Amnesty Journal Argentinien 27. Dezember 2022

Der Nebel am Ende der Lieferkette

Ein Feld auf dem ein Mähdrescher unterwegs ist von oben.

Tierfutter für die Welt: Auf den Feldern um das Dorf Napenay wird Soja in riesigen Monokulturen angebaut.

Im Norden Argentiniens wird Soja für den Weltmarkt angebaut. Die Pflanze wird mit Pestiziden europäischer Konzerne besprüht, deren Einsatz in der EU verboten ist. Die Bewohner*innen von Napenay spüren am eigenen Leib, warum.

Von Ann Esswein (Text) und Felie Zernack (Fotos)

"Ich kann das Gift nur riechen", sagt Catalina Cendra. Sehen kann die Kleinbäuerin hingegen die Pusteln auf ihrem Arm, wenn sie abends von ihrem Feld zurück nach Napenay fährt, ein Dorf im Norden Argentiniens. Und wenn sie beim Aufwachen Schmerzen im Kopf und in den Armen spürt, ahnt sie, dass auf den Plantagen wieder einmal Pestizide versprüht wurden. Ist der Grünstreifen neben der Straße verwelkt, weiß die 47-Jährige, dass die Pflanzenschutzmittel sich bereits niedergeschlagen haben.

Aus dem kleinen Dorf führt ein holpriger Weg durch scheinbar endlose Sojafelder. Geschrotet wird die Bohne um die ganze Welt verschifft, um sie an Kühe, Hühner und Schweine zu verfüttern. Soja ist mittlerweile eines der wichtigsten Exportgüter Argentiniens. Damit es in der kargen und trockenen Provinz Chaco gut wächst, braucht es Dünger und Pflanzenschutzmittel. In kaum einem anderen Land auf der Welt werden so viele Pestizide eingesetzt wie in Argentinien.

Geschichte einer Ohnmacht

"Hier ist die Landebahn", sagt Cendra beim Vorbeifahren und kneift die Augen zusammen. Von der staubigen Piste starten die Sprühflugzeuge frühmorgens, um Pflanzenschutzmittel auf die Felder rieseln zu lassen. Wenn sie die Maschinen über den Häusern höre, wisse sie, dass es ihr schlecht gehen werde, sagt die Bäuerin. Auf einem kleinen Stück Land baut sie Maniok, Zwiebeln und Kürbisse an. "Alles natürlich", sagt sie. Eigentlich. Denn sie baut ihr Gemüse zwar ohne synthetische Dünge- und Pflanzenschutzmittel an, doch weht der Wind die Pestizide auf ihren Acker. Und anders als das genmanipulierte Soja, das gleich nebenan wächst, sind ihre Pflanzen nicht gegen die Chemikalien gewappnet. "Sie haben meine Gesundheit, alle meine Felder und alle meine Obstpflanzen zerstört", sagt Cendra, deren Familie seit drei Generationen in Napenay lebt: "Es ist beeindruckend, wie sie uns vergiften." Aber wer genau "sie" sind, das kann die Bäuerin nicht ­sagen.

Sie haben meine Gesundheit, alle meine Felder und alle meine Obstpflanzen zerstört.

Catalina
Cendra
Bäuerin
Eine mittelalte Frau in Bluse mit kurzen rotblonden Haaren im Porträt.

Die Kleinbäuerin Catalina Cendra leidet unter Kopfschmerzen und Hautausschlägen, sobald die Felder mit Pestiziden besprüht wurden.

Cendras Geschichte ist die einer Ohnmacht gegenüber Agrarunternehmen, die sich im Norden von Argentinien angesiedelt haben, um Rohstoffe wie Soja für den Export anzubauen – und dabei gesundheitsschädliche Pestizide einsetzen. "Eingenebelte Dörfer" werden die Orte genannt, deren Bewohner*innen immer wieder von Allergien, Erbrechen, Koliken, Fehlgeburten, Missbildungen, Krebserkrankungen und verdorrten Pflanzen berichten. Seit Jahren dokumentieren Hilfs­organisationen die Beschwerden. Doch haben internationale Agrarkonzerne bisher selten ihre Verantwortung für die Gesundheits- und Umweltschäden anerkannt – auch davon handelt diese Geschichte.

In den 1990er Jahren versprachen genmanipulierte Saaten und Pestizide aus dem Hause Monsanto, das heute zum Bayer-Konzern gehört, mehr Ertrag und weniger Hunger. Als erstes Land Südamerikas erlaubte Argentinien den Anbau von genmanipuliertem Soja. Satellitenbilder, die seit den 1990er Jahren aufgenommen wurden, zeigen, dass immer mehr Waldflächen rings um Napenay in Anbauflächen für Soja umgewandelt wurden. Catalina Cendra kann über die Zeit davor berichten. Früher habe auf den Feldern hinter Napenay dichter Wald gestanden, sagt die Kleinbäuerin. Heute gibt es nur noch einzelne bewaldete Flächen, die wie Inseln in den Anbauflächen liegen. Mit dem Soja-Boom seien immer mehr Unternehmen von außerhalb gekommen, die Pestizide aus der ganzen Welt in das Dorf brachten. Die Namen der Firmenbesitzer kennen sie im Dorf nicht. Sie seien aus China und Europa, vermutet Cendra.

