Amnesty Journal Tunesien 31. März 2015

Ganz alltägliche Folter

Nach einem Aufstand endete vor vier Jahren die autoritäre Herrschaft des tunesischen Präsidenten Ben Ali. Doch auch unter den demokratisch gewählten Regierungen foltert die Polizei und genießt dabei weitgehend Straffreiheit.

Von Bernd Beier

Vier Jahre ist es her, dass im vernachlässigten Landesinneren Tunesiens Jugendliche eine Revolte vom Zaun brachen, die innerhalb eines Monats, im Januar 2011, die Herrschaft des autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali beendete. Der Auslöser war die öffentliche Selbstverbrennung des Straßenhändlers Mohammed Bouazizi, der durch eine Polizistin angeblich misshandelt worden war – ein letzter Akt des Protests, so hieß es damals.

Ein Akt des Protests gegen den weitverzweigten tunesischen Polizeistaat, in dem die Opposition jahrzehntelang brachial unterdrückt wurde und die Ordnungshüter sich, von der politischen Macht gedeckt, Misshandlungen, Erpressungen und Schlimmeres zuschulden kommen ließen.

Einer der Oppositionellen, die sich bereits unter Ben Ali gegen die polizeistaatlichen Exzesse einsetzten, ist Cherni Mondher, ein mittlerweile 60-jähriger Anwalt. Er ist Vorsitzender der "Organisation gegen die Folter in Tunesien" (OCTT), deren Hauptbüro sich in der belebten Avenue de la liberté im Zentrum von Tunis befindet.

Im Warteraum hängt ein Plakat mit dem Konterfei von Chokri Belaid, dem von Dschihadisten im Februar 2013 erschossenen Politiker des linken "Front populaire".
Cherni Mondher erinnert sich an die Zeit unter Ben Ali: "2003 wurde mit meiner Beteiligung die 'Tunesische Vereinigung zur Bekämpfung der Folter' gegründet, aber damals war sie nicht legal, sie hatte keine eigenen Räume, es war eine sehr begrenzte Vereinigung mit Kontakten zu sieben oder acht Anwälten.

Die Angst war immer gegenwärtig, die Vereinigung war das Ziel heftiger Attacken, manchmal wurde das Büro nachts von der Polizei überfallen, schließlich war die Thematisierung der Folter eine sehr sensible Frage für das System Ben Alis."

Bereits im Februar 2011, kurz nach dem Sturz Ben Alis, wurde dann die OCTT ins Leben gerufen und bald auch legalisiert, nachdem ein neues Vereinsgesetz verabschiedet worden war. "Mittlerweile existiert ein Netzwerk der OCTT im ganzen Land", sagt Cherni Mondher. "Aber die Folter existiert weiter, weil de facto eine Straffreiheit für Folterer herrscht. Die Polizei profitiert von der Straffreiheit, sie kann damit ihre Macht und ihren starken Apparat aufrechterhalten."

Der Fall von Mohammed Ali Snoussi illustriert Mondhers Kritik. Der junge Mann aus Mellassine, einem westlich gelegenen Stadtteil von Tunis, war am 24. September 2014 nach Angaben von Augenzeugen aus seiner Familie und Nachbarschaft auf offener Straße festgenommen und geschlagen worden. Während der folgenden sechs Tage in Polizeigewahrsam wurde er offenbar gefoltert. "Der Richter hat ihn mit einem Haftbefehl ins Gefängnis überwiesen, aber dort wollten sie ihn angesichts seines kritischen Zustands nicht aufnehmen. Zwei Tage darauf starb er im Krankenhaus", sagt Mondher.

Dem gerichtsmedizinischen Bericht zufolge starb er an "einem systemischen septischen Syndrom mit pulmonalen Abszessen", nicht an den Folgen erlittener Folter. Angehörige von Snoussi erklärten Amnesty jedoch, sie hätten Hämatome an Kopf, Rücken, Armen und Beinen des Verstorbenen gesehen.

