Amnesty Journal Libanon 28. Januar 2014

Flucht in die Krise

Kinderarbeit im Exil. Syrisches Flüchtlingskind hilft im Libanon bei der Ernte

Kinderarbeit im Exil. Syrisches Flüchtlingskind hilft im Libanon bei der Ernte

Wegen des Bürgerkriegs in Syrien fliehen unzählige Menschen in den Libanon. Die sozialen Spannungen ­zwischen der Bevölkerung und den Flüchtlingen nehmen zu.

Von Cigdem Akyol

Mit zitternden Fingern zieht Filla ihrem Baby den Schnuller aus dem Mund, hält diesen hoch und sagt: "Selbst den hier können wir uns kaum leisten." Sie sitzt auf einem wackeligen Plastikstuhl und drückt ihre sieben Monate alte Tochter an sich. An ­einem Ende ihres Schleiers hält sich ihr zweijähriger Sohn fest, dessen Kleidung vor Schmutz auseinanderfällt. Filla will ihren Nachnamen nicht nennen, sie fürchtet um die Sicherheit ihrer in Syrien zurückgebliebenen Angehörigen.

Vor zwei Jahren ist die 21-Jährige mit ihrem Mann und ihren Schwiegereltern aus der syrischen Stadt Homs geflohen, der eins­tigen Hochburg der Rebellen. Die Freie Syrische Armee kontrolliert mittlerweile nur noch einen Teil der Stadt und ist von der syrischen Armee eingekreist. In der Stadt kursiert ein Witz: "In Homs kannst du eine Frau nur noch heiraten, wenn du ihr statt Gold eine Gasmaske als Mitgift geben kannst."

Filla erlebte, wie immer mehr Menschen aus ihrem Umfeld ihr Leben verloren. Als die Bombeneinschläge näher kamen musste sie schließlich erkennen, dass sie keine Zukunft mehr in ihrer Heimat haben würde: "Regierungstruppen haben auf friedliche Demonstranten geschossen, sie haben unsere Häuser gestürmt, sie haben Frauen vergewaltigt und Kinder ermordet." Mit einem Sammeltaxi fuhr sie mit ihrer Familie an die libanesische Grenze, dann ging es zu Fuß weiter. Sie muss weinen, als sie sich daran erinnert – es ist ihr unangenehm.

Seitdem lebt sie in Bar Elias, einem Dorf mit 25.000 Einwohnern in der Bekaa-Ebene im Ostlibanon. Die Region liegt 50 Kilometer von der libanesischen Hauptstadt Beirut entfernt und ist eines der Hauptaufnahmegebiete für syrische Flüchtlinge. Nach Angaben des UNHCR leben mehr als 270.000 registrierte Flüchtlinge in der ärmlichen, von der Landwirtschaft geprägten Ebene. Hinzu kommen Tausende nicht registrierte Syrer, die meist in Zelten leben. Ein baufälliges, einstöckiges Häuschen ohne Fens­terscheiben und Türen, wie es Filla und ihre Verwandten bewohnen, können sich die wenigsten leisten.

Die junge Frau trocknet mit dem Kopftuch ihre Tränen, steht auf, geht in ihr zugiges Haus und legt die schlafende Tochter auf eine zerschlissene Matratze – das einzige Möbelstück neben den Plastikstühlen. Es gibt keinen Strom, kein Gas, nur manchmal fließendes Wasser. Ein Camping-Kocher dient als Kochstelle. Vor den Häusern laufen Ratten herum, der Gestank von brennendem Müll liegt in der Luft. Von irgendwoher schallt der Gesang eines Imams.

Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien haben sich die Mieten im Libanon teilweise verdreifacht, weil die Hausbesitzer von der Not profitieren können. So ist auch eine Klassengesellschaft der Flüchtlinge entstanden. Wer es sich leisten kann, zieht in ein Hotel nach Beirut oder zumindest in eine Unterkunft mit Zementwänden, die Zelte sind das Zuhause der Ärmsten. Fillas Familie zahlt 500.000 libanesische Pfund (etwa 240 Euro) monatlich, um hier zu wohnen. Wie die meisten Flüchtlinge muss sie sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen, für sieben Euro pro Tag. Fragt man Filla, ob sie es bereue, Syrien verlassen zu haben, sagt sie: "Manchmal schon. Aber zu bleiben, hätte den Tod bedeutet."