Erkrankte Jugendliche

Einige der Pflanzenschutzmittel, die beim Sojaanbau eingesetzt werden, sind in der EU verboten, obwohl sie zum Teil dort hergestellt und von dort exportiert werden, erklärt der Agraringenieur Javier Souza, der an der Universität Buenos Aires arbeitet. Offiziell sind in Argentinien mehr als 100 Pestizide erlaubt, die als hochgefährlich eingestuft werden. Seitdem das Land den Einsatz von genmanipulierten Sojasaaten und problematischen Pestiziden freigegeben hat, hat sich die Menge der eingesetzten Pflanzenschutzmittel verdoppelt. Seit Jahrzehnten kämpfen Agraringenieure wie Souza für ein nationales Gesetz, das den Einsatz von Pestiziden regelt – bisher erfolglos. Es gebe nur regionale Gesetze, und die folgten den politischen Interessen in den Regionen, sagt der Pestizidexperte. Auch für die Provinz Chaco gilt ein eigenes Gesetz. Es erlaubt das Versprühen aus der Luft nur, wenn ein Abstand von eineinhalb ­Kilometern zu bewohnten Gegenden ­eingehalten wird. In den "eingenebelten Dörfern" wird dieser Mindestabstand zwischen Feldern und bewohnten Gegenden aber häufig nicht beachtet.

In Napenay beginnen die Sojafelder direkt hinter dem Dorfrand. Nur wenige Schritte sind es von dort bis zum Haus von Anna Dwack. Überall an den Wänden hängen Bilder von Dwacks Tochter: Valen­tina in einem Babybett, auf dem Arm ihrer Eltern, ein Mädchen mit langen braunen Haaren. Aber anders als viele Kinder im Dorf lernte sie nie laufen, denn Valen­tina wurde mit einer Missbildung geboren, erzählt ihre Mutter. Die Elfjährige sitzt neben ihr, die Krücken an die Couch gelehnt. Sie kann sich nur mit Hilfe erheben, balanciert auf Beinen, die ihr nicht gehorchen. Sie habe kein Gefühl in den Beinen, erklärt Dwack, außerdem funktioniere eine ihrer Nieren nur zu 60, die andere sogar nur zu 30 Prozent. Seit der Geburt ihrer Tochter sei ihr Leben geprägt von Sorgen, erzählt die 43-Jährige: von Operationen und Besuchen bei Ärzten in der Hauptstadt. Doch gebe es bis heute keine überzeugende Antwort auf die Frage, warum Valentina diese Einschränkungen habe.

Ein jugendliches Mädchen mit langen Haaren zum Pferdeschwanz zusammengebunden stützt sich auf Krücken und posiert zum Porträt.

Ihre Mutter sieht die Pestizidbelastung als Ursache: Valentina Dwack wurde mit geschädigten Beinen und Nieren geboren.

Wenn ich den Mund halte, wird es immer so weitergehen.

Anna
Dwack
Geschädigte

Weil ihre Tochter rund um die Uhr auf Betreuung angewiesen ist, hat Dwack aufgehört zu arbeiten. Mit dem Gehalt ihres Mannes, der als Taxifahrer arbeitet, kommt die Familie kaum über die Runden. Wegen ihrer Erkrankung ist Valentina auf Schonkost angewiesen und darf nur Wasser trinken, das keine Spuren von Pflanzenschutzmitteln enthält. Im Dorf gibt es aber nur einen offenen Brunnen. "Ich möchte mir nicht vorstellen, was da drin ist", sagt Dwack und meint die Pestizide. Sie wäscht ihre Tochter mit Trinkwasser, das sie in Fässern in einem Vorratsraum lagert. Sicheres Wasser ist hier ein teures Gut.

Während ihre Mutter erzählt, spielt Valentina mit ihrem geflochtenen Zopf und spreizt langsam einen Finger nach dem anderen ab, als würde sie zählen. Sie liebe die Schule, sagt sie schüchtern. Ihre Mutter muss sie mittags abholen, denn das Essen dort ist nicht unbelastet, und die Toiletten sind nicht behindertengerecht. Einfach rumtoben, wie ihre Mitschülerinnen, und danach selbstständig nach Hause kommen, ist für Valentina unmöglich.

Missbildungen haben sich verfünffacht

Die Pestizide beeinträchtigten die Rechte der Bewohner*innen von Napenay auf Nahrung, auf unversehrte Gesundheit, auf Wasser. Im Fall von Valentina verhinderten sie auch eine unbeschwerte Kindheit. Und sie ist nicht die Einzige im Dorf. Ein Nachbarsjunge war erst 14 Jahre alt, als er Krebs bekam. Ein weiterer Junge hat Probleme mit seinem Blut und sitzt im Rollstuhl. Die 18-jährige Cousine von Valentina kann aus unerklärlichen Gründen nicht laufen. Sie kenne die Bilder von Tschernobyl aus dem Fernsehen, sagt Dwack. In den kontaminierten Gebieten hätten die Menschen ähnliche Krankheiten wie ihre Tochter.

