Amnesty Journal 28. März 2012

Sieben Jahrhunderte Verfolgung

Zeichnung eines Fotoapparates, eines Pinsels und Viertelnoten

Klaus-Michael Bogdal hat mit "Europa erfindet die ­Zigeuner" nicht irgendein Buch zur Diskriminierung der Roma in Europa geschrieben, sondern eines der besten Werke zur Entstehung und Gegenwart von ­Vorurteilen.

Von Maik Söhler

Aufklärung, freie Entfaltung der Individuen, Gewaltenteilung, Meinungs- sowie Religionsfreiheit und dergleichen mehr: Trotz politischer und ökonomischer Krise vergeht kaum ein Tag, an dem sich Europa nicht selbst für all die Fortschritte in seiner langen Geschichte feiert. Klaus-Michael Bogdal sieht das in seinem neuen Buch "Europa erfindet die Zigeuner" anders: "In diesem Buch wird von einer anderen Geschichte erzählt, von einer Geschichte, die fortschreitet, ohne Fortschritte hervorzubringen, von Veränderungen, auf die Europa wenig stolz sein kann, von versäumten und zerstörten Chancen."

Bogdal hat das Verhältnis diverser europäischer Mehrheitsgesellschaften zu einer speziellen Minderheit untersucht: den Sinti und Roma. Sein Buch ist nicht einfach eine weitere Studie, die empirisch die anhaltende Benachteiligung und Diskriminierung einer Bevölkerungsgruppe belegt; sie ist im Gegenteil eine quantitativ wie qualitativ einzigartige Untersuchung zur Historie des europäischen Ressentiments gegen Roma in nun fast sieben Jahrhunderten.

Von den Stadtschreibern, die die ersten "swartzen getouften haiden" sichteten und dokumentierten, über mittelalterliche Lieder, Stücke und Gelehrtendiskurse sowie Abhandlungen, Dissertationen und Lexikoneinträge in der Neuzeit bis hin zur so­zial-eugenischen Literatur und Forschung sowie zur Wahrnehmung nach 1945 auf beiden Seiten des "eisernen Vorhangs" reicht das intensive Quellenstudium Bogdals. Dabei wird auch schnell klar, warum der Autor bis ins tiefe Mittelalter zurückgreift. So schnell das Ressentiment in die Welt kommt, so schwierig ist es, es daraus wieder zu entfernen. Das wenige Wissen und die vielen Mythen und Unwahrheiten, die das Erscheinen der ersten Roma in Europa begleiten, werden sich über Jahrhunderte im kulturellen Gedächtnis festsetzen und von Generation zu Generation ohne oder mit nur geringer Prüfung des Wahrheitsgehalts weitererzählt.

Nicht einmal die um das Jahr 1800 einsetzende Erkenntnis, dass die ersten Roma nicht aus Ägypten, sondern aus Indien stammten, kann an ihrem Status als "Neger" Europas etwas ändern. Bogdal unterscheidet zwischen Phasen der Verachtung und Phasen der Faszination, weiß aber auch, dass beides in der europäischen Kulturgeschichte oft zusammengehört. Etwa in einem Dokument aus der Zeit um 1700: "Die Damen des Hofes spielen Zigeunerinnen, während Romfrauen an der Landesgrenze am 'nächsten Schnell- oder anderen Galgen (…) aufgehenket' werden."

Dieses Buch sollte, obwohl es sich dank der wissenschaftlichen Zitier- und Erzählweise eher an ein akademisches Publikum wendet, einen Leserkreis finden, der weit darüber hinaus reicht. Es ist eines der wichtigsten Werke zur Genese und Gegenwart von Vorurteilen in unserer Zeit.

Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine ­Geschichte von Faszination und Verachtung. Suhrkamp, Berlin 2011. 592 Seiten, 24,90 Euro.

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