Ihre ohnehin schon katastrophale Lage hat sich durch den Wintereinbruch noch weiter verschärft. Nachts sinken die Temperaturen auf unter Null Grad, der Betonboden, auf dem Fillas Familie schläft, speichert die Kälte, ein eisiger Wind weht durch die Räume. Es fehlt an Brennmaterial, Decken und warmer Kleidung. Keiner weiß, wie es weitergehen soll und ob sie diesen Winter überleben werden. "Wie soll ich meine Kinder schützen?", fragt Filla und zeigt auf das schlummernde Baby. "Wir haben ja nicht einmal Streichhölzer, um ein Feuer anzuzünden." Die Verzweiflung ist ihr anzusehen. "Bitte, bitte helft uns! Europa darf nicht einfach zuschauen, wie wir hier sterben." Mitte Dezember fegte ein Schneesturm durch die Bekaa-Ebene.

Die internationale Gemeinschaft äußert zwar gern Mitleid und Kritik an der syrischen Regierung, ist aber äußerst zurückhaltend, wenn es um tatsächliche Hilfe geht. Innerhalb der EU nehmen Schweden und Deutschland die meisten Syrer auf. Die Regierung in Stockholm änderte im September 2013 sogar die Asylpraxis: Rund 8.000 syrische Flüchtlinge, die bisher nur drei Jahre bleiben durften, erhalten eine unbefristete Aufenthalts­erlaubnis und können ihre Familien nachholen. Deutschland sagte im Dezember 2013 zu, weitere 5.000 Syrer aufnehmen zu wollen. Seit September 2013 sollte bereits ein erstes Kontingent Aufnahme in Deutschland finden. Ende vergangenen Jahres waren davon jedoch erst 2.000 Menschen angekommen, das komplizierte Auswahlverfahren verzögert den Prozess.

Mehr als 2,3 Millionen Menschen sind seit Ausbruch des Bürgerkrieges im März 2011 aus Syrien geflohen, die meisten von ihnen in den Libanon, nach Jordanien, in die Türkei, in den Irak und nach Ägypten. Mindestens weitere 6,5 Millionen Menschen sind Vertriebene innerhalb Syriens. Durch die Flüchtlingskatastrophe gerät der Libanon zunehmend selbst aus dem Gleichgewicht.

Denn der Zedernstaat mit einer Bevölkerung von 4,3 Millionen Menschen hat nach Schätzungen der Behörden eine Million Syrer aufgenommen – sie machen mehr als 20 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Mittlerweile haben einige Orte doppelt so viele Einwohner wie vor einem Jahr, was den Druck auf das Gesundheitssystem, das Bildungswesen und die Energieversorgung stark erhöht. Immer mehr Menschen fühlen sich von den zahlreichen Flüchtlingen schlicht überrollt. Syrern wird vorgeworfen, Einbrüche zu begehen und Einheimischen die Arbeit wegzunehmen.

So begannen 2012 einige Städte und Dörfer, nächtliche Ausgangssperren einzuführen und warnten Immigranten, sie sollten sich fernhalten. Die Spannungen riefen Menschenrechtsaktivisten auf den Plan, die im Sommer 2013 ein Transparent von einer Brücke in Beirut entrollten, auf dem zu lesen war: "Entschuldigt das Verhalten der Rassisten unter uns".

Doch gibt es auch Profiteure. So stellen viele libanesische Geschäftsleute gern Syrer ein, denn die arbeiten notgedrungen für fast jeden Lohn: "Die Syrer stehen in direktem Wettbewerb mit den Libanesen und sie zahlen keine Steuern. Sie eröffnen illegal Geschäfte und arbeiten für den halben Lohn, den ein Libanese bekommt", sagt Kamel Wasne, Ökonom an der Amerikanischen Universität Beirut. "Das ist eine Zeitbombe." Der Libanon befindet sich derzeit in einer Regierungs- und Wirtschaftskrise. Seit März 2013 wird das Land von einer Übergangsregierung gelenkt, nach Angaben der Weltbank ist jeder dritte Libanese zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos. Und in dieser Situation drängen auch noch Hunderttausende Syrer auf den libanesischen Arbeitsmarkt.

Da der Libanon keine Flüchtlingslager oder sonstige Versorgungsleistungen für die Syrer anbietet, müssen sich die Menschen selbst um Unterkunft, Essen und Trinkwasser kümmern. Das bedeutet, dass selbst die Kleinsten arbeiten müssen: Wer durch Beirut läuft, sieht überall Flüchtlingskinder, die als fliegende Händler Essen, Blumen oder Spielzeug verkaufen. Einige von ihnen sind ganz auf sich allein gestellt.