Verlässt man sich auf die letzte staat­liche Untersuchung aus dem Jahr 2009, so haben sich die Missbildungen in den "eingenebelten Dörfern" seit 1997 verfünffacht. Krebserkrankungen treten in der Region viermal so häufig auf wie im Rest Argentiniens. In ihrem Abschluss­bericht stellte die Untersuchungskommission fest, dass der Einsatz von Chemikalien nahe der Dörfer zu zahlreichen ­Beschwerden geführt habe und weitere tiefergehende Studien nötig seien. Stattdessen wurde die Kommission abgewickelt.

Ein mittelalter Mann mit grauem Haar und T-Shirt steht an einem Zaun, seine Hand hält einen Zaunpfahl, hinter ihm erstreckt sich ein Feld.

Héctor Capitanich ist davon überzeugt, dass die Pesitizide, die er einsetzt, nicht schädlich sind.

Ein paar Dörfer weiter ist sich Héctor ­Capitanich keinerlei Verantwortung bewusst. Der Landwirt baut auf 7.000 Hektar Baumwolle, Mais und Soja an. Er benötige die Pestizide, damit seine Pflanzen frei von Insekten und Schädlingen wachsen könnten, damit sich der Anbau lohne und der Preis stabil bleibe, sagt Capita­nich, während er auf einem Plastikstuhl in seinem Hof sitzt. Einige der Pflanzenschutzmittel, die sich in seiner Scheune stapeln, stehen auf Javier Souzas Liste der hochgefährlichen Pestizide. Capitanich hält sie hingegen nicht für schädlich. Der Landwirt ist sich sicher: "Die Unternehmen, die die Produkte herstellen, arbeiten auch mit dem Ziel, die Umwelt nicht oder so wenig wie möglich zu belasten."

Schadenersatz unerreichbar

Wissenschaftler*innen können die ­Beobachtungen von Dwack und Cendra allerdings belegen: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Pestiziden und Krebserkrankungen, Fehlbildungen, Frühgeburten und Wachstumsstörungen. Das Schweizer Rechercheportal PublicEye listet 54 Stoffe auf, die als wahrscheinlich krebserregend, fortpflanzungsgefährdend oder hormonell aktiv eingestuft werden. Vertrieben werden sie von deutschen Konzernen wie Bayer und BASF oder dem Schweizer Unternehmen Syngenta. Betroffene haben in der Vergangenheit immer wieder versucht, Agrarkonzerne auf Schadenersatz zu verklagen. Für Dwack erscheint eine Klage allerdings unerreichbar. Außer ein paar verwackelten Handyvideos der Sprühflugzeuge haben die Bewohner*innen von Napenay keinerlei Belege. Und selbst wenn, an wen sollten sie ihre Beschwerden richten? Beschwerden bei lokalen Behörden seien in Argentinien oft langwierig und würden nur selten zu einer Verbesserung führen, sagt auch Souza.

Eine Veränderung könnte das Lieferkettengesetz bewirken, das 2023 in Deutschland in Kraft tritt. Denn es soll die Verantwortung von Ländern mit geringen Umweltauflagen auf deutsche Unternehmen verlagern, die aus dem Ausland Rohstoffe beziehen. Fleischproduzenten, Tierfutterhersteller und Supermarktketten mit mehr als 3.000 Mitarbeitenden müssen ab dem kommenden Jahr Menschenrechtsbeauftragte einstellen und eine Risikoanalyse vornehmen. Gibt es Anhaltspunkte für Rechtsverletzungen, müssen die Unternehmen auch über ihren Geschäftsbereich hinaus genauer hinsehen: zum Beispiel auf einem Feld, auf dem Soja wächst.

Theoretisch können Betroffene wie Anna Dwack ihre Hinweise direkt an das zuständige Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) richten, ­erklärt Annelen Micus, Fachreferentin für Wirtschaft und Menschenrechte von Amnesty in Deutschland. Weil dies nicht gerade einfach ist, können sie Unterstützung von Hilfsorganisationen bekommen. Amnesty und viele weitere Nicht­regierungsorganisationen kritisieren jedoch, dass Betroffene nicht auf Schadenersatz klagen können. Werden Rechtsverletzungen nicht unterbunden, kann das BAFA das betreffende Unternehmen lediglich sanktionieren. Trotz aller Unzulänglichkeiten ist das Lieferkettengesetz aber nach Ansicht von Micus ein Fortschritt, weil es die Unternehmen stärker in die Pflicht nimmt.

11.000 Kilometer weit entfernt in ­Napenay denkt Dwack darüber nach, die "eingenebelten Dörfer" zu verlassen. Doch zunächst will sie jede Möglichkeit nutzen, sich zu beschweren: "Denn wenn ich den Mund halte, wird es immer so weitergehen."

Ann Esswein ist freie Journalstin. Felie Moucir Zernack ist freier Multimediajournalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Amnesty Deutschland unterstützt die Initiative Lieferkettengesetz: lieferkettengesetz.de

Weitere Artikel