Amnesty Journal Ägypten 26. Juli 2023

Wie spricht man auf Arabisch über Sex?

Eine arabische Frau steht in einem halboffenen Fenster.

Frauen in Ägypten verständigen sich immer offener über Sexualität, vor allem in den Online-Netzwerken. Inzwischen verfügen sie auch über das Vokabular, um diese Themen zu diskutieren. Das liefert ein feministisch queerer Social-Media-Kanal: TheSexTalkArabic.

Von Miriam Amro

Von Ägypten geht eine Revo­lution aus, ganz leise. Eine Gruppe junger Frauen nutzt die Online-Netzwerke, einen ebenso stillen wie wirkmächtigen Raum. Die Revolution klingt so: "Ist es normal, dass eine Frau in der Hochzeitsnacht blutet?", fragt eine Nutzerin auf Arabisch. "Nein, ist es nicht", antwortet Fatma Ibrahim und ergänzt: "Es ist auch nicht normal, dass du beim Sex Schmerzen hast." Eine andere Frau möchte wissen: "Kann ich schwanger werden, obwohl ich noch Jungfrau bin?" Fatma Ibrahim antwortet: "Ja, das kannst du. Du kannst auch bei einer äußeren Ejakulation schwanger werden, wenn Sperma ­danach in die Vagina gerät." Auf den verschiedenen Social-Media-Kanälen von TheSexTalkArabic antworten Fatma Ibrahim und ihre Kolleginnen regelmäßig auf die Fragen ihrer Community, Fragen, die sich deren Mitglieder sonst nicht zu stellen trauen. Manche hören die Antworten zum ersten Mal.

Fatma Ibrahim ist 33 Jahre alt und promoviert derzeit an der Universität Glasgow in Sozialwissenschaften. Sie gründete TheSexTalkArabic im Juli 2018 zunächst als geschlossene Facebook-Gruppe von Ägypten aus. Gemeinsam übersetzten die Frauen wissenschaftliche Literatur und Studien zur sexuellen Gesundheit in leicht verständliches Arabisch.

Mir wurde klar, wie sehr mich mein körperliches Analphabetentum für Ausbeutung anfällig machte.

Fatma
Ibrahim
Gründerin von TheSexTalkArabic

Aufklärungsliteratur gab es zwar, diese war aber oft in komplizierter Sprache verfasst. Andere Literatur sei oft aus einer religiösen oder konservativen Perspektive geschrieben, "in der es darum geht, wie Frauen ihren Männern gefallen können", erklärt Ibrahim. "Wir wollen eine alternative Wissensquelle sein." Die Administratorinnen schufen auf Facebook einen sicheren Raum für knapp tausend Mitglieder. Sie respektierten sexuelle Vielfalt und luden für medizinische Ratschläge Ärztinnen und Psychologinnen ein.

In vielen arabischen Gesellschaften ist Sex ein Tabuthema. Sex hat das erste Mal in der Hochzeitsnacht stattzufinden, gelebt wird das häufig anders. Die Diskrepanz zwischen traditionellen Vorgaben und tatsächlicher Realität sowie mangelnde Sexualerziehung tragen zur Ungleichheit der Geschlechter in den arabischen Staaten bei. Laut einer Studie des Guttmacher-Instituts von 2018 sind 40 Prozent der Schwangerschaften in arabischen Ländern ungewollt, weibliche Genitalverstümmelung ist weit verbreitet, die Geburtenrate unter Teenagern überdurchschnittlich hoch. Auf dem Global Gender Gap Index zur Gleichstellung von Geschlechtern in 153 Ländern lagen Staaten aus der Region 2021 weit hinten, Ägypten auf Platz 129, Jordanien auf Platz 131 und Saudi-Arabien auf Platz 147. Wie spricht man da schamfrei über Sex – ohne gesellschaftliche Vorverurteilung, Anfeindung oder Diskriminierung fürchten zu müssen?

Ehrenamtliche Aufklärungsarbeit

Die Online-Plattformen von TheSexTalkArabic setzen sich mit ihren täglichen Beiträgen für mehr sexuelle Offenheit und Empathie ein und betonen, dass es wichtig sei, andere Meinungen zu akzeptieren. In ihren Videos ermutigt das Team die Nutzer*innen, sich mit dem weiblichen Körper auseinanderzusetzen und Grenzen zu setzen, wenn andere körperlich oder verbal übergriffig werden. In detailreichen, oft auch humorvollen Illustrationen zeigen die Aufklärerinnen, wie unterschiedlich Vulven, Brüste und Penisse aussehen, oder sie diskutieren über Sexualpraktiken, Selbstbefriedigung und Sex Toys. Nicht selten müssen sie erklären, dass Homosexualität keine psychische Störung ist.

