Amnesty Journal Afrika 20. Dezember 2023

Wiedereroberung präkolonialer Geschichte

Zwei nebeneinanderliegende Knochen, in die Kerben geritzt wurden.

Die Künstlerin und Kuratorin Molemo Moiloa ist Mitbegründerin von Open Restitution Africa, einer Rechercheplattform für die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter. Sie fordert einen Perspektivwechsel in der vom globalen Norden dominierten Debatte über den Umgang mit den Objekten.

Protokoll von Elisabeth Wellershaus

Eines der größten Probleme im internationalen Diskurs um Restitution ist die Tatsache, dass nur ganz bestimmte Stimmen zum Thema gehört werden. Denn in der Regel stammen die Expert*innen, die in der Öffentlichkeit stehen, nicht aus Afrika. Das bedingt, dass die Debatte in westlichen Ländern und Institutionen noch immer durch einen fast ausschließlichen Fokus auf die Objekte selbst geführt wird. Die Begleitumstände, die viele Communities in afrikanischen Ländern durch den Verlust dieser Objekte geprägt haben, werden dabei nicht wirklich wahrgenommen. Schlicht, weil es in der Kommunikation zwischen dem Westen, afrikanischen Expert*innen und betroffenen Menschen auf dem Kontinent hakt. Für mein Verständnis geht es aber um viel mehr als um die simple Rückgabe und das Bewahren von Kunstgegenständen. 

Digitalisierung des Kulturerbes

Das Projekt Open Restitution Africa, das ich mit Chao Tayiana Maina leite, trägt Informationen über Objekte, neue Museumspraktiken und das Wissen aus verschiedenen Communities zusammen. Denn viele dieser Communities haben seit geraumer Zeit keinen Zugriff auf große Teile ihres kulturellen Erbes. Bei Recherchen war ich zufällig auf das Thema gestoßen. Ich hatte für ein Projekt nach Daten über zurückgeführte Artefakte gesucht und festgestellt: Es gab keine strukturierten Datensammlungen, die den Restitutionsprozess greifbar machen konnten. Als ich Chao bei einer Konferenz in Namibia kennenlernte, ergab sich schnell eine Zusammenarbeit. Chao hatte mit African Digital Heritage eine Plattform gegründet, die sich mit der Digitalisierung von Kulturgütern beschäftigte. Ich war an Datenanalysen zum Restitutionsprozess interessiert. Also taten wir uns zusammen.

Relativ schnell wurde uns klar, dass Digitalität ein entscheidendes Werkzeug war, um die Restitutionsdebatte inklusiver zu gestalten. Es gab etliche Beispiele. Etwa die Arbeit vom Women’s History Museum in Sambia, das per WhatsApp versucht, Geschichten über gestohlene Objekte zusammenzutragen, die einst das Alltags­leben sambischer Frauen prägten. Oder Chao Tayiana Mainas 3D-Modelle von den ehemaligen Arbeitslagern in Kenia, die sich mit der Mau-Mau-Bewegung und den traumatischen Folgen der Kolonisierung beschäftigen. Digitale Methoden sind eine Möglichkeit, sich den verborgenen Aspekten der Vergangenheit zu nähern. Aber sie demonstrieren auch die Fragilität afrikanischer Systeme – die Tatsache, dass der Zugang zum Internet noch längst keine flächendeckende Selbst­verständlichkeit auf dem Kontinent ist. Dabei sind viele Alltagspraktiken in afrikanischen Ländern bereits viel stärker ­digitalisiert als in anderen Ländern der Welt, etwa durch FinTech oder mobile Geldtransfers. Trotz Zugangsbeschränkungen liegen also große Potenziale in der Digitalisierung unseres Kulturerbes – eben weil Digitalität in Afrika so entscheidend für die Alltagsbedürfnisse vieler Menschen ist. 

