Amnesty Journal Armenien 14. Februar 2022

Bilder, die von einer Last befreien

Eine junge Frau steht auf der Straße, ihr scheint Sonne ins Gesicht.

Frauenrechte stärken: Die Fotografin Nazik Armenakyan.

Die vielfach ausgezeichnete Fotografin Nazik Armenakyan widmet einen Großteil ihrer Arbeit den Frauen in Armenien. Viele werden von ihren Partnern mit HIV infiziert – und von der patriarchalen Gesellschaft des Landes ausgeschlossen.

Von Tigran Petrosyan

Im März 2021 registrierte das Nationale Zentrum für ansteckende Krankheiten in Armenien 4.217 Fälle von HIV-Infektionen, davon 1.292 bei Frauen. In den meisten Fällen waren sie von ihren Ehemännern infiziert worden. Viele armenische Männer sind Arbeitsmigranten, die ihr Geld vor allem in der Russischen Föderation verdienen. Ihre Zahl wird auf bis zu 250.000 jährlich geschätzt. Vor allem kleine Städte und Dörfer, in denen Frauen, Kinder und Alte mehrere Monate im Jahr unter sich sind, leben von den Überweisungen der Ehemänner, Väter oder Kinder aus dem Ausland. Allerdings kommt mit dem Geld oftmals auch eine HIV-Infektion: Die Gastarbeiter stecken sich während ihres Arbeitsaufenthalts im Ausland an und infizieren dann in der Heimat ihre Partnerinnen.

Tabuthemen aufbrechen

Die Fotografin Nazik Armenakyan trifft seit mehreren Jahren Frauen, die von ihren Männern mit HIV infiziert worden sind. Sie lässt sich ihre Geschichten erzählen und fotografiert sie. Die Ergebnisse dieser Arbeit fließen in ihre fortlaufende ­Serie "Rot – Schwarz – Weiß" ein. Die Dokumentarfotografin will durch ihre Aufnahmen Frauen in Armenien stärken und ­Tabuthemen in der patriarchalischen Gesellschaft aufbrechen. HIV ist eines davon.

Unsichtbar

Armenakyan traf Frauen, die schon während der Schwangerschaft erkrankt waren, jedoch nichts davon wussten. Sie brachten ihre Kinder zur Welt, stillten sie und erfuhren erst nach zwei oder drei Jahren durch ärztliche Untersuchungen von ihrer HIV-Infektion und dass sie ihre Kinder angesteckt hatten. "Unwissenheit verbindet sich mit Traditionen der christlich-patriarchalischen Gesellschaft." Über 92 Prozent der Menschen in der Südkaukasusrepublik gehören offiziell der Armenisch-Apostolischen Kirche an; das Christentum ist ein wesentlicher Teil der Identität des Landes. Die Armenier_innen sind stolz darauf, dass ihr Land als weltweit erstes bereits im Jahr 301 das Christentum als Staatsreligion einführte. Auf diese Tradition baut Armenakyan ihre Inszenierung auf, wenn sie Frauen nach dem Vorbild der Gottesmutter darstellt. So fotografierte sie Mutter und Kind bedeckt mit weißen Laken. Der Junge berührt mit dem Mund die Brust seiner Mutter, wie auf den Darstellungen von Jesus und Maria.

Ein Junge und eine Frau nebeneinander, mit Fotokunst in Szene gesetzt

Aus der Serie "Red Black White" der Fotografin Nazik Armenakyan, die sich für Frauen einsetzt.

Unsichtbar

"Nach der Hochzeit verbringt die Frau mehr Zeit am Küchentisch als im Bett", sagt Armenakyan. Das Motiv der Frau am Tisch ist zentral in ihren Bildern. Die Fotografin verhüllt die Gesichter der Porträtierten. "Dies macht klar, dass die Menschen in unserer Gesellschaft keine Ahnung von der Krankheit haben und wie Menschen mit einer HIV-Infektion überhaupt aussehen." Die Betroffenen selbst hielten ihre Krankheit geheim. Es gebe Fälle, in denen Dorfbewohner_innen es aus Angst vor Ansteckung vermieden, in das Haus einer Erkrankten zu gehen und ihr die Hand zu geben. Sie gingen nicht einmal zu ihrer ­Beerdigung. Deshalb fotografiert Armenakyan die Frauen in einem Fotostudio. Sie will die Frauen nicht bloßstellen. Doch die Hände der Frauen auf dem Tisch sind sichtbar, weil "HIV-positive Menschen echte Menschen sind und um uns herum leben".

