Amnesty Journal Libanon 17. September 2014

Verkauft, verraten, verloren

Armut und Gewalt, aber auch Solidarität und ­Freundschaft, und in der Ferne lockt Europa: Ryad Assani-Razaki hat einen drastischen Roman über westafrikanische Straßenkinder geschrieben.

Von Maik Söhler

Eine Kindheit, die damit beginnt, dass die eigenen Eltern einen an Kinderhändler verkaufen, kann kaum Kindheit genannt werden. Und so können wir Toumani fortan das Kind ohne Kindheit nennen, denn viel besser wird es für ihn auch nach dem aus finanzieller Not getätigten Handel nicht werden. Im Gegenteil: Der Mann, an den ihn die Kinderhändler weiterverkaufen, wird ihn wochenlang schikanieren und schließlich so misshandeln, dass ihm ein Bein amputiert werden muss. Von seinem Peiniger wie Müll in einen Kanalschacht geworfen, wird Toumani den Tod vor Augen haben.

Ryad Assani-Razaki, im westafrikanischen Benin geboren und heute in Kanada lebend, hat mit "Iman" einen Roman geschrieben, vor dem zu warnen ist. Wer in diesem Buch über Straßenkinder ein Happy End sucht, wird ebenso wenig fündig wie all jene Leser, die von Elend und Gewalt zwar abstrakt wissen, es aber im Detail gar nicht so genau nachlesen möchten.

Um die Wahrheit zu sagen: "Iman" ist ein harter, brutaler, schonungsloser Roman, der an den wenigen Stellen, an denen Hoffnung aufkommen könnte, sich noch einmal eine Umdrehung weiter ins Fiese und Niederträchtige schraubt. So fies und niederträchtig, wie die Realität für viele Straßenkinder in Westafrika nun einmal aussieht. Toumani bringt es auf den Punkt: "Als Monsieur Bia mich halb tot in den Kanalschacht warf, hatte er genau das begriffen. Er konnte mich nicht richtig töten, weil ich gar nicht richtig geboren worden war. Bei den Unmengen Kindern, die Tag für Tag in die Stadt verkauft wurden, wer bemerkte da schon, wenn eins fehlte? Wir waren schließlich nur Kinder. Davon gab es so viele!"

Toumani wird von Iman aus dem Kanalschacht gerettet, ­einem Straßenjungen, der zusammen mit anderen Straßen­kindern ums tägliche Überleben kämpft. Der ein paar Jahre ­ältere Iman wird Toumani in der Folge Vorbild, Freund und Unterstützer zugleich sein. Doch es gibt etwas, was beide unterscheidet. Während Toumani sich seinem Schicksal fügt und als Einbeiniger ohne Schulbildung und verwandtschaftliche Unterstützung jeden noch so schlechten Job annehmen muss, will Iman nur eines: Afrika verlassen, auf nach Europa!

So fern dieses Europa auch ist, so nah kommt ihm Iman in seinen Fantasien und Träumen. Europa erscheint ihm als bessere Welt, in der auch junge Afrikaner ohne Bildung und berufliche Qualifikationen alles erreichen können, wenn sie den Weg gen Norden nur beherzt hinter sich bringen. Auch die Liebe zu einer jungen Portugiesin, die ihm ein Ticket nach Portugal verspricht und ihn dann doch zurücklässt, kann diese Träume nicht beenden; sie werden nur umso mächtiger.

Assani-Razakis Roman ist an diesen Stellen brillant. Dem Phantasma Europa mit seinen angeblich unendlichen Möglichkeiten, über die Iman nichts weiß, stellt er den vielschichtigen Alltag in einer namenlosen Metropole in einem namenlosen afrikanischen Land entgegen. Anschaulich geschildert auf mehr als 300 Seiten werden das Leben im Slum einer Großstadt, die Arbeit in wechselnden und schlecht bezahlten Jobs, der Hunger, wenn mal wieder zu wenig Geld vorhanden ist, Korruption, Abzockerei, Gewalt von Jugendgangs, Prostitution, Wut und Hoffnungslosigkeit. Doch der Autor weigert sich konsequent, Stadt und Land zu benennen, in denen diese Zustände herrschen.

Zum einen rückt so in den Blick, dass es sich von Sierra Leone bis Kamerun um jeden Staat und von Abidjan bis Libreville um jede Stadt Westafrikas handeln könnte – der elende Alltag von Straßenkindern erscheint aus dieser Perspektive grenzenlos und an keinen speziellen Ort gebunden. Als Leser erfahren wir nur, dass die Stadt am Meer liegt, dass der Islam eine Rolle spielt, wenn auch keine bedeutende, und dass das Land schon seit Jahren als Transitweg für die Flucht nach Europa dient. Zum anderen wird deutlich, dass Toumani, Iman und auch Alissa, ein weiteres von ihren Eltern verkauftes Kind, dessen biografische Linien sich mehrfach mit denen der beiden männlichen Protagonisten kreuzen, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Stadt oder einem konkreten Land fremd ist und bleiben wird. Für Straßenkinder ist Überleben schlicht wichtiger.

In einer Welt, wo "alles käuflich ist", werden aus den drei Straßenkindern junge Erwachsene. Dabei lernen sie, dass ihre Hoffnung, wenigstens die Freundschaft "habe keinen Preis", nicht in jedem Fall berechtigt ist. Iman lässt sich nicht davon ­abhalten, alles auf sich zu nehmen, um nach Europa zu gelangen. Nicht einmal die Worte eines Bekannten, der in Europa ­gelebt hat und von den kalten Wintern, behördlicher Schikane und fehlender medizinischer Versorgung erzählt, dringen zu ihm durch. Seine Freunde Toumani und Alissa wenden sich schließlich gegen ihn, als er den Auftrag einer kriminellen Bande annimmt: Wenn er sich an einem bewaffneten Überfall beteilige, werde er im Gegenzug einen der begehrten Plätze in einem Boot zur nordafrikanischen Küste erhalten. Und von dort ist es, wie Iman stets betont, nach Europa nicht mehr weit.

Hier entfaltet Assani-Razaki eine klassische Romankonstel­lation um drei verzweifelte Menschen samt Freundschaft, Liebe, Verrat und Hoffnung vor dem Hintergrund einer desaströsen ­Situation irgendwo in Westafrika. Es sind diese besonderen Bedingungen, die aus "Iman" einen besonderen Roman machen. Einen Roman, der eindringlich daran erinnert, wie groß der von uns nur selten beachtete Wohlstand in Westeuropa sein muss, wenn er zum Traum von Tausenden Afrikanern wird, die daran teilhaben wollen und alles daransetzen, um ihn zu realisieren.

Iman ist und bleibt eine Romanfigur. Sie entfaltet jedoch weit über die Literatur hinaus ihre Wirkung. Jedes Flüchtlingsboot im Mittelmeer und jeder Medienbericht über den Andrang von Flüchtlingen auf die in Nordafrika gelegenen spanischen Exklaven Ceuta und Melilla erzählt Ryad Assani-Razakis Roman mit anderen Protagonisten und an anderen Orten fort.

Ryad Assani-Razaki: Iman. Aus dem Französischen von Sonja Finck. ­Wagenbach, Berlin, 2014. 320 Seiten, 22,90 Euro.

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