Zum Beispiel der dreijährige Ahmed. Seine Eltern flohen mit ihm und seinen zwei älteren Geschwistern aus Syrien nach Beirut, dann verließ der Vater die Familie. Weil seine Mutter nicht mehr wusste, wie sie die Kinder allein ernähren sollte, setzte sie diese im Sommer 2013 in ein Taxi und drückte der Ältesten Geld und einen Brief in die Hand. Darin erklärte sie ihre Not und entschuldigte sich. Der Fahrer brachte die Geschwister in das "Home of Hope", das einzige Kinderheim in Beirut, das auch Kinder ohne Papiere aufnimmt – Kinder, die durch alle Raster fallen, die niemand haben will.

"Bisher hat Ahmed kaum gesprochen", erzählt die Sozial­arbeiterin Rita Makhlauf und streicht dem Jungen über sein schwarzes Haar. Seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges sei das Kinderheim zu einem Flüchtlingsheim geworden, sagt die Sozialarbeiterin, die seit 14 Jahren im "Haus der Hoffnung" arbeitet. Von den 70 Kindern die hier leben, sind 38 syrische Flüchtlinge.

Die Räume sind spärlich möbliert, die Wände sind mit bunten Bildern dekoriert oder bemalt, die Möbel karg und meist kaputt. Von der Decke hängen Kabel, die auf abenteuerliche Weise miteinander verlötet wurden. Aber all das ist nicht so wichtig: Entscheidend ist, dass die Kinder hier vor dem Krieg in ihrer Heimat und dem Hass auf den Straßen Beiruts sicher sind, dass sie Würde und Geborgenheit finden.

"Fast alle Flüchtlinge, die wir hier betreuen, haben selbst Gewalt erlebt oder gesehen, wie ihre Eltern und Bekannten Gewalt ausgesetzt waren. Sie können kaum darüber reden und versuchen, vieles zu vergessen", sagt Makhlauf. Aber das gelingt oft nicht. Es gibt Schlafsäle, in denen nachts Panik ausbricht. Wenn in den Albträumen die Erinnerungen an Krieg und Flucht auftauchen und Angst vor der ungewissen Zukunft, dann wachen manche Kinder schreiend auf und beunruhigen auch die anderen Kinder. Es sind Träume von Leichen, Dreck und Hunger. Es sind Bilder vom Horror, den diese Kinder durchlebt haben.

Rita Makhlauf geht über den Fußballplatz des "Home of Hope" und zeigt auf den Zaun, den sie kürzlich bauen lassen mussten. Das Heim steht in einem christlichen Viertel, die meisten syrischen Kinder sind Muslime. "Nachbarn werfen uns vor, wir würden ihre Mörder und die Terroristen der Zukunft hier ­erziehen", erzählt sie. Die Anwohner fürchten sich vor Kindern wie dem ausgesetzten Ahmed. Um Konflikten aus dem Weg zu gehen und die Kinder zu schützen, haben sie sich nun abgegrenzt.

Nur 90 Kilometer entfernt, hinter den Gipfeln des Libanongebirges, tobt der syrische Bürgerkrieg weiter, und kaum einer in der Region glaubt daran, dass das Land bald zur Ruhe kommen wird. Trotz anhaltender Kämpfe hat die syrische Regierung geflohene Bürger zur Rückkehr aufgerufen. Damaskus werde ihnen dabei helfen, nach Hause zurückzukehren, egal ob sie auf "legalem oder illegalem" Weg das Land verlassen hätten, teilte das Innenministerium mit.

Filla, die keine Schule abgeschlossen hat, möchte ein bes­seres Leben für ihre Kinder – mehr als Flucht und illegale Jobs. Sie weiß nicht, ob sie zurück will in ihre Heimat, wenn der Krieg eines Tages vorbei sein wird. "Was wird mit uns passieren? Wir haben nichts mehr, kein Zuhause und kein Geld", sagt sie und muss wieder weinen.

Niemand weiß, ob die Eltern von Ahmed noch leben oder ob er noch andere Verwandte hat. Die Sozialarbeiterin Makhlauf beißt sich auf die Unterlippe. "Wohin sollen wir unsere Kinder nach dem Krieg schicken, wenn sie niemand abholt?", fragt sie und dreht sich weg, um ihre Tränen zu verstecken.

Die Autorin ist Journalistin und lebt in Berlin.

Diesen Artikel können Sie sich in unserer iPad-App vorlesen lassen: ­www.amnesty.de/app

Weitere Artikel