Amnesty Journal 17. Juli 2012

Die Stadt der toten Töchter

Seitdem der "Krieg gegen die Drogen" eskaliert, steigt auch die Zahl der Frauenmorde in der nordmexikanischen Stadt Ciudad Juárez rapide an. Trotz weltweiter Proteste ­bemühen sich Behörden und Politiker bislang kaum, die Verbrechen endlich aufzuklären.

Von Kathrin Zeiske

"'Ich bin mit einer Freundin unterwegs', hat Mónica gesagt, als ich sie das letzte Mal auf ihrem Handy erreicht habe. Später hat sie dann nicht mehr abgehoben. Das ist jetzt fast drei Jahre her." Olga Esparzas Stimme droht zu versagen, als sie von der verschwundenen Tochter erzählt. Heute wäre Mónica 21 Jahre alt. So oft hat ihre Mutter schon von ihr erzählt, von dem Tag, an dem sie nicht wieder nach Hause kam, nachdem sie zum letzten Mal am Kiosk der Universität gesehen worden war. Vielen Menschen hat Olga Esparza davon berichtet: der Polizei, Anwälten, Reportern – und anderen Eltern, die genauso verzweifelt auf der Suche nach ihren Töchtern sind. Denn in Ciudad Juárez verschwindet fast jeden Tag ein junges Mädchen.

"So etwas verändert das eigene Leben in einem einzigen Moment", sagt Olga Esparza und streicht über die Plüschtiere auf dem Bett ihrer Tochter. Das Zimmer ist unverändert seit jenem Tag im März 2009, als diese nicht mehr zurückkam. "Seit Mónica verschwunden ist, durchlebe ich eine nicht enden wollende Agonie. Mit einer verschwundenen Tochter leben zu müssen, ist viel schlimmer, als um eine tote zu trauern." Manchmal deckt die rundliche Frau mit den dicken braunen Locken den Tisch in Gedanken für vier Personen, dabei wohnt doch nur noch der jüngste Sohn bei dem Ehepaar. Olga Esparza verbringt keinen Tag, ohne ihre Tochter zu suchen. Sie gründete ein Komitee von Familienangehörigen. Diese kennen sich gegenseitig von den endlosen Stunden, die sie vor dem Gebäude der Staatsanwaltschaft darauf warten, dass man ihre Fälle anhört. "Uns vereint unsere Trauer, aber auch unsere Hoffnung."

Und die Hoffnung hat Mónicas Mutter nie aufgegeben: "Vielleicht lebt meine Tochter noch irgendwo versklavt in einem Bordell. Das wäre traurigerweise die einzige Möglichkeit, sie jemals lebend wiederzusehen." Olga Esparza wird vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Eine Mutter berichtet von ihrer Tochter, die seit vorgestern spurlos verschwunden ist. Olga Esparza spricht ihr Mut zu. "Als Mónica damals nicht nach Hause kam, versuchten wir bei der Polizei Anzeige zu erstatten", erinnert sich Ehemann Ricardo Alanis. "Doch man erklärte uns, dass für eine Suche erst mal ein Verbrechen vorliegen müsste. Kurz gesagt, es interessiert die Behörden einfach nicht. Die Polizei hat in Ciudad Juárez noch keine Frau wieder lebend nach Hause gebracht." Mittlerweile rät Ricardo Alanis Familien mit heranwachsenden Töchtern, wegzuziehen. "Es kann doch fast jede treffen. In Ciudad Juárez verschluckt die Erde hübsche arme Mädchen."

Daran erinnert nun ein gigantisches Denkmal zwischen neugebauten Hotels und Shoppingmalls. Dort, wo vor zehn Jahren die Leichen von acht ermordeten Frauen in einem Baumwollfeld entdeckt wurden, erstreckt sich heute ein von Mauern eingefasster Gedenkort. Damit ist eine der Auflagen erfüllt, die der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH) in einem Urteil gegen den mexikanischen Staat 2009 verfügte. Doch Imelda Marrufo vom "Netzwerk der Frauen von Ciudad Juárez" reicht das öffentliche Schuldbekenntnis nicht: "Hunderte weitere Mädchen und Frauen, die in dieser Stadt starben, bleiben namenlos."
Mexiko simuliere nur, die Auflagen des Gerichtshofs zu erfüllen, konstatiert die Rechtsanwältin. "Es werden einfach keine effizienten und unverzüglichen Nachforschungen angestellt, wenn eine junge Frau verschwindet. Femizide werden stattdessen weiterhin von den Institutionen vertuscht." So wurde im März dieses Jahres öffentlich, dass noch mehr als 50 Frauenleichen im Leichenschauhaus von Ciudad Juárez auf ihre Identifizierung warten. Sie gehören zu den 85 Leichen, die vom Argentinischen Antropologisch-Forensischen Team (EAAF) untersucht werden sollten, einer unabhängigen Gruppe, die vor allem die Aushebung von Massengräbern begleitet.