Eine Frau sitzt in einem Kleid und mit einem mit Tüll verschleierten Kopf an einem Tisch und hat die Hände auf der Tischplatte abgelegt.

Aus der Fotoserie "Red Black White" von Nazik Armenakyan

Rote Äpfel

"Mein Mann schlägt mich, nimmt Drogen und ist ständig betrunken." Diese Aussage höre sie häufiger, sagt Armenakyan. Armenien hat nur knapp drei Millionen Einwohner_innen, doch jährlich werden etwa 2.000 Frauen Opfer familiärer Gewalt. Eine Frau hat ihrem Mann zu dienen. Jungfrau zu sein, ist für die Familie des Ehemanns vor allem in ländlichen Gebieten Bedingung für eine Heirat. Nach der Hochzeitsnacht bringen die Verwandten der Braut auf großen Tabletts rote Äpfel zum Haus des Ehemannes – als Zeichen dafür, dass die Braut Jungfrau war. Die Jungfräulichkeit wird sichtbar, HIV nicht. Es gebe viele Selbstmordversuche von Frauen. "Die Tradition ist so stark, dass diese Sitten bis heute fortdauern, aber ich möchte diese Verhaltensweisen infrage stellen", sagt die Fotografin. "Das Schamgefühl ist die Ursache allen Unglücks."

Wie in einem klassischen Stilleben sind Äpfel fotografiert, die auf einem Tisch arrangiert sind mit Körben, einem Mörser, einer Bürste, über allem ist ein halbtransparenter Schleier ausgelegt.

Aus der Fotoserie "Red Black White" von Nazik Armenakyan

Wandel

Am Tisch sitzt eine Frau, deren Gesicht im Gegensatz zu dem der anderen Frauen nur leicht bedeckt ist – als habe diese Frau nicht so viel zu verbergen. Ihre Nägel sind lackiert, an ihren Fingern glänzen Ringe. Sie trägt Hemd und Anzug, nicht die armenische Frauentracht. "Sie ist eine kluge Frau, eine starke Frau", sagt Armenakyan. Dies sei keine Frau, die in Scham und Angst lebe. Sie sei bereit für Veränderungen und bereit, etwas dafür zu tun. Rot, schwarz und weiß sind die dominierenden Farben dieser Werkreihe. Rot sei die Farbe des Blutes, Schwarz symbolisiere das Drama, und Weiß stehe für das neue Leben mit HIV, erklärt die Fotografin. "Damit will ich deutlich machen, dass es möglich ist, auch mit HIV glücklich zu leben." Viele der Frauen hätten nach den Aufnahmen das Gefühl gehabt, von einer Last befreit zu sein, erzählt die Fotografin. Als sie die ersten Bilder und Geschichten online stellte, meldeten sich weitere Frauen bei ihr, um sich auch fotografieren zu lassen. Armenakyan setzt die Reihe fort und hofft, ihre Fotos öffentlich ausstellen zu können. Zudem plant sie ein neues Projekt: "Ich will auch Männer fotografieren, die eher als Sündenbock denn als Opfer gelten."

Eine Frau sitzt an einer Tischplatte, auf die sie die Hände legt und faltet, sie trägt einen Kurzhaarschnitt und ein Tuch eng um ihr Gesicht gewickelt, sowie einen Blazer und Ringe an den Fingern.

Aus der Fotoserie "Red Black White" von Nazik Armenakyan

ZUR PERSON

Nazik Armenakyan

Fotografin, 44 Jahre, arbeitet seit 2002 für Nachrichten­agenturen, Magazine und Zeitungen, darunter The New York Times, lens blog, The Guardian, Reuters und ArmeniaNow.com. Sie ist für ihr Werk vielfach ausgezeichnet worden und war unter anderem Stipendiatin der Magnum Foundation. Mit einer Porträtreihe von Überlebenden des armenischen Genozids gewann sie 2009 den Grand Prix des Karl Bulla International Photo Contest. In ihren Langzeitprojekten hat Armenakyan sich auch mit der ­Lebens-situation von homo-, trans- und inter­sexuellen Menschen in Armenien beschäftigt. ­Nazik Armenakyan ist Mitbegründerin des nicht-kommerziellen 4 Plus Documentary Photography Center, das Frauen in Armenien mit Hilfe der Fotografie stärken will.

Die Bilder sind zu sehen unter www.4plus.org/red-black-white.

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