Ausbruch aus den klassischen Museen

Auch westliche Museen arbeiten längst mit dem Konzept der Digitalisierung, teilweise werden ganze Sammlungen im Schnellverfahren digitalisiert. ­Dadurch entstehen neue Fragen zu Themen wie Eigentümerschaft, Urheberschaft und Restitution. Und es geht abermals um Folgendes: Welchen Schaden hat der Raub zahlreicher traditioneller Objekte in den entsprechenden Communities angerichtet, und wie kann eine Heilung – nach den geplanten Rückgaben – aussehen?

Ein Ansatz, der in meiner Erfahrung immer mehr Form annimmt, ist die Zusammenarbeit mit Menschen außerhalb der Museen. Es gibt bereits eine Reihe von Museen und Ausstellungsprojekten in afrikanischen Ländern, die sich von der Objektfixierung lösen und sich auf soziale Fragen konzentrieren. Viele Museen wollen neue Netzwerke gründen, in denen Praktiker*innen aus Bildung, Sozialarbeit und anderen Bereichen zusammenkommen, um über die Museumsmauern hinaus zu wirken. Ein interessantes Beispiel lieferte vor einer Weile ein Museum in Uganda. Das Ausstellungs­thema war Milch. Mit einem Lieferwagen fuhren die Mitarbeitenden des Museums in die ländlichen Gegenden, um über Milch zu reden – ein Getränk, das in der nordugandischen Kultur eine große Rolle spielt. 

Bei allem, was über die Jahrhunderte zerbrochen ist, wird es viel Zeit, Raum und Austausch brauchen, um die Objekte wieder in unsere Kulturen zu integrieren. Dadurch wird es auch in der Zusammenarbeit mit europäischen Institutionen zu Reibereien und schmerzhaften Auseinandersetzungen kommen.

Vor allem in der Auseinandersetzung mit geraubten Kulturgütern müssen wir die Debatten öffnen. Bei allem, was über die Jahrhunderte zerbrochen ist, wird es viel Zeit, Raum und Austausch brauchen, um die Objekte wieder in unsere Kulturen zu integrieren. Dadurch wird es auch in der Zusammenarbeit mit europäischen Institutionen zu Reibereien und schmerzhaften Auseinandersetzungen kommen. Immerhin geht es um die Rückeroberung einer präkolonialen Geschichte. Es geht um komplexe kulturelle Traditionen, die Afrikaner*innen seit Jahrhunderten vom globalen Norden abgesprochen werden.

Das Restitutionsthema lässt sich viel breiter denken als es bislang geschieht. Neben den Benin-Bronzen, die mittlerweile vielen ein Begriff sind, gibt es ein riesiges materielles und immaterielles Erbe. Was ist zum Beispiel mit den Dinosauriern von Tendaguru, deren Überreste im heutigen Tansania gefunden wurden und die derzeit im Berliner Naturkundemuseum liegen? Was ist mit dem Ishango-Knochen aus dem Royal Belgian Institute of Natural Sciences? Einem mit Einkerbungen versehenen Steinzeitobjekt, das eventuell als eines der weltweit ersten Recheninstrumente genutzt wurde und ursprünglich aus dem Kongo stammt. 

Wir müssen in der Restitutionsdebatte auch über Naturwissenschaften und Archäologie sprechen. Wären die genannten Gegenstände in Europa gefunden worden, zählten sie vermutlich ganz selbstverständlich zur "eigenen" kulturellen und wissenschaftlichen Geschichte. Mit dem Ursprungsort Afrika aber ändern sich die Erzählungen. Wir müssen darüber reden, wie sich die Wahrnehmungen an dieser Stelle verschieben und wie neue Formen der Zusammenarbeit entstehen können. Auch in Afrika muss offen und selbstreflektiert darüber nachgedacht werden, wie die Museen der Zukunft aussehen sollten. Für vieles fehlt uns bislang das Handwerkzeug – wir müssen also alle lernen.

Molemo Moiloa ist Mitglied des Johannesburger Künstler*innenkollektivs MADEYOULOOK, www.made-you-look.net.
 

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