Brust

Ein junger Mann aus Eritrea trägt ein Unterhemd, eine dicke Halskette, die Haare zu einem Zopf hinter dem Kopf zusammen gebunden und einen Bart; die Sonne scheint auf sein Gesicht.

Der Eritreer Filimon Mebrhatom floh mit 14 Jahren nach Europa. In seiner Autobiografie hat er das Martyrium dieser Reise dokumentiert.

Von Christian Jakob

Er wolle "doch nur frei sein", schreibt Filimon Mebrhatom, so heißt auch das Buch über seine Flucht aus Eritrea. Man liest die grauenhaften Schilderungen von Gefangenschaft, Hunger, Krankheit, Gewalt über Hunderte von Seiten und fragt sich, ob jemals wirklich frei sein kann, wer solches durchlitten hat.

Mebrhatom ist heute jedenfalls frei genug, von seiner höllischen Odyssee zu erzählen. Er hat, mit gerade Anfang Zwanzig, seine Autobiografie geschrieben, gemeinsam mit dem öster­reichischen Journalisten Alexander Behr. Sie beginnt leicht roman­tisierend – "die Luft ist sauber und riecht gut, das Essen ist frisch und frei von Pestiziden" – in ­einem kleinen Dorf in Eritrea, nahe der äthiopischen Grenze, und endet in München, wo Mebrhatom eine Ausbildung zum Kameramann ­gemacht hat.

Steineschleppen und Schläge

Was dazwischen liegt, ist schon vielfach beschrieben worden. So hat Co-Autor Behr bereits 2014 gemeinsam mit dem kongolesischen Flüchtling Emanuel Mbolela ein ähnliches Buch geschrieben. Doch Mebrhatoms Schilderungen geben dem Ausmaß des Leids auf den Fluchtrouten in ganz besonderer Weise Kontur, zeichnen mit Schärfe, was sich nur vage ahnen lässt.

In Äthiopien und im Sudan ist es vor allem der Versuch von Staat und Milizen, die Flüchtenden aufzuhalten, der ihm und vielen anderen, die mit ihm unterwegs sind, zum Verhängnis wird. Später dann, in Libyen, geht es um ihre Ausbeutung als Opfer von Erpressung und Sklavenarbeit. "Mein Rücken war bereits schwer gezeichnet vom Schleppen der Steine auf der Baustelle", schreibt Mebrhatom. "Unzählige Stellen an meinem Körper waren wund und angeschwollen. Durch die Schläge platzte nun meine Haut auf, und Blut rann meinen Körper hinab." Doch der Anführer der Bande, an die Mebrhatom von Schleppern verkauft worden war, schlägt weiter zu. "Als ich dachte, er sei mit mir fertig, holte er den Elektroschocker, um mir die Brust zu verbrennen." Um seine Augen zu schützen, schließt Mebrhatom die Lider. Doch das stachelt seinen Peiniger nur noch mehr an. "Lass deine Augen offen, sonst öffne ich sie dir und verbrenne sie", droht er. Offensichtlich findet er Gefallen an der Qual und hält den Elektroschocker in Mebrhatoms offene Wunden, bis dieser auf die Knie sackt und zu Boden fällt.

Ein Kind, das um sein Leben kämpft

14 Jahre ist er da alt, ein Kind, das um sein Leben kämpft, in der Hoffnung auf eine Zukunft, die absolut ungewiss ist. Er wird eingesperrt, misshandelt, kommt dann irgendwie frei – bis wieder alles von vorn beginnt. Ein ganzes Jahr geht das so, in Äthiopien, Sudan, Libyen, Italien. Die italienische Marine rettet Mebrhatom im Herbst 2014 in einem vollgelaufenen Schlauchboot zwischen Libyen und Lampedusa vor dem Ertrinken – ein Glück, das viele andere Bootsflüchtlinge nicht haben. Den Weg von Sizilien nach München legt er auf eigene Faust zurück. Fünf Jahre dauert es dann noch, bis die deutschen Behörden ihn schließlich als Flüchtling anerkennen.

Dabei ist es schon ein Fluchtgrund an sich, in Eritrea geboren worden zu sein, das sich seit 1993 unter Isayas Afewerki zu einer Diktatur entwickelt hat. Allen jungen Menschen, Männern wie Frauen, droht ein sklavenartiger staatlicher Zwangsdienst, den sie auf unbestimmte Zeit leisten müssen. Wie Mebrhatom versuchen deshalb viele junge Eritreer*innen, das Land zu verlassen. Rund 10.000 kamen 2021 in die EU, etwa ein Viertel davon nach Deutschland. 83 Prozent wurden direkt anerkannt, die übrigen schafften es zumeist nach einem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht.