"Ich bin in einem kleinen Dorf außerhalb von Kairo aufgewachsen. Sexualerziehung gab es zu Hause nicht. Im Gegenteil, ich fühlte mich den schädlichen Vorstellungen über die vermeintliche Rolle der Frau ausgesetzt", sagt Ibrahim. Diese Erfahrung teilt sie mit ihrer Kollegin Rosanna Nageh, die für den Social-Media-Auftritt verantwortlich ist. Nageh kommt aus einer konservativ-religiösen Familie: "Über Sex wurde nicht gesprochen. Es wurden lediglich Geschichten erzählt, dass Menschen, die vor der Ehe Sex haben, in die Hölle kommen."

Mit 24 Jahren begann Ibrahim, sich auf eigene Faust Wissen über ihren Körper anzueignen und zog für ihr Studium nach England. "Mir wurde klar, wie sehr mich mein körperliches Analphabetentum für Ausbeutung anfällig machte", sagt sie. Eine Gefahr für alle Frauen, egal in welchem Land.

Das Studium und der Erfahrungsaustausch in der damaligen Facebook-Gruppe öffneten ihr die Tür zu einem Wissen, das sie teilen wollte. Also gründete Ibrahim mit den anderen eine öffentliche Facebook-Gruppe. Ein Kanal auf Instagram, Twitter und TikTok sowie eine Website folgten. Die Themen treffen einen Nerv, TheSexTalkArabic hat heute mehr als 71.000 Follower*innen, zumeist junge Frauen von Marokko bis in den Irak. Immer mehr Frauen leisten ehrenamtlich Aufklärungsarbeit. Die Plattform hat inzwischen 35 Mitarbeiterinnen, darunter Gynäkologinnen, Autorinnen für sexuelle Gesundheit, Allgemeinmedizinerinnen, LGBTI-Aktivistinnen und Grafikdesignerinnen. Sie kommen aus Ägypten, Jordanien, dem Irak, Jemen und Saudi-Arabien, haben unterschiedliche geschlechtliche Identitäten und sexuelle Orientierungen, aber alle bezeichnen sich als "radikal, feministisch und queer". Ihr gesellschaftlicher Beitrag wurde im vergangenen Jahr mit dem French Human Rights Award geehrt. "Die Auszeichnung hat noch einmal betont, wie wichtig unsere Arbeit ist – nicht nur in den arabischsprachigen Gesellschaften, sondern überall", sagt Ibrahim.

Hasskommentare – "we will rape you"

Das gefällt nicht allen. Angefeindet werden die Frauen vor allem wegen ihres offenen Umgangs mit Homosexualität, die in Ägypten laut einem Gesetz aus dem Jahr 1961 strafbar ist. "Die LGBTI-Gemeinschaft wird auf Grundlage dieses Gesetzes häufig wegen gewohnheitsmäßiger Ausschweifung, Anstiftung und gewohnheitsmäßiger Prostitution angeklagt", sagt Ibrahim. Wer seine Homo­sexualität leben will, riskiert viel. 2017 entschied der Oberste Rat für Presse­regulierung, dass "Propagierung von ­Homosexualität" in ägyptischen Medien verboten sei. Sie sei eine "schändliche Krankheit, die verborgen werden muss", hieß es in der Begründung. Die Kommentarspalten von TheSexTalkArabic machen deutlich, wie stark Ablehnung und Intoleranz gegenüber LGBTI+ in arabischen Gesellschaften sind. Immer wieder finden sich Hasskommentare wie "we will rape you" oder "we will kill you". Einige schreiben, dass TheSexTalkArabic schädlich für die Gesellschaft sei. Doch die Macherinnen lassen sich nicht entmutigen. Auch wegen Rückmeldungen von Nutzerinnen wie dieser: "Ihr habt mein Leben verändert."

Dabei stellen selbst die Anbieter der Kanäle eine Herausforderung dar. Kürzlich veröffentlichte das Team einen Beitrag über den Mythos des Jungfernhäutchens. Immer noch glauben viele Männer, dass eine Frau in der Hochzeitsnacht bluten müsse. "Es gibt da nichts, was ein Mann durchstoßen muss", erklärten die Aktivistinnen. "Wenn eine Frau blutet, dann weil die Vagina gerissen ist." Der Facebook-Text ging viral. Kurz darauf sperrte Facebook den Account wegen Verbreitung von "Nacktheit und Pornografie". Fatma Ibrahim und ihr Team gingen dagegen vor: "Es hat Wochen gedauert, bis wir Facebook die falschen Anschuldigungen widerlegen konnten und die Seite wieder freigeschaltet wurde."

Miriam Amro ist freie Journalstin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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