Sein Tod war Anlass für eine Kundgebung Mitte Oktober gegen polizeiliche Gewalt und Folter vor dem Innenministerium in Tunis, die 27 Menschenrechtsorganisationen, darunter auch Amnesty International, unterstützten. Nach Angaben von Abdessattar Ben Moussa, dem Vorsitzenden der Tunesischen Liga für Menschenrechte, die sich ebenfalls an der Kundgebung beteiligte, registrierten die Organisationen zwischen 2012 und 2014 mehr als 282 Fälle von Folter in Tunesien. Er fordert eine Kommission unabhängiger Gerichtsmediziner für die Erstellung von Autopsieberichten.

"Es existiert immer noch das Gesetz, das bereits unter Ben Ali galt, nach dem man erst nach sechs Tagen in Polizeigewahrsam das Recht hat, einen Anwalt zu sehen", erklärt Cherni Mondher von der OCTT. In dieser Zeit ohne Anwalt wird gefoltert. "Zwar hat man nach der neuen Verfassung – die Anfang 2014 verabschiedet wurde – das Recht, dass man unmittelbar nach der Festnahme einen Anwalt sehen kann, aber das entsprechende Gesetz ist noch nicht verabschiedet. Das wird eine der Aufgaben des neuen Parlaments sein, das gerade gewählt ­wurde."

Was aber geschah mit der Polizeireform, die nach dem Sturz Ben Alis in Angriff genommen werden sollte? "Die Zivilgesellschaft hat sich zu wenig darum gekümmert", meint Mondher. "Es gab zwar Programme zur Reform der Polizei, die die UNO, die Unesco oder die EU mit dem Justiz- und Innenministerium entwickelt haben, beispielsweise zur Ausbildung von Polizisten, aber in der Realität hat sich nichts geändert.

Es gab starke Widerstände dagegen von allen, die von der gegenwärtigen Situation profitieren. Der Staat fühlt sich immer im Recht und hält uns für Idealisten." Und welche Rolle spielen die Polizeigewerkschaften, die nach dem Ende von Ben Alis Herrschaft gegründet wurden? "Meist beschränken sie sich auf Lohnforderungen und Forderungen nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen", sagt er. "Und manchmal verteidigen sie das nicht zu Verteidigende. Denn es gibt auch Polizeigewerkschaften, die nur dem Namen nach Gewerkschaften sind."

Verschärft wird die Situation noch durch die Attentate salafistisch-dschihadistischer Organisationen, die unter der von der islamistischen Partei Ennahda dominierten Übergangsregierung weitgehend ungehindert ihre Strukturen aufbauen konnten.

Als 2013 zwei linke Politiker von Dschihadisten erschossen wurden, demonstrierten anschließend Hunderttausende gegen den dschihadistischen Terror und die laxen Reaktionen der Regierung. Erst daraufhin wurde eine Technokratenregierung installiert, die eine neue Verfassung und im Herbst 2014 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf den Weg brachte.

Aber mittlerweile haben Dschihadisten in Tunesien Dutzende Angehörige des Militärs, der Nationalgarde und der Polizei ermordet. Schätzungsweise 2.400 Jugendliche sind aus Tunesien zum Dschihad nach Syrien aufgebrochen. Auf dem Berg Chaambi nahe der algerischen Grenze im Westen setzt die tunesische Armee Artillerie gegen Dschihadisten ein; in Libyen spielt sich der Bürgerkrieg zwischen islamistischen und nicht-islamistischen Milizen inzwischen auch nahe der durchlässigen Grenze zu Tunesien ab.

Für Cherni Mondher ist der Zusammenhang klar: "Der Krieg gegen den Terrorismus wandelt sich manchmal in einen Krieg gegen die Menschenrechte. Dann agiert die Polizei wie entfesselt, die Menschenrechtsverletzungen häufen sich unter dem Vorwand des Kampfs gegen den Terrorismus."

Vielleicht gibt es auch Anzeichen, die auf eine Besserung hindeuten. Im November 2014 sagte Innenminister Lotfi Ben Jeddou in einer Sendung von "Radio MosaiqueFM", 20 Sicherheitskräfte seien festgenommen worden, weil sie Inhaftierte misshandelt hätten. Über die Einleitung eventueller Verfahren gegen sie ist bislang nichts bekannt.

Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

Weitere Artikel