Das EAAF konnte 33 Frauen identifizieren und ihren Familien übergeben. Eine Verlängerung des Arbeitseinsatzes wurde 2010 beantragt, von den lokalen Behörden aber nicht genehmigt. Die Staatsanwaltschaft des Bundesstaates Chihuahua gibt an, nicht darüber informiert gewesen zu sein. Imelda Marrufo schüttelt ungläubig den Kopf. Abgesehen von der Komplizenschaft korrupter Funktionäre und Politiker benennt sie alltägliche Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen als strukturelle Hintergründe der Verbrechen. "Frauenmorde finden in einer Kultur des Machismus und Sexismus statt. Diese Kultur kostet Leben, und das können wir nicht akzeptieren."

Gustavo de la Rosa, der Ombudsmann für Menschenrechte des Bundesstaates Chihuahua, ist beunruhigt, weil auch Aktivistinnen gegen Frauenmorde attackiert und ermordet werden. "Im Dezember 2010 wurde Marisela Escobedo aus einem vorbeifahrenden Auto heraus erschossen." Sie hatte sich vor dem Gerichtsgebäude der Landeshauptstadt angekettet, um die ausbleibende Strafverfolgung des Mordes an ihrer Tochter anzuprangern. "Im Jahr 2011 wurden drei weitere Aktivistinnen umgebracht." Norma Andrade, die Gründerin der renommierten Mütterorganisation "Unsere Töchter zurück nach Hause" (NHRC), überlebte Ende des Jahres schwerverletzt ein Attentat. Nach ihrem vorsorglichen Umzug nach Mexiko-Stadt wurde Norma Andrade dort im Februar erneut von einem Bewaffneten angegriffen. Amnesty International startete vier Eilaktionen, um Sicherheit für die Aktivistin zu fordern. Sie hat trotz einer entsprechenden Verfügung der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte von 2008 nie Polizeischutz erhalten.

De la Rosa sieht einen Zusammenhang zwischen den Attacken gegen die organisierten Mütter und der absoluten Straf­losigkeit, die die staatlichen Akteure im Drogenkrieg genießen. "Der über Jahrzehnte öffentlich zur Schau getragene Frauenhass hat außerdem weiteren Phänomenen in der Stadt Vorschub geleistet, die heute ebenfalls als Femizid benannt werden: Vergewaltigungen auf offener Straße mit anschließender Tötung und Beziehungsmorde, denen nicht selten häusliche Gewalt vorausgeht." So sind in den vergangenen drei Jahren in Ciudad Juárez mehr Frauenmorde verübt worden als in den 16 Jahren zuvor. Der Fund einer Frauenleiche ist ein fast alltägliches Bild. "Nicht selten wird ein Frauenmord durch die Zurichtung der Leiche als Mord von Drogenkillern kaschiert", bemerkt Carmen de Luz Sosa, Polizeireporterin der Zeitung "Diario de Juárez". "Sicher ist, dass die Polizei dann keine Nachforschungen anstellt. Und auch uns Journalisten fehlt angesichts der unzähligen Toten oft die Zeit, genauer nachzufragen.

Dann wird vorschnell von einem weiteren 'Mord im Drogenkrieg' berichtet." So wie im Fall der Aktivistin und Poetin Susana Chávez, die im Januar 2011 tot und mit abgehackter Hand aufgefunden wurde; ein Zeichen der Rache im Drogenmilieu. Die Abendpostille "P. M." nannte als Grund für ihren Tod ihre angebliche Verstrickung in die organisierte Kriminalität. "Manchmal werden Frauen gleich zweimal ermordet", urteilt Sosa selbstkritisch. "Einmal durch ihren Mörder und ein zweites Mal durch die Medien."
Seit der Ausrufung des "Krieges gegen die Drogen" durch den mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón ist die Gewalt explodiert. Nachdem vor vier Jahren Soldaten und Bundespolizisten nach Ciudad Juárez verlegt wurden, stieg die Zahl der Morde, der Menschenrechtsverletzungen und der gewaltsam "Verschwundenen" überproportional an. Doch tritt die Zivilgesellschaft den Auswüchsen des Drogenkrieges – vor allem aufgrund der Erfahrungen mit den Frauenmorden – gestärkt entgegen und bleibt trotz des Ausnahmezustands handlungsfähig.

"Ohne das beispielhafte Engagement der Mütter von Ciudad Juárez wären Nichtregierungsorganisationen heute längst nicht so politisiert, professionalisiert und gut vernetzt", konstatiert Leobardo Alvarado, Künstler, Aktivist und Gründer der Internetzeitung "CiudadJuarezDialoga". "Sie haben uns Männern gesagt, tut etwas! Sie haben auf nationaler Ebene und weltweit Verbündete gesucht. Durch die Frauenmorde ist bekannt geworden, wie wichtig es ist, Verschwundene zu registrieren, um Verbrechen zur Anzeige zu bringen." In anderen Bundesstaaten Mexikos können die Zahlen der Verschwundenen, die landesweit in die Tausende gehen, nur geschätzt werden. Dort stehen die Menschen den Folgen des Drogenkrieges schutzlos gegenüber. "In dieser Stadt sind Frauen nicht nur Opfer; sie sind vor allem Akteurinnen und gesellschaftliche Vorbilder", schließt Alvarado.

Die Autorin ist Journalistin und lebt in Bonn.

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