Schutz wird ihnen letztlich also gewährt, doch haben sie keine Möglichkeit, direkt nach Deutschland zu gelangen. Alle müssen vielmehr den Weg gehen, den Filimon Mebrhatom gewählt hat und der mit Lebensgefahr, Hunger und Entrechtung verbunden ist. Davon berichtet dieses Buch in erschütternder Klarheit.

Filimon Mebrhatom: Ich will doch nur frei sein. Wie ich nach Unterdrückung, Gefangenschaft und Flucht weiter für eine Zukunft kämpfe. Komplett Media, München, 256 Seiten, 18 Euro.

Christian Jakob ist taz-Redakteur und Journalist mit dem Arbeitsschwerpunkt Flucht und Migration. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

HINTERGRUND

INTERVIEW MIT AMNESTY-ASYLEXPERTIN FRANZISKA VILMAR

 

"Flüchtende werden abgefangen und eingesperrt"

Wer in Europa Schutz suchen will, ist in Libyen oft schweren Misshandlungen ausgesetzt, sagt Amnesty-­Asylexpertin Franziska Vilmar. Die Ampelkoalition tue zu wenig, um Flüchtlingsrechten Geltung zu verschaffen.

Interview: Christian Jakob

Am Horn von Afrika leben 17 Millionen Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Wie ist die Menschenrechtslage für diejenigen, die nach Europa gelangen wollen?

Äußerst prekär. Nach wie vor fliehen unter anderem Tausende Menschen aus Eri­trea und suchen in anderen Ländern um Asyl nach. Auf dem Weg nach Europa sind sie schweren Übergriffen ausgesetzt. Viele werden in den Transitländern – vor allem, aber nicht nur in Libyen – inhaftiert, verschleppt, sexuell missbraucht, gefoltert, erpresst und auf andere Weise misshandelt. Es ist schwer, genaue Aussagen zur Lage auf dieser Route zu machen, denn Staaten wie Eritrea oder Libyen lassen grundsätzlich keine Menschenrechtsbeobachter*innen ins Land. Wir sind deshalb auf Schilderungen von Migrant*innen angewiesen, mit denen wir telefonieren oder die wir nach ihrer Reise befragen.

Die EU versucht, fast alle Staaten auf dieser Route für den Schutz ihrer Außengrenzen in Dienst zu nehmen. Was sind die Folgen?

Eine wesentliche Folge ist, dass die libysche Küstenwache Flüchtlinge und Migrant*innen auf dem Mittelmeer abfängt und in Libyen einsperrt. Das geht bereits seit 2017 so. In diesem Jahr betraf dies allein von Januar bis Anfang September mehr als 15.000 Menschen. Und obwohl es überwältigende Beweise dafür gibt, dass sich die libysche Küstenwache rechtswidrig verhält und dass in den Haftzentren systematische Menschenrechtsverletzungen verübt werden, hält die EU an dieser Kooperation fest. Wir fordern, dass es keine Migrationskooperation mit Libyen geben darf, solange die Menschenrechte nicht gewahrt werden.

Die deutsche Regierung hat im Koalitionsvertrag angekündigt, solche Missstände zu beseitigen. Wie geht es dabei voran?

Zunächst haben wir uns gefreut, dass es im Koalitionsvertrag Passagen gibt, in ­denen es zum Beispiel heißt, die See­notrettung dürfe nicht kriminalisiert werden. Soweit ich das sehe, hat sich die Ampelkoalition aber bisher im europäischen Rahmen noch nicht dafür eingesetzt. Ein Alleingang Deutschlands ist hier nicht möglich, jede Verbesserung muss im Zusammenspiel mit den anderen EU-Staaten erfolgen. Aber obwohl an den EU-Außengrenzen täglich Menschenrechtsverletzungen und Pushbacks stattfinden, habe ich noch nicht gehört, dass Innenministerin Nancy Faeser gesagt ­hätte: "Das muss aufhören, ich werde mit meinen Kolleg*innen sprechen, damit das ein Ende hat." Das hatte ich von der neuen Bundesregierung eigentlich ­erwartet.

Franziska Vilmar ist Asylexpertin bei Amnesty Deutschland.

Christian Jakob ist taz-Redakteur und Journalist mit dem Arbeitsschwerpunkt Flucht und Migration. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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